Zehn Jahre „Uni brennt“ – Machtkampf im Audimax (Teil 1)
Besetzte Hörsäle in ganz Europa, weltweite Solidarität, selbstorganisierte Küchen und Vorlesungen, Konzerte im Audimax. Vor zehn Jahren erhob die Student*innenbewegung auch in Deutschland ihr Haupt. Wie der „Audimaxismus“ politisierte, was er erreichte und was wir lernen können.
November 2009. Wolfgang Heubisch, bayerischer Staatsminster für Wissenschaft, Forschung und Kunst, ist schon seit über einer Stunde im besetzten Audimax der Münchner LMU. Nicht gerade ein Hühne, wirkt er am Redner*innentisch sitzend noch kleiner. Das mag zum einen am voluminösen Hörsaals liegen, dessen Sitzreihen wie in einem antiken Theater angeordnet sind. Es mag aber auch daran liegen, dass der Audimax sprichwörtlich kurz vorm Platzen ist. Auf den Treppen sitzend, an den Wänden lehnend – die Münchner Student*innen lassen keinen Quadratmeter ungenutzt. Die Türen stehen weit offen, die Diskussion muss in andere Hörsäle übertragen werden. Auch Heubisch hat kaum Platz. Er sitzt an einem der Tische, die sonst in den Seminarräumen stehen, weit zurück an die Wand gedrängt. So kann er den Raum nicht einnehmen, der einem Staatsminister normalerweise zugestanden wird. Er ist jetzt nur noch einer von Vielen. Für den Moment seiner Autorität beraubt, wirkt seine Stimme unsicher, überschlägt sich manchmal. Die Geschlossenheit der anwesenden Studierenden imponiert ihm sichtlich. Er kommt weder mit neuen Argumenten noch mit neuen Angeboten. „Die Studiengebühren bleiben, basta!“. Derlei Szenen wiederholen sich in den bayerischen Hochschulen. Die rebellierenden Student*innen sind unübersehbar in den Tagesthemen, dominieren die bundesweite Innenpolitik – und Heubisch hetzt von einem Audimax in den nächsten.
Es ist dieser Moment, der sich mir für mein ganzes Leben lang eingeprägt hat, der mich wirklich politisiert hat. Seit zwei Wochen kam es zu einer Welle von Besetzungen großer Hörsäle. Zuerst in Österreich, dann in Heidelberg und München. Ein Kern von aktiven Student*innen hatte um den Audimax herum sehr schnell eine Infrastruktur aufgebaut, um die Besetzung tagsüber und nachts aufrecht zu erhalten. Mit Sachspenden aus der ganzen Stadt wurde eine gemeinschaftliche Küche organisiert, Informatiker*innen hatten ein Infowiki und eine Kommunikationsplattform eingerichtet. Wir saßen abends nach den Pflichtveranstaltungen unserer Studiengänge im Audimax, diskutierten über unsere Forderungen, die Bologna-Reform, Probleme in den Fakultäten, Studiengebühren, Bachelor, Master, Diplom, Demokratie. Nebenbei lief, für jeden sichtbar an die Stirnseite des Audimax projiziert, ein liveticker mit aktuellen Meldungen und tweets zum Bildungsstreik: hashtag #unibrennt. Immer wieder mussten die Diskussionen für Jubelstürme unterbrochen werden. „Uni Marburg besetzt!“, „Gießen brennt!“, Hannover, Stuttgart, Hamburg, Berlin.
Die allabendlichen Plena organisierten nicht nur den nächsten Tag, die nächste Vorlesung oder die nächste Demo. Sie fungierten auch gleichzeitig als das höchste politische Gremium der Studierenden, um über die Fortsetzung des Protests und der Besetzung zu entscheiden. Die Besetzung entsprach einer dauerhaften Vollversammlung. Nicht alle Studierenden waren von der Besetzung des Audimax begeistert. Besonders die BWL-Fachschaft versuchte immer wieder das Stimmenverhältnis zu Gunsten einer Beendigung zu verändern. Ohne Erfolg. In ganz München wurde zur Abstimmung mobilisiert, wenn die BWL sich angekündigt hatte: in der Mensa, bei den Vorlesungen, in den Seminaren. Und jedes Mal, wenn 50 stabile BWL*innen gemeinsam zur Abstimmung im Audimax auftauchten, war der Audimax quasi schon voll. Es waren aber nicht nur Studis an den Protesten und Debatten beteiligt. Auch Schüler*innen, Professor*innen und Dozent*innen solidarisierten sich mit der Besetzung, hielten Vorlesungen und Diskussionsbeiträge im Audimax.
#unibrennt, aber wieso?
Die politische Eruption an den Universitäten hatte sich angebahnt. Die von der OECD finanzierte PISA-Studie, ein 2001 erstmals veröffentlichtes, neoliberales Werkzeug, mit dem schon die jüngsten Schüler*innen global in Konkurrenz zueinander gestellt werden, gab den Takt in der Bildungspolitik an. Die deutschen Schüler*innen hatten laut PISA versagt, jetzt musste sich schnell was ändern. Die Lehrpläne wurden umgestellt, kürzere Schulzeiten und die allseits verhasste Rechtschreibreform wurden eingeführt. Die neuen Schlagwörter der Bildungspolitik hießen: Kompetenzstandards, Evaluation, Output-Steuerung, Bildungsmonitoring, globaler Wettbewerb. Mit diesem neuen wording begann Anfang der 2000er der konzertierte Angriff auf das öffentliche Bildungssystem.
Schon Ende 2008 gab es die ersten bundesweiten Proteste und Bildungsstreikbündnisse, auch angetrieben durch politische Erfahrungen der Jugend in der Antikriegsbewegung 2003 und den Aktionen rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm. Hauptschlagrichtung waren dabei die Umsetzung und die Inhalte der Bologna-Reform, die geplante Einführung von Studiengebühren und die schleichende Privatisierung des Bildungswesens. Im Sommer 2009 entlud sich die Unzufriedenheit der Jugend dann auf der Straße. Während Banken gerettet und Abwrackprämien verschenkt wurden, musste die erste Generation von Studierenden Gebühren für den Zugang zur Hochschule bezahlen. Mit der fast gleichzeitig eingeführten, neuen Bachelor-/Master-Studienordnung und einem rigorosen Stundenplan, wurde das Studium zu einem Kraftakt. Das neue Credit-Point-System verpflichtete die Studierenden zu einer 40-Stunden Woche an der Universität. Ein Großteil der Studierenden war nebenher jedoch gezwungen arbeiten zu gehen, um die Studiengebühren überhaupt bezahlen zu können. Wer Unterschriften fälschen konnte, hatte schnell viele Freunde. Denn die Anwesenheitspflicht wurde rigoros geprüft. Wer dreimal fehlte, fiel durch den Kurs und musste das Semester wiederholen. Darüber hinaus waren trotz mehrerer Millionen Euro an Einnahmen durch die Studiengebühren schlicht zu wenig Arbeits- und Lehrmaterialien zur Verfügung, die Seminare und Bibliotheken überfüllt. Dem universitären Verwaltungsapparat fehlte das Personal und durch den Übergang zur neuen Studienordnung herrschten stellenweise chaotische Zuständen. In München gestaltete sich die Lage besonders brisant. Nicht nur war München damals schon die Stadt mit dem höchsten (Miet-)Preisniveau, auch bei den öffentlichen Verkehrsmitteln oder öffentlichen Einrichtungen mussten Studierende den vollen Preis bezahlen. Die Besetzung des Audimax im Herbst 2009 fiel also auf fruchtbaren Boden.