Zwischen Instagram und Praktikum – eine Jugend in der Krise?

01.10.2018, Lesezeit 10 Min.
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Berlin, 04.05.2018 Kundgebung und Demonstration streikender studentischer Beschäftigter an Berliner Hochschulen für einen Tarufvertrag (TV-Stud). Die von ver.di und GEW organisierte Demonstration verlief vom Robert-Koch-Platz zum Brandenburger Tor, wo die Abschlusskundgebung stattfand.

Der „Jugend von heute“ wird häufig unterstellt, sie sei unpolitisch, unengagiert und egozentrisch. Doch wer sind eigentlich die Studis, Azubis und Schüler*innen, die unbezahlten Praktikant*innen und Minijobber*innen, die wissen, dass sie mit ihrem Bachelor keinen unbefristeten Job bekommen werden?

Ökonomische Situation

Aufgewachsen unter dem Euro, der EU und Angela Merkel kennen in Deutschland groß gewordene Jugendliche nur eine Kanzlerin: ob schwarz-gelb oder GroKo, seit 2005 ist die Herrscherin der bürgerlichen Demokratie an der Macht. Dennoch sind die Auswirkungen der von rot-grün eingeführten Agenda 2010 in ihren Elternhäusern spürbar: Hartz IV, Armut und schlechte, sowie unsichere, Arbeitsbedingungen der Eltern, kennzeichnen den Alltag. Wer heute 20 Jahre alt ist, hat die Wirtschaftskrise ab 2008 als 10-Jährige*r miterlebt. Die Prekarisierung der Eltern wirkt sich auch auf die Kinder aus. Nach Schätzungen des Deutschen Kinderschutzbundes leben ungefähr 4,4 Millionen Kinder mittlerweile in Armut. Die Folge sind Nebenjobs, um die Familie zu unterstützen und beengte Wohnverhältnisse, in denen das Lernen schwer fällt.

Immer mehr Menschen wachsen mit alleinerziehenden Eltern auf. Diese, meistens weiblich, stemmen einen oder auch zwei Jobs und zusätzlich noch die Reproduktionsarbeit. Auch in Familien mit zwei Elternteilen ist es auf Grund von immer mehr Teilzeitjobs und schlechten Löhnen üblich, dass beide arbeiten – und das Geld trotzdem kaum zum Leben reicht. Auch wenn Jugendliche das Elternhaus mit 18 verlassen – sofern sie sich den Auszug überhaupt leisten können – verdienen sie häufig zu wenig, weil Ausbildungsvergütung, BAföG oder Ähnliches nicht ausreicht, um die steigenden Lebenserhaltungskosten zu stemmen. Wer hier keine reichen Eltern hat, muss sich mit schlecht bezahlten Nebenjobs über die Runden retten, oft auf Kosten von Studium, Ausbildung oder sogar der Schule. Jugendliche, die Arbeitslosengeld beziehen, werden darüber hinaus noch regelmäßig vom Jobcenter gegängelt und sanktioniert. Ungefähr 25 Prozent der 18-25-jährigen leben heute in Armut.

(Aus-)Bildung

Bildungsreformen wie G8 (Verkürzung der Schulzeit) und die Bologna-Reform erhöhen den Druck auf Kinder und Jugendliche. Die Schulklassen sind überfüllt, die Schulgebäude marode und es fehlt an ausreichend gut ausgebildeten Lehrer*innen. Immer häufiger erkranken Menschen unter 18 an Burnout oder anderen durch enormen Stress verursachte Krankheiten. Die Zahl der Schüler*innen, die private Nachhilfe in Anspruch nehmen, steigt stetig, vor allem bei Kindern, aus Elternhäusern mit überdurchschnittlichem Einkommen. Abitur wird bei immer mehr Ausbildungsberufen vorausgesetzt. Lücken im Lebenslauf dürfen nicht entstehen, denn die Berufsperspektiven sind eh schon miserabel genug. So wird auch das dritte unbezahlte Praktikum angenommen. Zum Arbeiten oder Studieren ziehen viele Jugendliche in die Großstädte – das Leben auf dem Land wird abgelehnt und auch aus wirtschaftlicher Perspektive bietet das Leben auf dem Land, insbesondere in Ostdeutschland, zum Großteil schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen. Vor allem in Branchen, die zu großen Teilen keiner Tarifbindung (mehr) unterliegen, ist die Lohndifferenz besonders drastisch. In den Großstädten gibt es enormen Mangel an bezahlbarem Wohnraum, nicht genug Studienplätze, überfüllte Wohnheime und Hörsäle. Zeit für gesellschaftspolitisches Engagement bleibt neben Studium, Job und Wohnungssuche selten.

