Zeit, dass sich was dreht: Linke müssen ihre EM-Feindlichkeit überwinden
Linke müssen nicht mitmachen, wenn das ganze Land im EM-Fieber ist. Doch mit moralisierenden Vorverurteilungen schießen sie sich meist ins Abseits. Ein Debattenbeitrag.
Deutschland steht im Viertelfinale! Knapp 28 Millionen Menschen haben das Spiel gegen Dänemark im Fernsehen verfolgt. Die Fanmeilen waren randvoll, in Berlin mussten durch den Andrang von über 70.000 Fans die Eingänge geschlossen werden. Auch die Gruppenspiele mit deutscher Beteiligung hatten alle jeweils weit über 20 Millionen Zuschauer:innen. Es könnte nach der WM 2006 ein neues „Sommermärchen“ werden.
Während ganz Deutschland über Fußball diskutiert, stellen sich die meisten Linke mit ihren moralisierenden Kommentaren ins Abseits. Durchgehend ist eine extreme Feindseligkeit gegenüber Fußballfans und den Massen zu sehen. Wir wollen diese Argumente entlarven:
„Die meisten Linke halten sich verständlicherweise von Fanzonen und Check24-Trikots fern“
In Deutschland leben 17 Millionen Menschen in Armut oder sind von ihr bedroht. Oftmals ist schon Mitte des Monats die Kasse knapp. Sich mal etwas leisten zu können, ist für viele eine sehr seltene Ausnahme. Kein Wunder, dass das kostenlose Check24-Trikot vom namhaften Sportartikelhersteller Puma über fünf Millionen mal bestellt wurde. Die kommunistische Jugendorganisation REVOLUTION schreibt herablassend: „Die meisten in der radikalen Linken werden sich verständlicherweise von Fanzonen und einem Check24-Trikot fernhalten.“ Wer sich über arme Menschen stellt, die sich kein Original-Trikot leisten können und sich über ein kostenloses Werbegeschenk freuen, sollte besser schweigen. Diese Polemik gegen arme Menschen ist unerträglich und mehr als kontraproduktiv.
Auch ein prinzipielles Fernbleiben von Fanzonen ist verfehlt. Sicherlich findet in Fanmeilen und Kurven rechte und patriarchale Gewalt statt. Das ist aber nicht ein Problem der Fanmeilen und Kurven allein, sondern ist auch in unzähligen anderen Bereichen der Gesellschaft zu finden. Sich von Fanmeilen fernzuhalten, weil sie einem nicht passen, obwohl man Fußballfan ist, überlässt die Fanzonen den Reaktionären. An die Initiativen von Fangruppierungen, die sich gegen Sexismus und Homophobie stellen, könnte man anknüpfen. Selbst die verhassten Stadtrivalen HSV und St. Pauli-Fans können ihre Rivalität beiseite lassen, wenn es gegen Rechts geht. Wir sollten keine Sekunde denken, dass Fans sich gerne von Rechten und der Regierung verarschen lassen und sie mit dem Anpfiff ihr Gehirn ausschalten.
Wir sollten uns gegen die Eventisierung des Fußballs stellen und uns für Fanzonen einsetzen, die von Fans und für Fans organisiert werden. Aus diesen sollten Rechte konsequent verdrängt werden.
