Chile: Selbstorganisierung und Koordination für eine andere Gesellschaft
Die Zeitschrift ila hat für ihre aktuelle Ausgabe mit dem Schwerpunkt Chile unseren chilenischen Genossen Lester Calderón interviewt. Er sprach über das im Aufstand entstandene Notfall- und Rettungskomitee in Antofagasta.
In Antofagasta, einer Industrie-, Bergbau- und Hafenstadt im Norden Chiles mit 350.000 Einwohner*innen, wurde kurz nach dem Beginn des Aufstands ein Notfall- und Rettungskomitee gegründet, das Comité de Emergencia y Resguardo. Es hat einen breiteren Organisationsansatz als die überall im Land entstandenen Nachbarschaftsversammlungen, die sich Asamblea oder Cabildo nennen. Lester Calderón hat uns Fragen dazu beantwortet. Er arbeitet in einer Sprengstofffabrik, ist im Vorstand des Metallarbeiterdachverbandes Constramet, in dem 13000 Arbeiter*innen organisiert sind, und Mitglied der kleinen trotzkistischen Partei PTR (Partido de Trabajadores Revolucionarios).
Was ist der Unterschied zwischen dem Comité de Emergencia y Resguardo und den Asambleas oder Cabildos?
Grundlage des Komitees sind Gewerkschaften sowie Organisationen von Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich als solche am Komitee beteiligen. Diese Arbeiterbeteiligung ist wohl einer der wichtigsten Unterschiede. Wir versuchen uns mit verschiedenen Sektoren zu koordinieren, wie den Pobladores, der Bevölkerung aus den ärmeren Stadtteilen, mit Studierenden, Künstler*innen – Gruppen, die das Regime nicht vereint sehen möchte. Das Komitee verfügt außerdem über konkrete Schutzorte und verschiedene Kommissionen, um auf die aktuelle Situation organisiert reagieren zu können. Es ist mehr als ein Ort der Diskussion, und das sage ich mit allem Respekt gegenüber anderen Organisationsformen. Wir haben gute Verbindungen zu den territorialen Versammlungen und organisieren oft gemeinsam Diskussionen und Aktionen.
Wie ist die Idee des Komitees entstanden?
Die Initiative ging von zwei Gewerkschaften aus dem Bildungsbereich aus, das Komitee hat seinen Sitz bei der Lehrergewerkschaft CdP. Bei der Gründung waren aber auch schon Leute aus den Bereichen Gesundheit, Handel, Industrie, Universität, Kunst und Anwälte beteiligt. Hier steht ein Schutzraum für von der Repression Betroffene zur Verfügung, aber es soll auch ein Ort für Diskussion, Organisierung und Koordination sein.
Die Aktionen und Initiativen werden auf Versammlungen diskutiert. Als erster Punkt wurde der Kampf gegen die Repression beschlossen, die die Regierung mit Ausnahmezustand, Ausgangssperre und einem brutalen Aufgebot der Spezialeinheiten Carabineros gegen die Demonstrierenden aufgefahren hat. Ein weiterer Punkt ist der Aufruf zum Generalstreik bis zum Sturz Piñeras. Das ist der einzig ernsthafte Weg, um mit unseren Forderungen durchzukommen und dieses ganze Regime zu beseitigen, um dann auf dieser Basis eine wirklich freie und souveräne Verfassunggebende Versammlung durchzusetzen, damit die Bevölkerung ohne Einmischung der Institutionen entscheiden kann.
Stützt sich das Komitee auf Vorerfahrungen oder historische Beispiele?
Es gab in Antofagasta schon vorher Versuche der Koordination zwischen Gewerkschaften, Umwelt- und anderen Organisationen, bei Kämpfen gegen Entlassungen oder gegen die Umweltverschmutzung. Historisch beziehen wir uns auf eine reiche Tradition von Massenbewegungen in Argentinien mit Fabrikkomitees, Arbeiterräten und -versammlungen und natürlich auch auf die fabrikübergreifenden Cordones Industriales 1972-73 hier in Chile (siehe ila 345 und ila 368). Solche Organisationen können unserer Meinung nach zur Basis einer Regierung werden, wenn es ihnen gelingt, sich weiterzuentwickeln, die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiterklasse und der Bevölkerung zu gewinnen und den gewalttätigen Widerstand der Kapitalisten, die ihre Privilegien verteidigen, zu besiegen.