Jugendliche dienen aufgrund dieser prekären Lebenssituationen oft als billige Lohnkräfte für Betriebe in Deutschland. Ausbildungen werden oft gar nicht bezahlt, kosten in bestimmten Berufen sogar Geld, wie bei Physiotherapeut*innen oder vielen Erzieher*innen-Ausbildungen oder die Ausbildungsvergütung liegt weit unter dem Mindestlohn. Dazu kommt, dass Jugendliche in der Ausbildung der Angst ausgesetzt werden, später nicht übernommen zu werden. Gewerkschaftliche Organisierung oder gar die Beteiligung an Arbeitskämpfen werden dadurch deutlich erschwert. Auch deshalb „akzeptieren“ die Betroffenen selbst ihr Schicksal, weil sie ihnen selten Alternativen zu Prekarisierung geboten werden oder ihnen die Hoffnung gemacht wird, dass es später schon besser wird.

„Krieg gegen den Terror“ und Arabischer Frühling

Global gesehen war das erste, bewusst erlebte, politische Ereignis für viele, der Anschlag gegen das World Trade Center, am 11. September 2001 und der darauf folgende „Krieg gegen den Terror“. Antimuslimischer Rassismus findet sich in allen Schulen, es entstehen Diskussionen, ob Schüler*innen auf dem Schulhof nur noch deutsch sprechen dürfen. Kuweit, Afghanistan, Sudan, Libyen, Mali, Libanon, Irak – die Liste der Auslandseinsätze der Bundeswehr seit dem Jahr 2000 ist lang. Kriege wie in Syrien, der Ukraine oder Attentate in Paris, Brüssel und Berlin, sind seit Jahren präsent.

Aber auch die Zeit des Arabischen Frühlings haben viele gebannt vor den Fernsehern verbracht und erstmalig miterlebt, dass es wirklichen Massenprotest geben kann. Während es in Deutschland keine Massenauftsände gibt,  waren beim Arabischen Frühling die Massen auf der Straße, um die pro-imperialistischen Regierungen zu stürzen. Auch wenn die Arbeiter*innenbewegung nicht die Führung übernahm, spielte sie doch eine wichtige Rolle. In Tunesien war die Führung der Gewerkschaften sogar am sogenannten „Friedensprozess“ beteiligt und sorgte, durch Disziplinierung der Arbeiter*innen, für den sozialen Frieden, während die Gewerkschaftsbürokratie mit Kapital und Regierung paktierte.

Doch obwohl am Ende die Reaktion siegte, gab es auch Erfolge. So gelang es beispielsweise in Libyen und Ägypten die vorherigen Machthaber zu stürzen. Im Gegensatz dazu kommt in Deutschland jede Reform der Regierung ohne größeren Widerstand durch. Das liegt unter Anderem an der Institutionalisierung der Großen Koalition unter Merkel. Da die SPD eng mit der Gewerkschaftsbürokratie verbunden ist, werden die Gewerkschaften kaum von sich aus gegen die Reformen der Regierung mobilisieren oder gar zum Streik aufrufen.

Der Wunsch nach Beständigkeit

Angesichts der überall existierenden, scheinbar unlösbaren Probleme – Jugendarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Angst vor dem Klimawandel und Umweltverschmutzung, kommt es zu Resignation und Rückbesinnung aufs Private, ein Wunsch nach Sicherheit. In der Zweierbeziehung und der Kleinfamilie lässt sich etwas Vertrautes und Sicheres finden. Diese Beziehungen sind nicht immer hetero, manchmal auch eher in Wohngemeinschaften, experimentellen Formen des Zusammenlebens oder offeneren Beziehungsformen. Doch irgendwas Beständiges ist der Wunsch vieler in einer Zeit, wo Perspektive kaum über den auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag und die Wohnung auf Untermiete hinausgeht. Die Arbeiter*innenbewegung ist jedoch zu schwach, um hier eine beständige Alternative anzubieten, und ist, durch den Verrat der reformistischen Führung, in Verruf geraten.

Eine weiterer Ausdruck davon ist der Drang zur Selbstoptimierung, um im fortwährend Konkurrenzkampf bestehen zu können und vielleicht doch noch eine Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs ergattern zu können. Diese individualistischen Lösungsansätze sind Ausdruck des Fehlens einer kollektiven Antwort, wie wir sie, als Elemente, im Arabischen Frühling gesehen haben.

Bewegungsansätze

Doch gerade um diese Resignation zu verhindern, müssen wir uns gegen Ausbeutung, Sexismus und Rassismus organisieren. Dabei ist es durchaus mehrheitsfähig gegen Trump und die AfD zu sein. Auch die Militarisierung nach innen durch die neuen Polizeigesetze, speziell in Bayern, hat Zehntausende auf die Straßen mobilisiert. In den vordersten Reihen standen Schüler*innen, denn ein kleiner Teil der Jugend hat sich auch an Schulen politisiert. Hierin drückt sich auch einer der zentralen Widersprüche in der Jugend aus. Einerseits die fehlende Perspektive auf ein gutes Leben nach der Schule, aber andererseits die Spontanität in großen Mobilisierungen gegen die AfD oder gegen die Angriffe auf demokratische Rechte, in denen Jugendliche nicht selten die Speerspitze des Protests darstellen. Diese Mobilisierungen zeigen immer wieder, dass die Jugend keineswegs allgemein „unpolitisch“ ist und sich für nichts interessiert.

