Zwei Tage, die die Welt erschütterten

15.02.2012, Lesezeit 10 Min.
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// Zehn Jahre nach den revolutionären Tagen des 19.-20. Dezember 2001 in Argentinien //

Zehn Jahre sind vergangen seit jenen großen Massenaufständen in Argentinien, die zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie 1983 zum Sturz einer frei gewählten Regierung geführt und damit ein neues politisches Zeitalter im Land eingeleitet haben. Dieses Ereignis setzte die Möglichkeit auf die Tagesordnung, die historische Niederlage der ArbeiterInnenbewegung zu überwinden, die durch die letzte Militärdiktatur durchgesetzt wurde. Angesichts der aktuellen kapitalistischen Krise ist der Prozess von Argentinien 2001 heute ein Beispiel größter Aktualität, um die Massenrebellionen, die das „stabile Europa“ in den letzten Jahren erschüttert haben, zu verstehen. Die Lehren aus dem gesamten Prozess zu ziehen sowie die besten Erfahrungen von 2001 wieder aufzunehmen, ist heute eine zentrale Aufgabe, um ein Programm und eine Strategie zu entwickeln und eine Partei aufzubauen, die siegen will.

Revolutionäre Tage

Die ‘90er Jahre waren voll von reaktionärer Ideologie, die soziale Kämpfe verurteilte, über die Abwesenheit der ArbeiterInnenbewegung theoretisierte und die Zukunft einer kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft versprach. Die Stimme der Herrschenden sprach vom Ende der Geschichte. Aber die Realität wendete sich und mit steigendem sozialen Widerstand verstärkten sich die immer aggressiveren Maßnahmen eines Neoliberalismus auf Konfrontationskurs. Dieser Widerstand in Argentinien begann ab 1996 mit den Straßenblockaden der Arbeitslosen („Piqueteros”).

Die Regierung des neuen Präsidenten De la Rúa weitete die antisozialen Maßnahmen noch aus, mit Kürzungen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialhilfebereich sowie Lohnkürzungen von 13 Prozent bei LehrerInnen und ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst. Ihren Höhepunkt fand die neoliberale Politik im sogenannten „corralito“, bei dem die Ersparnisse der Mittel- und Unterschicht von den Banken beschlagnahmt wurden, um den „internationalen Verpflichtungen“ gerecht zu werden.

Diese Vertiefung rezessiver Sparmaßnahmen eröffnete einen neuen Zyklus der Widerstandsbewegung der Massen, insbesondere der ArbeiterInnen, der sich in den Tagen des 19. und 20. Dezember entladen sollte.

Im Dezember 2001 zeichneten sich die verschiedenen AkteurInnen dieses historischen Dramas ab, jeweils mit unterschiedlichen Methoden des Kampfes und unterschiedlichen Programmen. Die ArbeiterInnen organisierten einen weiteren Generalstreik am 13. Dezember 2001. Diesmal legte der Streik die wichtigsten städtischen Zentren lahm und wurde von den breiten Massen der Mittel- und Unterschicht unterstützt.

Kleinere UnternehmerInnen, Kaufleute und VertreterInnen der Mittelschicht, die die neoliberale Regierungen ursprünglich unterstützt hatten, beteiligen sich nun unter Johlen und Topfschlagen an den Aufständen mit ihrem Höhepunkt am 19. und 20. Dezember. Auch die „Nationale Piquetero-Versammlung“, die die wichtigsten Organisationen der Arbeitslosenbewegung aus Buenos Aires zusammenschloss, organisierte während des ganzen Jahres Straßensperren. Am 15. Dezember begannen prekarisierte ArbeiterInnen und Arbeitslose mit den ersten Plünderungen der Supermärkte in Buenos Aires, die sich während der Tage vor dem 19. Dezember auf breitere Bevölkerungsschichten und das ganze Land ausweiten.

In diesem Moment zeichnete sich eine neue Wendung der Ereignisse ab. Die meisten Provinzregierungen versuchten die Unruhen mit dem Einsatz von Polizei und Spezialeinheiten einzudämmen. Aber die Plünderungen weiteten sich auch am 19. Dezember weiter aus und De la Rúa erklärte den Ausnahmezustand. Diese Maßnahme provozierte die Mittelschicht und die Angestellten der Hauptstadt, ihren Unmut in einer Demonstration auf dem Plaza de Mayo vor dem Regierungssitz kundzutun. Es begannen gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei, die in Barrikadenkämpfen und einer kompletten Sprerrung dieses öffentlichen Platzes gipfelten.

