Chile: „Im Untergrund, an unseren Arbeitsplätzen und in den Arbeiter*innenvierteln, staut sich Wut auf“

07.05.2020, Lesezeit 7 Min.
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Bei der internationalistischen Kundgebung der FT-CI am 1. Mai sprach Lester Calderón, Präsident der Gewerkschaft 1 Orica - Constramet und Mitglied der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) aus Chile. Er sprach von der Realität der Entlassungen inmitten der Pandemie.

Von Chile aus möchte ich einen herzlichen Gruß an alle Genoss*innen senden, die an dieser internationalen Kundgebung teilgenommen haben, denn an diesem 1. Mai zeigt sich mehr denn je, dass die Arbeiter*innenklasse keine Grenzen kennt.

In Chile merkt man immer heftiger die Auswirkungen der Gesundheits- und Wirtschaftskrise. Hunderttausende Entlassungen und Suspendierungen zeigen, dass die Forderungen des Massenaufstandes, der im letzten Oktober begann, dringender denn je sind.

Wir gingen auf die Straße, weil unsere Eltern und Großeltern im Sterben lagen und darauf warteten, in Krankenhäusern von einem bereits zusammengebrochenen Gesundheitssystem behandelt zu werden. Allein im Jahr 2018 starben fast 26.000 Menschen auf Wartelisten für Behandlungen, die nie durchgeführt wurden.

Wir lehnten uns auf, weil unsere Großeltern aufgrund eines während der Diktatur eingeführten Rentensystems bis zum Tod weiterarbeiten müssen.

In Chile gelang es dem Massenaufstand, die politische Agenda aufzurütteln und die neoliberalen Reformen, die die Regierung vertiefen wollte, zu bremsen. Heute wollen sie die Pandemie nutzen, um diese Maßnahmen wieder aufzugreifen und sie zu verschärfen.

Piñeras Plan ist dreist. Sie wollen, dass wir weiter arbeiten und zwingen uns, in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, während sie gleichzeitig zwischen 22:00 Uhr und 05:00 Uhr eine Ausgangssperre verhängen… mit anderen Worten können wir nachts vom Militär ermordet werden, aber morgens müssen wir zur Arbeit fahren und mit der Möglichkeit einer Ansteckung leben!

Darüber hinaus verabschiedete die Regierung ein echtes unternehmensfreundliches Arbeitslosengesetz, das es großen Unternehmen ermöglicht, uns ohne Bezahlung zu suspendieren. Obendrein müssen wir unser Einkommen mit unseren eigenen Ersparnissen aus der Arbeitslosenversicherung decken, ohne dass die Bosse überhaupt etwas zahlen.

Jetzt denkt die Regierung, sie habe die Oberhand, aber sie irrt sich. Im Untergrund, an unseren Arbeitsplätzen und in den Arbeiter*innenvierteln, staut sich Wut auf. Es ist auch die Wut der Jugend, die weiter gegen die mörderischen Bullen kämpft, die nach wie vor völlige Straffreiheit genießen. Wir sind sicher, dass sich diese Wut früher oder später in Widerstand verwandeln wird.

Und bereits jetzt sehen wir die ersten Versuche. Es gibt Mobilisierung von Hafenarbeitern und von der Bevölkerung in den Armenvierteln.

Das Gesundheitspersonal hat bereits protestiert, um den Mangel an Schutz und Material anzuprangern, der das Leben einer Mitarbeiterin im Gesundheitssektor gekostet hat, wie das Beispiel der Beschäftigten des Krankenhauses Barros Luco Trudeau in Santiago de Chile zeigt, wo wir alle unsere Kräfte in den Dienst dieses Kampfes gestellt haben.

In Antofagasta, einer Bergbau-, Hafen- und Industriestadt, die eines der Epizentren des Massenaufstandes war, haben wir vom Notfall- und Schutzkomitee aus die Solidarität gefördert, und wir sind auch Teil der Koordination von Gewerkschaften wie SGS Minerals, SGS Chile und Buró Veritas, die heute gemeinsam gegen Entlassungen kämpfen.

Auch von der Gewerkschaft der Arbeiter*innen von Orica, der ich angehöre, unterstützen wir zusammen mit den Bergarbeitern von Guanaco und den Lehrerinnen den Kampf der Reinigungskräfte des Krankenhauses von Antofagasta, die für Material und Hygienebedingungen gekämpft und gewonnen haben.

Wir sind auch Teil des Kampfes der prekären Jugend von Starbucks und Burger King. Wir setzen uns für den Aufbau einer starken Bewegung gegen Entlassungen und Suspendierungen im ganzen Land ein.