„Leistungssport reproduziert die kapitalistische Konkurrenz“
Die Zeitschrift Gegenstandpunkt nennt Fußball einen „Genuss an Konkurrenz“. Dieser Artikel ist sinnbildlich für die Position vieler Linken, die die These aufstellen, dass die Konkurrenz auf dem Fußballplatz eine Fortsetzung der kapitalistischen Konkurrenz ist, bei der der eigene Sieg auf der Auslöschung des anderen basiert. Nach dieser Logik müsste man Fußball abschaffen. Doch das Problem ist nicht, dass Menschen sich messen, wer besser gegen einen Ball treten kann. Wenn Leute Sport treiben, Teamgeist entwickeln und dabei noch Spaß haben, kann das sehr produktiv sein. Auch normale Fußballfans sind nicht nur passive Konsument:innen, sondern agieren auch oft politisch. Der Investoreneinstieg in die deutsche Bundesliga wurde durch Fans verhindert. Das Problem ist viel eher, dass Profisport nicht fair ist und kein echter Wettbewerb zustande kommt. Nicht nur gibt es Vereine, die von einzelnen Kapitalist:innen mit Geld überschüttet werden, auch die Nachwuchsförderung ist auf wenige Spitzensportler:innen ausgelegt. Kein Videobeweis der Welt macht Fußball so unattraktiv wie Kapitalismus. Linke müssen für eine Stärkung des Breitensports eintreten, bei der es darum geht, kollektiv besser zu werden und eben nicht den Gegner zu erniedrigen. Aber auch Forderungen nach weniger Kommerzialisierung, niedrigeren Ticketpreisen, Entkriminalisierung von Fankultur und gegen Polizeigewalt sollten Linke unterstützen.
„Du und dein Boss haben nix gemeinsam bis auf das Deutschlandtrikot“
Dieses Zitat der Band K.I.Z. posten viele Linke gerade in ihre Instagram-Storys. Hier wird ein oberflächlicher Antikapitalismus mit einer identitären Verurteilung von Fußballfans verbunden. Sicherlich ist Nationalismus ein entscheidendes Element, dass die Arbeiter:innenklasse an den bürgerlichen Staat binden soll und auch Fußball spielt eine Rolle dabei. Doch die Frage ist viel komplexer, die Songzeile ist nicht nur ungeeignet für einen guten Dialog, sondern auch inhaltlich unpräzise. Die größte „Gemeinsamkeit“, die die Arbeiter:innen mit ihren Bossen haben, ist die Sozialpartnerschaft. China, Polen und Indien seien unser aller Konkurrenz, sie produzieren viel billiger, deshalb müsse man Deutschland stärken. Nach dieser Standortlogik werden Betriebe und damit Arbeitsplätze gesichert, während die Löhne meist nur langsam erhöht werden. Die Klassenkollaboration basiert nicht nur auf einem EM-Trikot, auch wenn der EM-Nationalismus dazu beiträgt, diese Standortlogik ideologisch zu vermitteln. Die Klassenkollaboration wird darüber hinaus auch durch die Vermittlung von Gewerkschaftsbürokratien manifestiert. Diese sind durch gut bezahlte Posten materiell von der Arbeiter:innenschaft getrennt, während sie aber gleichzeitig dessen Führung ist. Die Posten basieren auch zu einem guten Teil auf den Extraprofiten, die der deutsche Imperialismus durch die Überausbeutung von Halbkolonien erzielt. Diese Standortlogik, die von der Gewerkschaftsbürokratie offensiv vertreten wird, gibt sich sozial nach innen und ist chauvinistisch nach außen: Sie ist der Kern des Rassismus innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Millionen Arbeiter:innen folgen dieser Ideologie, die letzten Endes nur ihre eigenen Interessen denen des Kapitals unterordnet. Man ändert rein gar nichts daran, wenn man sich damit begnügt, das KIZ-Zitat rauf und runter zu posten. Ein ideologischer Kampf gegen den Nationalismus braucht unbedingt einen Kampf gegen die materiellen Stützpunkte des Nationalismus. Viele werden den Zusammenhang nicht direkt erkennen wollen, aber es stimmt: Gegen Nationalismus braucht es auch einen Kampf für eine antibürokratische Strömung in den Gewerkschaften.