Wie funktioniert das Komitee? Gibt es offene Versammlungen, Kommissionen, Delegierte oder Sprecher*innen?
Auf dem Höhepunkt im Oktober gab es wöchentlich und je nach Bedarf täglich offene Versammlungen aller am Komitee Beteiligten. Die Versammlungen sind der Ort, wo diskutiert wird und die Beschlüsse gefasst werden. Daneben wurde als gemeinsames Gremium aller beteiligten Gruppen ein runder Tisch eingerichtet, der ausführende Funktionen hat. Anwält*innen und Leute aus Menschenrechtsorganisationen haben eine Rechtskommission gegründet. Künstler*innen organisieren Kulturveranstaltungen mit Street-Art, Tanz, HipHop, K-Pop, Rap und Theater. Es gibt eine Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und eine für die Koordination der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, um in Generalversammlungen über Vorschläge und gemeinsame Aktionen beschließen zu können. Dieser offene Raum hat sich zu einem Beispiel von Selbstorganisation und Zusammenarbeit der verschiedensten Gruppen entwickelt, die auf die Straße gehen. Es zeigt auch die Notwendigkeit von Organisierung und Koordinierung angesichts der Situation im Land. Die Ortsgruppe Antofagasta der Hafenarbeitergewerkschaft Unión Portuaria de Chile (siehe ila 397) arbeitet aktiv im Komitee mit. Die Bergarbeitergewerkschaften sind sporadisch dabei. Wir haben uns um die Einheit mit ihnen bemüht, aber aktiv dabei ist nur die Gewerkschaft der Goldmine Guanaco.
Nach dem Generalstreik im November gab es keine weiteren Streikaufrufe. Warum kommt es in diesem Aufstand kaum zu Streiks?
Der Generalstreik im November war eine großartige unabhängige Aktion der Arbeiterbewegung. Wir denken, dass die Regierung Piñera gestürzt wäre, wenn der Streik über den einen Tag hinaus aufrechterhalten worden wäre. An jenem 12. November hing die Regierung in der Luft, es fehlte nur noch ein letzter Stoß. Aber die Gewerkschaftsbürokratie an der Spitze der großen Gewerkschaften und der Dachverbände, wie der CUT, deren Führung zur Kommunistischen Partei gehört, haben der Regierung das Leben gerettet, indem sie den Generalstreik nicht weiterführten. Ein Aufruf der Bürokratie zum „Generalstreik“ ist etwas ganz anderes als ein wirklicher Massenstreik. Den weigern sie sich zu organisieren, weil die wahre Politik von KP und Frente Amplio darin besteht, „Druck zu machen“ für einen „Dialog“ mit der Regierung. Diese Strategie hat den revolutionären Impuls jener Tage in die klassische Sackgasse geführt: in einen Dialog, der zur Zersplitterung führt, alle Kräfte in Richtung Parlament kanalisiert und damit der Regierung und dem Regime eine Atempause verschafft. Als Komitee waren wir an dem Streik am 12. November beteiligt; wir führten mit den Gewerkschaften dieser Stadt im Zentrum eine Demonstration mit 25.000 Arbeiterinnen und Arbeitern durch, in Koordination mit der Bevölkerung der ärmeren Stadtteile, die an demselben Tag Straßenblockaden machten. Wir waren auch an anderen Streiks beteiligt, und zurzeit diskutieren wir verstärkt über die Möglichkeit, bestimmte Bereiche zu bestreiken: wegen der Entlassungen und des Elends durch die Corona-Krise, die von den Unternehmern benutzt wird, um die Arbeiterbewegung anzugreifen. Von daher ist ein Generalstreik umso nötiger.
Bei den Demonstrationen gibt es immer wieder viele Verletzte. Wie funktioniert die Kommission für Erste Hilfe?