Um dem Plan der Regierung und der Bosse entgegenzutreten, ist die Einheit der Arbeiter*innen, der Arbeitslosen und der Menschen in den Armenvierteln unerlässlich.

Auch das Bündnis mit der Studierendenbewegung, den territorialen Versammlungen und den Frauen, die in diesem Jahr die Straßen füllten und für ihre Rechte und die der Arbeiter und Arbeiterinnen kämpften.

Am 12. November letzten Jahres, während des größten Generalstreiks der letzten Jahrzehnte, sahen wir das Potenzial der Arbeiter*innenklasse, die vereint mit den Massen und der kämpferische Jugend der „Primera Linea“ kämpfte.

Es ist kein Zufall, dass die Rebellion in Chile zu den Ereignissen gehörte, die zur Einberufung der Lateinamerikanischen Konferenz der Front der Linken und Arbeiter*innen in Argentinien führten, denn gegen diejenigen, die behaupten, den Rechten antwortet man mit parlamentarischen und gerichtlichen Manövern, konnten wir zeigen, dass der wahre Motor der Geschichte der Klassenkampf ist.

Während Millionen von uns auf den Straßen Geschichte schrieben, wurde die so genannte „parlamentarische Küche“ zwischen der Rechten, der ehemaligen Concertación, und der Frente Amplio (reformistisches Parteienbündnis) organisiert, um unsere Rebellion mittels Täuschungen zu bremsen.

Nun hat die Kommunistische Partei Chiles gemeinsam mit den rechten Parteien das Arbeitslosengesetz der Regierung abgesegnet. Diese Partei steht an der Spitze des Gewerkschaftsdachverbandes CUT, und heute gibt es viele von uns, die die CUT, die in den Untergrund verschwunden ist, als ein echtes Beispiel für Passivität anprangern. Wir fordern von ihnen das Ende des Waffenstillstands und den Kampf gegen alle Angriffe aufzunehmen.

Jeder Angriff, den sie durchgehen lassen, gibt den Rechten mehr Selbstvertrauen. So sehr, dass sie nun versuchen, die Durchführung des Plebiszits aufzuschieben und Pinochets Verfassung unangetastet zu lassen, wie sie es selbst mit Ausreden angedeutet haben, indem sie sagten, man könne das Plebiszit aufschieben.

Wir verurteilen jeden Versuch der kriminellen Regierung, das Plebiszit zu verschieben oder abzusagen und die Militarisierung aufrechtzuerhalten.

Doch während wir diesen antidemokratischen Versuch anprangern, haben wir das aus der „parlamentarischen Küche“ geborene Plebiszit in Frage gestellt, weil es nicht die Option einer wirklich souveränen Verfassungsgebenden Versammlung beinhaltet, wie sie die Massen auf der Straße forderten.

Nur durch den Kampf und mit den Methoden der Arbeiter*innenklasse werden wir eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung erobern, über der keine Institution des Regimes steht. Nur so werden wir das Erbe der Diktatur beenden können.

Wir wissen, dass wir in diesem Kampf dem eisernen Widerstand der Kapitalist*innen entgegenstehen werden, dem nur die Arbeiter*innenklasse, selbstorganisiert und im Bündnis mit den Massen, entgegentreten kann.

Und deshalb bereiten wir uns jetzt vor, und als Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) kämpfen wir für den Aufbau einer neuen Linken, einer revolutionären Partei der Arbeiter*innenklasse.

Eine Linke, die versucht, die Traditionen des Kampfes und der Selbstorganisierung der chilenischen Arbeiter*innenklasse wiederzuerlangen, jene, die den Himmel erstürmte, indem sie in den 1970er Jahren die mächtigen Cordones Industriales (Selbstverwaltungsorgane der Arbeiter*innen im Industriegürtel von Santiago) errichtete.

Weil wir wissen, dass wir nicht bei Null anfangen. Und wir wissen, dass diese Partei in Chile aus der Zusammenkunft all derer hervorgehen wird, die die Lehren aus dem Kampf der letzten Zeit ziehen wollen, zusammen mit einer Strategie und einem Programm, das für eine Regierung der Arbeiter*innen im Bruch mit dem Kapitalismus kämpft.

Wir kämpften für die Eroberung dessen, was auf den Wänden des Landes zu lesen war: „für ein Leben, das wert ist, gelebt zu werden“, das nur erreicht werden kann, wenn dieses System im Dienste des Großkapitals besiegt und alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung beendet werden.

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