„Wer heute Deutschland feiert, wird morgen Patriot und übermorgen Nazi“
Solche Sprüche hört man in der linken Szene häufig. Am Stadion von St. Pauli hing ein Banner mit dem Spruch: „Wer als Patriot*in losläuft, kommt als Faschist*in ins Ziel“ und eins mit „Vereinsliebe statt Vaterlandsliebe“ (an sich keine falsche Haltung). Tatsächlich kam es bei einigen Spielen bereits zu offen nationalistischen oder rassistischen Taten auf dem Spielfeld und abseits davon. Der Siegtorschütze bei der Achtelfinalpartie Österreich gegen die Türkei jubelte mit dem sogenannten Wolfsgruß der extremen türkischen Rechten. Österreichische Fans stimmten rassistische Parolen an. Schon in der Vorrunde war in der österreichischen Kurve ein Banner mit der Parole der Identitären „Defend Europe“ gesichtet worden. Diese Vorfälle gilt es mit aller Kraft zu bekämpfen. Dennoch ist es verfehlt, allen Fans zu unterstellen, sie würden am Ende genauso handeln.
Besonders beliebt ist, eine Bilanz der WM 2006 in Deutschland, die nachweislich den Aufstieg der Rechten begünstigt hat, eins zu eins auf die heutige Situation zu übertragen. Es ist durchaus so, dass die Austragung der Heim-WM 2006 es der „Mitte“ erlaubt hat, „endlich“ ein neues Nationalgefühl zu beschwören, das weit über die extreme Rechte hinausging. Genauso wie der erste WM-Sieg 1954 („Wir sind wieder wer“) und der WM-Sieg 1990, als das neue Selbstbewusstsein des deutschen Imperialismus seinen sportlichen Ausdruck bei Teamchef Franz Beckenbauer fand („Auf Jahre hinaus sind wir unschlagbar“). Doch dabei werden die aktuellen Debatten völlig außer Acht gelassen. Es gibt auch eine Tendenz, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Interessant an der Austragung der Weltmeisterschaft 2006 ist zudem, dass sie mit den größten Niederlagen der deutschen Arbeiter:innenklasse einherging. Vor dem Hintergrund von Hartz IV, Massenarbeitslosigkeit und der massiven Entrechtung der Klasse, hat sie den Herrschenden durchaus leichter gemacht, für eine Zeit die Klassenunterschiede zu verschleiern und das Regime zu stabilisieren. Um den Aufstieg der Rechten zu erklären, reicht es auch nicht, eine Scheinkausalität zwischen der WM 2006 und der Gründung der AfD 2013 zu konstruieren. Sicherlich hat die WM das Regime und auch den Nationalismus gestärkt und sogar zu einer beispiellosen Normalisierung von Nationalsymbolik zu Großevents beigetragen. Der Aufstieg der Rechten lässt sich aber nur mit Abstieg von kleinbürgerlichen Schichten im Zuge der Wirtschaftskrise 2008, den Hartz-Gesetzen als auch dem Versagen der Linken eine revolutionär-sozialistische Alternative aufzubauen. Die WM 2006 war dabei eher ein unterstützender Soft-Faktor, aber keine Haupttriebfeder. Trotz WM-Nationalismus konnte die LINKE die soziale Frage bei der Bundestagswahl 2009 für sich nutzen und 11,9 Prozent erzielen.
Die aktuelle Europameisterschaft findet vor dem Hintergrund veränderter Umstände statt – der deutsche Staat rüstet sich wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte auf und eine massive Militarisierung nach innen und nach außen findet statt. Gleichzeitig steht er vor einigen Hürden: Das deutsche Kapital will immer mehr Fachkräfte aus dem Ausland „importieren“ und nutzt die migrantisch-geprägte Nationalmannschaft, um sich „multikulturell“ und „offen“ zu geben. Politiker:innen machen Selfies in Stadien und Fernsehkameras zeigen jubelnde Politeliten. Kurz vor dem Anpfiff des Spiels Deutschland gegen Dänemark wurde Olaf Scholz interviewt. Er würde mitfiebern und sagte: „Man hat das Gefühl, da geht auch ein bisschen ein guter Geist raus aus Deutschland“. Im selben Atemzug bedankte er sich bei den „Sicherheitskräften“. Hier sieht man die andere Aufgabe der Ampelregierung. Im Zuge der Zeitenwende wird die Polizeigewalt verstärkt und repressive Gesetze gegen Migrant:innen beschlossen. Der Hype um Fußball-Großevents wurde immer wieder genutzt, um unliebsame Gesetze durchzusetzen. Während des „Sommermärchens“ 2006 wurde die arbeiter:innenfeindliche Mehrwertsteuer erhöht. Aktuell werden die Aufenthaltsgesetze rassistisch und behindertenfeindlich verschärft. Die EM 2024 stellt für die Ampel auch ein wunderbares Ablenkungsmanöver dar, um für 11 Milliarden Euro bei Rheinmetall auf große Shoppingtour zu gehen. Geld, das wieder angeblich fehlt, wenn es in den kommenden Kämpfen um soziale Forderungen geht.