Die Kommission entstand auf Initiative von Arbeiter*innen und Studierenden aus dem Gesundheitsbereich. Sie leistet nicht nur Erste Hilfe, sondern agiert auch politisch gegen die Polizeigewalt, die von den Institutionen geleugnet wird. Sie führt ein Register über die Verletzungen und das Vorgehen der Polizei, wie die Schüsse mit Schrotgewehren aus nächster Nähe und den ständigen Einsatz von Tränengas. Die Kommission ist selbstorganisiert und finanziert das Material für die Behandlungen durch Spenden von Gewerkschaften und aus der Bevölkerung. Im Haus der Lehrergewerkschaft machen Ärzt*innen Bereitschaftsschichten. Brigaden, die aus Studierenden und Auszubildenden verschiedener Gesundheitsberufe bestehen, gehen ins Zentrum, wo die Demonstrationen stattfinden, um Verletzten Erste Hilfe zu leisten. In zugespitzten Situationen kamen auch Fachärzt*innen aus dem Regionalkrankenhaus, um die Verletzungen durch Schrotkugeln zu behandeln.
Koordiniert ihr euch mit anderen Sanitätsbrigaden?
In erster Linie koordiniert sich die Kommission mit den Sanis von UCRA, einem Rettungsverein von Freiwilligen. Außerdem hat sie an dem landesweiten Treffen der Gesundheitsbrigaden teilgenommen, bei dem das Notfall- und Rettungskomitee Antofagasta für seine weitgehende Selbstorganisierung viel Anerkennung bekam.
Wie ist die Situation der Gefangenen der Revolte? Was macht ihr dazu?
Ihre Situation ist kritisch, vor allem jetzt mit dem Coronavirus, wo sie in überfüllten Knästen der Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind. Seit dem Beginn der Revolte am 18. Oktober wurden etwa 2.500 Leute inhaftiert, nach Repressionsgesetzen wie denen gegen Vermummung und Barrikaden, für die auch Parteien der Frente Amplio gestimmt haben. Die Gefangenen befinden sich in Untersuchungshaft, weil sie vom Staat als Terrorist*innen eingestuft werden. Sie werden nicht als politische Gefangene anerkannt. Das ist die gleiche Linie wie in der Militärdiktatur. Als Komitee haben wir verschiedene Kampagnen für die Freilassung aller Gefangenen der Revolte gemacht; auch zu einzelnen, wie dem Jugendlichen Licantai Corrales, der nach falschen Beschuldigungen durch Carabineros inhaftiert und erst nach vielen Demonstrationen vor dem Justizzentrum wieder freigelassen wurde.
Wie ist die Haltung des Komitees zum Verfahren der Verfassungsänderung und zum Referendum?
In beiden Verfahren von Verfassungskonventen, die zur Auswahl stehen, sind die Prozesse bereits festgelegt: weil das Parlament beteiligt ist oder weil für Änderungen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, womit eine Minderheit jegliche Änderung verhindern kann. Es wurde schon festgelegt, dass internationale Abkommen nicht angetastet werden dürfen, also wird es keine Änderung bei den Rentenfonds AFP, im Gesundheits- oder Bildungsbereich geben. Und die Jugend, die diesen Prozess in Chile angestoßen hat, wird nicht beteiligt.
Ein solcher Verfassungskonvent wird unsere Forderungen der Straße nicht umsetzen. Selbst eine Verfassunggebende Versammlung wird das nicht können, wenn sie ohne die Mobilisierung der Arbeiter*innen, der Jugend und der Massen stattfindet, denn die Staatsgewalten wie die Streitkräfte und die Polizei werden nicht zulassen, dass wir unsere Forderungen einfach so durchsetzen. Wir haben gesehen, was in den 70er-Jahren mit dem Militärputsch passiert ist oder zurzeit mit dem Militär auf der Straße, mit Toten und Verletzten.
Wir kämpfen für eine wirklich freie und souveräne Verfassunggebende Versammlung, über der keine Staatsmacht steht und die in keiner Weise an das aktuelle politische Regime in Chile gebunden ist. Der Prozess muss demokratisch sein, es sollen zum Beispiel auch führende Gewerkschaftsleute oder Unter-18-Jährige beteiligt werden. Souverän und frei heißt, dass wir über alles, was wir wollen, diskutieren können. Damit wir so entscheiden können, wie es für unsere Erfordernisse am besten ist, ohne auf Unternehmensgewinne Rücksicht zu nehmen. Dies muss auf der Basis von Mobilisierung und Selbstorganisation geschehen, um den Staatsgewalten Einhalt zu gebieten, die sich gegen jede Verbesserung zu unseren Gunsten stellen werden. Wir haben als Notfall- und Rettungskomitee aber auch erklärt, dass wir den Wunsch von Millionen von Menschen teilen, diese Verfassung aus der Diktatur abzuschaffen und dafür mit „Ich stimme zu“ (zu einer neuen Verfassung) abzustimmen. Auch dies kann eine Form sein, aber wir müssen den Leuten die Wahrheit sagen über die Fallen und Fallstricke. Wir versuchen, Instanzen wie das Referendum zu nutzen, um aus dieser Energie und Beteiligung eine Mobilisierung für unsere Forderungen und eine wirkliche Verfassunggebende Versammlung zu machen. Wir können es als Tribüne nutzen, um Millionen von Menschen zu erreichen, aber ohne uns in den Fallstricken der Konvente zu verheddern.