38 Menschen wurden getötet, vor allem Jugendliche. Am 20. Dezember trat De la Rúa zurück und und floh in einem Hubschrauber aus seinem Palast, während sich die Straßenkämpfe fortsetzten. Die ArbeiterInnen und Erwerbslosen, die in der vorangegangenen Woche zu zahlreichen Streiks und Straßensperren aufgerufen hatten, beteiligten sich aufgrund bürokratischer Kontrolle der Gewerkschaften nicht als Klasse an den Demonstrationen vor dem Regierungssitz, sondern nur als Individuen. Die DemonstrantInnen, sich selbst überlassen, schafften es zwar, De la Rúa aus seinem Amt zu drängen, konnten jedoch die bürgerliche Staatsgewalt, die am Ende immer auf repressive Kräfte zurückgreift, ohne die breite Beteiligung des ArbeiterInnensektors nicht brechen. Das Fehlen einer revolutionären Partei verhinderte das Fortschreiten einer Bewegung mit klaren politischen Zielen.

So verwandelte sich die Bewegung nicht zu einem Aufstand, einem „Argentinazo“, sondern zu einer Ansammlung unterschiedlicher Aktionen: Plünderungen, Demonstrationen, Straßenkämpfe auf dem Plaza de Mayo. „Sie müssen alle gehen!” lautete die Parole der Massen, doch die Beschränkungen dieses Prozesses ermöglichten es den Parteien der Bourgeousie, an der Macht zu bleiben.

Krise der Autorität

Die Tage des 19. und 20. Dezember etablierten ein neues Kräfteverhältnis, welches nicht von denjenigen, die die staatliche Macht übernahmen, ignoriert werden konnte. So sahen sie sich gezwungen, alle möglichen demagogischen Versprechen zu machen, immer im Versuch, die Autorität wiederzuerlangen und zu verhindern, dass die Krise das politische Personal des Staates weiter hinwegfegen würde. Das war die Aufgabe des „Kirchnerismus“ (unter den Regierungen von Néstor Kirchner und dann von Cristina Fernández de Kirchner).

Die ökonomische Erholung, die im Jahr 2003 begann, war ein essentielles Element des Erfolgs des restaurationistischen Projekts. Und diese Erholung hatte zwei wichtige Motoren: Die Entwertung des Peso, welche eine Plünderung der Löhne bedeutete und die argentinische Wirtschaft relativ „wettbewerbsfähig“ machte; und das Wachstum auf internationaler Ebene, welche insbesondere die Rostoffe, die das Land exportiert, favorisierte.

Die Infragestellung der staatlichen Macht und die Forderungen, die während der Tage von 2001 in den Straßen gestellt wurden, konnten sich unter der Kirchner-Regierung nicht durchsetzen. So wurden sie zwar im Diskurs angenommen, partielle Forderungen erfüllt und die Form staatlicher Politik geändert, aber die Substanz des halbkolonialen argentinischen Kapitalismus blieb bis heute intakt.

Das Erbe von 2001

Während die Krise von 2001 also „von oben“ gelöst werden konnte, haben die Erfahrungen der revolutionären Tage und des Prozesses, der sich danach eröffnete, tiefgehende Tendenzen „von unten“ und einen neuen „Geist der Epoche“ im Bewusstsein der Klassen geschaffen.

Zunächst einmal waren das die Tendenzen zu basisdemokratischen Versammlungen und zu selbstorganisierten Aktionen. Die Nachbarschaftsversammlungen, die während der Dezembertage entstanden sind, etablierten eine Tradition, die von verschiedenen Sektoren der Massenbewegung aufgenommen wurde. Eine Tradition, die sich mit den Tendenzen zur selbstorganisierten Aktion als Weg zur Lösung verschiedener Forderungen kombinierte. Diese Tendenzen hatten in der ArbeiterInnenbewegung einen besonderen Ausdruck, wo wir einen ausgedehnten Prozess der Besetzung von Betrieben und später das Phänomen der Basisgewerkschaftsbewegung, die aus einer Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie hervorging, sehen konnten.

Die Jugend, die während dieser Tage von 2001 aufwuchs, konnte teilweise den herrschenden Individualismus der 90er Jahre überwinden; viele dieser Jugendliche traten in Fabriken und Betriebe ein und sind Teil einer neuen Generation von ArbeiterInnen und Studierenden, die immer noch viel sagen will.

Zanon gehört den ArbeiterInnen!