Wie stark die Europameisterschaft die Integration in das Regime fördert, bleibt offen. Es hängt auch damit zusammen, wie weit die deutsche Elf im Turnier kommt. Scheidet sie gegen Spanien aus, würde man sagen, dass nach sehr enttäuschenden Jahren zwar gute Arbeit geleistet wurde, aber es am Ende nicht gereicht hat. Gelingt ein Turniersieg, könnte die Nationalmannschaft zum Symbol einer erfolgreichen multiethnischen Demokratie erklärt werden. Dies würde die sogenannte „Verteidigung der Demokratie“ durch die Ampel samt dem SPD-Wahlkampf mit Deutschlandfahne stärken. Es wäre das Stück Schokolade für die Massen, damit sie die Peitsche der Aufrüstung und der Entrechtung leichter akzeptiert.
Die Regierung profitiert im Moment nicht direkt, wenn man den aktuellen Wahlumfragen glaubt. Auf manchen Fanmeilen wurde das Interview mit Scholz vor dem Spiel mit Pfiffen versehen. Historisch gibt es natürlich das Beispiel der WM 2006, allerdings hat der WM-Sieg 1990 den massiven Widerstand gegen die Treuhand nicht beendet. Auch der WM-Sieg Frankreichs 2018 hat den Gelbwestenprotesten keinen Abbruch getan. Wenn Deutschland gewinnt, ist das nicht zwangsläufig ein Garant für mehr Stabilität für die Regierung. Nichtsdestotrotz ist es wahrscheinlich, dass mindestens das historische Projekt der Zeitenwende von einem EM-Sieg profitieren würde. Unabhängig davon, wer Europameister wird, treten wir dem Militarismus entgegen: Für die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie unter Arbeiter:innenkontrolle und Umstellung auf zivile Produktion.
Die extreme Rechte ist aktuell so stark in der Opposition zur Nationalelf wie noch nie. Sie fühlen sich in ihrem „unverkrampften“ Patriotismus von lilafarbenen Trikots und einer sehr migrantischen Nationalelf gestört. Alice Weidel hetzt: „Das ist nicht eine klassische deutsche Nationalmannschaft“. Der Ex-BILD-Chef Julian Reichelt fährt mit seinem rechten Onlineblog eine rassistische Hetzkampagne gegen den muslimischen Innenverteidiger Antonio Rüdiger. Die allermeisten Fans verteidigen Rüdiger gegen die Hetze und die Kampagne der Rechten ging nach hinten los. Die erfolgreiche EM hat bisher einen umgekehrten Özil-Effekt. Der ehemalige Nationalspieler und Weltmeister bilanzierte bei seinem Rücktritt: „Wenn wir gewinnen, bin ich Deutscher – wenn wir verlieren, bin ich Immigrant“. Aktuell spielt die deutsche Nationalelf so gut wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die guten Leistungen und der attraktive Offensivfußball stärken den liberalen Integrationsdiskurs mehr als den Nationalismus der Rechten. Hier wird der gleiche Nützlichkeitsrassismus reproduziert, den wir auch den Debatten um Fachkräftezuwanderung sehen können: Ohne die Migranten hätten wir keine Tore geschossen und ohne Migranten in der Pflege, niemand, der auf unsere Rentner aufpasst. Statt uns daran anzupassen, fordern wir volle Staatsbürger:innenrechte für alle und setzen uns gegen die rassistische Politik der Ampel zur Wehr. Der DFB sollte sich nicht länger an die rassistischen Gesetze des Staates halten müssen, wie im Falle des Fußballprofis Bakery Jatta, der rassistischen Hetzkampagne ausgesetzt war und für die DFB-Elf aufgrund fehlender Staatsangehörigkeit nicht spielen durfte. Fußball muss stattdessen von Aktiven und Fans verwaltet werden. Es ist dabei verfehlt, alle Deutschlandfans als kommende Rechte abzustempeln. Die meisten Fans stehen politisch in Opposition zur extremen Rechte und zu den völkischen Vorstellungen der AfD und einer ethnisch, homogenen „deutschen“ Mannschaft.