Ganz im Gegenteil: Die Energie und die Radikalität der Jugend werden oft durch die Führung von Parteien, Gewerkschaften und NGOs gebremst und versucht in institutionelle Bahnen zu lenken. So werden spontane Großmobilisierungen von den Parteiführungen nicht etwa dazu genutzt, um von dort aus eine wirkliche Massenbewegung an Schulen, Unis oder Betrieben aufzubauen – durch den Aufbau von selbstorganisierten, gewerkschaftlichen Strukturen vor Ort, sondern der Ausgang der Kämpfe wird vor Gericht oder in den Parlamenten, unabhängig von der Mehrheit der Protestierenden, entschieden. So werden Kämpfe nicht zu Ende geführt und enden letztlich oft in faulen Kompromissen. Für die Jugend, die Migrant*innen, die Frauen und die Beschäftigten steht dabei meist die Niederlage. Die Geschichte der linken Bewegungen nach 1990 ist deshalb leider auch eine Geschichte von Niederlagen gegen den bürgerlichen Staat. Kein Wunder also, dass immer mehr Jugendliche keine weitergehende Perspektive, über den Kapitalismus hinaus, sehen.

Widerstand wird zu etwas Historischem, Ché Guevara-T-Shirts gibt es überall zu kaufen und auch Marx kennen viele eher als Poster an der Wand, anstatt als Revolutionär. Es scheint ein Vorbild für den Kampf zu fehlen. Die 68er sind 50 Jahre, ein halbes Jahrhundert, her, das kommunistische Manifest ist 150 Jahre alt und die DDR-Vergangenheit verstärkt das Bild, der Marxismus hätte ausgedient und im „real existierenden Sozialismus“ bewiesen, dass er nicht praxistauglich sei.

Dennoch machen bei fast allen progressiven Kämpfen Jugendliche in den ersten Reihen schlechte Erfahrungen mit der Polizei und der Gewalt des Staates. Der Glaube in Staat und Staatsmacht wird dadurch erschüttert. In den nächsten Jahren wird immer stärker deutlich werden, dass das kapitalistische System seine eigenen Krisen nicht mehr aufhalten kann. Weitere Einschränkungen von demokratischen Freiheiten und weitere Angriffe, auf die Arbeits- und Lebensbedingungen, werden Hand in Hand gehen mit mehr Repression, Polizeigewalt und Unterdrückung. Doch die Jugend kann kämpfen, wie in Frankreich bewiesen wurde.

Was tun?

Die großen Mobilisierungen gegen die AfD, gegen die pogromartigen Hetzjagden in Chemnitz und gegen die Polizeigesetze zeigen deutlich, dass die Jugend bereit ist, sich zu wehren. Gerade deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass Bewegungen nicht nach einer Demonstration wieder abgewürgt werden, sondern als Startschuss, für eine Jugendbewegung gegen den Rechtsruck und gegen Prekarisierung, genutzt werden. Dafür müssen wir antikapitalistische Basisstrukturen an Schulen, an Universitäten und in Betrieben aufbauen, die basisdemokratisch funktionieren und unabhängig von Partei- und Gewerkschaftsführung arbeiten können. Denn der Kampf gegen den Rechtsruck darf nicht getrennt werden, vom Kampf für soziale Verbesserungen.

Deshalb fordern wir die Abschaffung aller Ausnahmen beim Mindestlohn, insbesondere für Jugendliche, Migrant*innen und Frauen. Ausbildungen müssen so bezahlt werden, dass Jugendliche, auch unabhängig von den Eltern, ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Außerdem brauch es eine bedingungslose Übernahme aller Auszubildenden.

Darüber hinaus brauchen wir ein soziales Programm, für die Verbesserung der Bildungschancen für Jugendliche. Dazu gehören eine bessere Entlohnung für Erzieher*innen, mehr Personal an Schulen, sowohl Lehrer*innen, als auch Sozialarbeiter*innen, um kleine Klassen zu ermöglichen, in denen sich Lehrer*innen individuell um die Bedürfnissen der einzelnen Schüler*innen kümmern können. Außerdem muss es einerseits die Möglichkeit für Migrant*innen geben, muttersprachlich unterrichtet zu werden, um nicht aufgrund ihrer Sprache Nachteile in der Schule zu erleiden und andererseits aber auch ein Angebot an kostenlosen Deutschkursen. Wir fordern bezahlbaren Wohnraum, durch die entschädigungslose Enteignung von Spekulationsimmobilien und den Neubau von günstigen Wohnungen. Wir stellen uns gegen alle Zugangsbeschränkungen für Universitäten und für ein ausreichendes Bafög für alle, unabhängig vom Einkommen der Eltern und der Regelstudienzeit, sowie die Verstaatlichung privater Bildungsinstitutionen, unter Kontrolle der Beschäftigten.

Auf den Schultern der Jugend wird eine Krise ausgetragen, die das kapitalistische System verschuldet hat. Die Reichen müssen ihre Krise selber bezahlen. Die Jugend hat die Kraft, in einer Front mit den Frauen, Migrant*innen und Arbeiter*innen, den Rechtsruck zurückzuschlagen, wenn sie sich basisdemokratisch und unabhängig organisiert.

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