Als Teil der Erfahrung der revolutionären Tage des Jahres 2001 betrat die Fabrik Zanon zusammen mit Hunderten von besetzten Fabriken, deren ArbeiterInnen die Produktion selbst in die Hand nahmen, die Bühne der Geschichte, um zu zeigen, dass die ArbeiterInnenklasse lebendig und bereit dazu war, sich neu zu formieren und ihre Tradition wiederzuerlangen.

Zanon in der Stadt Neuquén gehört zu den größten Keramik-Fabriken in Lateinamerika. Der alte Luigi Zanon, der ehemalige Besitzer, war einer der UnternehmerInnen, die sich mit dem Aufstieg des Neoliberalismus unter der Präsidentschaft von Carlos Menem (1989-99) massiv bereichert haben. Während die ArbeiterInnen an den Fließbändern teilweise ihre Leben verloren, füllte Zanon seine Taschen mit Geld.

Doch im Jahr 2001 gingen die Menschen auf die Straße und riefen „Sie müssen alle gehen!“ gegen die PolitikerInnen, die die schmutzige Arbeit geleistet haben, damit die KapitalistInnen vor einer Krise, die sie selbst geschaffen hatten, gerettet werden konnten. Luigi Zanon schloss die Keramikfabrik, haute mit Millionen Dollar an staatlichen Subventionen ab und ließ Hunderte von ArbeiterInnen auf der Straße. Er dachte nicht daran, dass die ArbeiterInnen keine Chefs brauchen, um zu produzieren. Und so begann Anfang 2002 nach der Besetzung der Fabrik auch die Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle.

Die Entschlossenheit der ArbeiterInnen in dieser Situation kann nur mit einem Blick in die Vergangenheit verstanden werden. Als der Chef noch da war, der die Gewerkschaftsbürokratie als Eingreiftruppe hatte, begannen die ArbeiterInnen von unten, eine klassenkämpferische Basisbewegung zu organisieren (welche von Mitgliedern der PTS mit unabhängigen ArbeiterInnen gebildet wurde). Sie eroberten den Betriebsrat von der Gewerkschaftsbürokratie zurück.

Nach der Krise von 2001 kamen die Jahre des „Wohlstands“ und des „Rekord“-Wachstums. Die ArbeiterInnen von Zanon konnten ihre Erfahrungen auf andere Fabriken wie Stefani ausweiten, die ebenfalls dem Weg der ArbeiterInnenselbstverwaltung folgten. Mit diesen Beispielen des Kampfes schmiedeten die ArbeiterInnen ein Bündnis mit den Massen der Provinz Neuquén, das bis heute hält. Deswegen waren die ArbeiterInnen, als die Polizei sie aus der Fabrik zu vertreiben versuchte, nicht allein: die Arbeitslosen, die indigene Mapuche-Gemeinde, kämpferische DozentInnen, ArbeiterInnen und auch die SchülerInnen und Studierenden riefen: „In Zanon kommen sie nicht durch!“

Basierend auf den Erfahrungen des Kampfes gegen die UnternehmerInnen, den Staat, die RichterInnen und die PolizistInnen schrieben die Zanon-ArbeiterInnen eine ganz andere Geschichte davon, was „möglich“ ist, im Gegensatz zur Regierung und zur Gewerkschaftsbürokratie. Die Erfahrung von Zanon unter ArbeiterInnenselbstverwaltung, die seit zehn Jahren anhält, und der Strömung, die um die ArbeiterInnezeitung Nuestra Lucha organisiert ist, halfen dabei, eine landesweite klassenkämpferische Strömung aufzubauen – eine Strömung, die die Kämpfe von 2001 weiterentwickelte und seitdem auch die politische Bühne betrat.

Wie Raul Godoy, Zanon-Arbeiter und PTS-Mitglied, zum zehnten Jahrestag erklärte: „Zanon ist, wenn es nicht als ein Schützengraben dient und einem tiefergehenden Prozess nützt, völlig bedeutungslos. Das Wichtigste an Zanon ist nicht das, was erreicht worden ist: weder das Gesetz der Enteignung, weder die Genossenschaft noch die Selbstverwaltung. Das Wichtigste ist eine Reihe von revolutionären ArbeiterInnenkadern, mit denen wir gemeinsam (…) eine Basisgewerkschaftsbewegung vorangetrieben haben (…), mit der wir versuchen, eine nationale politische Strömung aufzubauen; denn dies ist die Diskussion, die wir heute brauchen, um gemeinsam mit ArbeiterInnen und Studierenden eine revolutionäre Partei unserer Klasse aufzubauen.“

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