Das zeigt auch das lilafarbene Auswärtstrikot, auf dessen Präsentation ein rechter Shitstorm folgte. AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah schimpfte über die „Regenbogen-Mannschaft“ und bezeichnete die DFB-Elf als „politisch korrekte Söldnertruppe„. Der DFB hat die Kritik genutzt, um eine Werbekampagne zu machen, die sich gegen die Kritik gestellt hat. Seitdem sieht die Situation gänzlich anders aus. Der Adidas-Sprecher Oliver Brüggen bilanziert gegenüber der dpa: „Das pinkfarbene Trikot ist das am häufigsten verkaufte Auswärtstrikot in der Geschichte aller DFB-Trikots“. Auch hier hat der liberale Feminismus und das dominierende Lager des deutschen Imperialismus profitiert.
Die mechanischen Vorverurteilungen von DFB-Fans als künftige Rechte gehen völlig am Bewusstsein der Massen vorbei. Dennoch ist für uns der liberale Rassismus nicht das kleinere Übel gegenüber dem Rassismus der extremen Rechte. Es braucht inhaltliche Debatten darüber, dass der liberale Antirassismus nicht ausreicht, sondern die politischen und ökonomischen Bedingungen für Rassismus und Sexismus überwunden werden müssen, um die Menschenrechte zu verwirklichen. Die Wurzeln der Unterdrückung liegen in der kapitalistischen Produktionsweise, die durch die Spaltung, Ungleichbehandlung und Entrechtung rassistisch und sexistisch unterdrückter Teile der Arbeiter:innenklasse größere Mengen an Profit sichert. In diesem Sinne muss auch die Verwertungslogik des liberalen Antirassismus, der Migrant:innen in produktiv und nicht-produktiv einordnet, entlarvt werden. Für offene Grenzen und volle Staatsbürger:innenrechte für alle!
Was es stattdessen braucht
Viele Fußballfans schalten bei den haarsträubenden Argumenten vieler Linker verständlicherweise auf Durchzug. Wir hoffen, mit diesem Debattenbeitrag nicht nur Linke zum Überdenken ihrer Positionen anregen zu können, sondern auch ein bisschen Schadensbegrenzung bei Fußballfans zu betreiben. Die aktuellen Debatten schaden der Linken nur und Themen, zu denen sie durchaus etwas beizutragen hat, geraten in den Hintergrund: In diesem Artikel haben wir schon die Debatten um patriarchale und rassistische Gewalt aufgeführt. Auch Suchterkrankungen wie Spiel- und Alkoholsucht könnte man thematisieren. Die soziale Frage spielt bei der EM eine unmittelbare Rolle: Viele Helfer:innen bekommen kein Gehalt, von Millionen an öffentlichen Geldern werden Stadien modernisiert und Fanzonen aufgebaut, während die UEFA die Profite einstreicht. Für die Errichtung von Fanmeilen wurden sogar obdachlose Menschen vertrieben.