Was macht ihr in der aktuellen Situation der Corona-Krise?
Wir haben eine Erklärung veröffentlicht, dass das Land nicht auf diese sozio-sanitäre Krise vorbereitet ist, und gefordert, dass Produktionskapazitäten und existierende Grundversorgung auf rationale Weise für den Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur genutzt werden. Wir kritisieren, dass die Regierung die Arbeiter*innen weiterhin zur Arbeit schickt, wir weisen auf die Situation der Straßenhändler*innen und Selbstständigen hin, die im Elend versinken, während die Apothekenketten die Preise für die in dieser Krise benötigten Mittel hochschrauben. Vor allem kritisieren wir das Militär auf der Straße und die Ausgangssperren, die die Bewegungsfreiheit einschränken, als eine Form sozialer Kontrolle, mit der präventiv jede Art von Unzufriedenheit überwacht werden soll. Außerdem ist diese Isolierung für die Marginalisierten, die beispielsweise keinen Zugang zu Trinkwasser haben, kein Schutz vor Ansteckung.
Während die Regierung nichts zu bieten hat, außer als Gesundheitsmaßnahmen getarnte Repression, organisiert sich die Arbeiterschaft und bildet in den Betrieben Kommissionen für Gesundheit und Hygiene. So haben wir das in der Sprengstofffabrik „Orica“ in Antofagasta gemacht, was sich auf andere Gewerkschaften im Bergbau und in der Industrie ausgeweitet hat. Die Arbeiter*innen, die im Regionalkrankenhaus von Antofagasta putzen, haben mithilfe dieser Kommissionen aus anderen Betrieben und des Komitees einen Tag für Hygienemittel und Sicherheitsstandards gestreikt. Als Notfall- und Rettungskomitee konnten wir nicht zulassen, dass Arbeiter*innen ohne Schutzmaßnahmen an ihre Arbeitsplätze geschickt werden oder dass ältere Menschen und Risikogruppen in den Poblaciones ohne Masken und Lebensmittel dastehen. So nahm die Produktion von Desinfektionsmitteln und Masken unter der Aufsicht von Fachleuten ihren Lauf. Die jungen Studierenden, die den Funken der Revolte entfacht haben und alles ändern wollten, unterstützen heute die Lehrer*innen, die diese Initiative gestartet haben. Nachdem die derzeitige Krise die Ungleichheit bei Mindestrechten wie Gesundheit, Bildung, Zugang zu Wasser und Arbeit noch vertieft, aber auch deutlicher zu Tage gebracht hat, suchen die Arbeiter*innen nach einer Alternative. Sie wollen nicht nur ihre Lebensbedingungen verbessern und „würdiger“ machen, sondern das System, das für die Anhäufung von Reichtümern einer Minderheit unmenschliche Lebensbedingungen hervorgebracht hat, an der Wurzel packen. Das Notfall- und Rettungskomitee ist eine Keimzelle von Organisation, um eine Antwort auf die kapitalistische Barbarei zu finden. Und eine Form, Forderungen und Lösungen selbst in die Hand zu nehmen: für die Veränderung der Welt und für ein Leben, für das es sich zu leben lohnt.
Das Interview führte Alix Arnold Anfang April per E-Mail. Weitere Artikel zur derzeitigen Situation in Chile bietet die aktuelle Ausgabe der ila.
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Auch auf der internationalistischen Kundgebung der FT-CI am 1. Mai sprach Lester Calderón. Er beschrieb die Realität der Entlassungen inmitten der Pandemie, den Widerstand dagegen und welches Programm dafür nötig ist.
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Über die aktuelle Situation in Chile und die Politik der Linken dort haben wir mit Joseffe Cáceres, Reinigerin und Sprecherin von Pan y Rosas (Brot und Rosen) und der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) gesprochen.