Aber auch die Aufrüstung der Polizei und ihre brutalen Gewaltexzesse letzte Saison gegen Ultras waren für diese Menschenfeinde nur eine Vorbereitung auf die EM. Die HSV-Fans hielten über die Fankurve ein Transparent: „Wir wünschen Bullen und Bullenstaat eine unruhige EM“ hoch. Hintergrund ist eine achtstündige, unrechtmäßige Polizeikontrolle ohne Sanitäranlagen und Verpflegung gegen 800 HSV-Fans. Diese Aufrüstung haben auch die Menschen, die gegen den AfD-Parteitag oder für Palästina auf die Straße gegangen sind, zu spüren bekommen. Hier könnte man gut ansetzen und eine breite Kampagne gegen die Polizei vorschlagen, die dafür eintritt, die Polizei aus den Stadien und aus den Gewerkschaften zu schmeißen.
Letztendlich geht es darum, dass wir als Sozialist:innen dem sektiererischen Reflex widerstehen müssen, uns durch offene Verachtung von Großevents wie der EM und anderen Massenphänomenen selbst ins Abseits zu stellen. Was wir stattdessen brauchen, ist einen Dialog, der auf den Großteil von Fußballfans ausgelegt ist und den Bruch zwischen ihnen und dem Regime verstärkt. Es ist dabei egal, wen man bei diesem Turnier unterstützt. Auch als Sozialist:in kann man Spaß an den verschiedenen Spielphilosophien, Taktiken, Spielern und sogar an den Mannschaften haben. Nie sollte man dabei die Europameisterschaft aber entpolitisieren, denn Fußball ist lange kein Arbeiter:innensport mehr, sondern liegt fest im Würgegriff der Bosse von DFB, UEFA und Konsorten.
In diesem Sinne kämpfen wir für einen Fußball, der im Dienst und Kontrolle der Beschäftigten und Fans steht. Wir sagen daher: Hände weg von unserem Spiel! Die EM ist für viele Fans unbezahlbar: Einige EM-Spiele werden nur mit teuren Abos im Bezahlfernsehn übertragen, von den Ligaspielen ganz zu schweigen. Für viele EM-Spiele waren kaum Tickets unter 100 Euro zu bekommen. 250 Euro kostet eine Karte in Kategorie 1. Wir sagen: Kein Zwanni für ’nen Steher. Es braucht neben der Abschaffung von Pay-TV eine Deckelung der Eintrittspreise von 20 Euro bei internationalen Spielen und 10 Euro bei Ligaspielen. Damit einhergehen muss eine Stärkung der Stehplätze gegenüber den Logen und Sitzplätze bzw. die Wiedereinführung von Stehplätzen bei internationalen Spielen. Die „Sicherheitsbedenken“ der Herrschenden gegen Stehplätze und auch Pyrotechnik sind absurd: Die größte Gefahr ist die Polizei, die regelmäßig Fans drangsaliert und verprügelt. Für die Katastrophen in den Kurven wie in Hillsborough 1989, wo 97 Menschen starben und fast 1.000 verletzt wurden, ist einzig und allein die Polizei verantwortlich. Das gilt natürlich auch für die Fanmeilen. Heute sind die Fan-Zones von der UEFA für jede Ausrichterstadt vorgeschrieben – die Kosten trägt die Allgemeinheit, die Profite, die dort erwirtschaftet werden, aber steckt die UEFA ein. Stattdessen könnten Fan-Feste von selbstverwalteten Fan-Ordner:innenteams und Gewerkschaften statt von der Polizei gesichert und verwaltet werden. So ließe sich nicht nur ein echter Kampf gegen Rechte, Sexist:innen und Rassist:innen in den Kurven und auf den Fanmeilen organisieren, auch die absurden Preise für Getränke und Speisen könnte man deckeln. In einer solchen Atmosphäre wären Fans aller Teams und Nationalitäten nicht nur „zu Gast“ bei Freunden, sondern es könnten mehr echte Fanfreundschaften geschlossen werden, wie zwischen den deutschen und schottischen Fans. Dafür braucht es Begegnungen auf Augenhöhe und kein UEFA-Spektakel. Eine Absage an den Nationalismus darf dort aber nicht stehenbleiben, internationale Solidarität brauchen vor allem jene, die in Zeiten des Fußballfestes leicht in Vergessenheit geraten: Für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle.