„Zanon ist ein kleines Beispiel dafür, dass der Sozialismus möglich ist“ – Erinnerungen von Wladek Flakin
Seit 15 Jahren steht die Keramikfabrik Zanon im argentinischen Neuquén unter Selbstverwaltung der Arbeiter*innen. Wladek Flakin besuchte vor vielen Jahre Zanon, um diese einzigartige Erfahrung mit eigenen Augen zu erleben.
Ich hatte gerade 18 Stunden im Reisebus verbracht, um aus Buenos Aires zu kommen. Endlich war in in der patagonischen Stadt Neuquén angekommen. Staub, Steppe, im Hintergrund die Anden – wie im Wilden Westen fühlte sich das an, aber auf der falschen Erdhalbkugel, im südlichen wilden Westen.
Nach einer weiteren Busfahrt kam ich dann zum Ziel meiner Reise: Die Fabrik Zanon. Auf dem Schild vor dem Tor prangte das alte weiß-rot-grüne Logo. Doch dem Namen „Zanon“ war ein Graffiti hinzugefügt: „… gehört den Arbeiter*innen“.
Auf einer Tour sah die Fabrik nicht besonders aus. Eine riesige Halle – ich habe vergessen, wieviele Fußballfelder da reinpassen würden – mit massiven Öfen, Laufbändern und Roboterarmen. Zanon war besonders, weil etwas fehlte. Ein*e Besitzer*in. Ein*e Chef*in.
Wie es zur Besetzung und zur Produktion unter Arbeiter*innenkontrolle kam, könnt ihr am Besten in einem Interview mit dem Genossen Raúl Godoy nachlesen.
Was mich am meisten beeindruckte, waren die normalen Arbeiter*innen der Fabrik. Also klar gab es einige, die seit Jahren oder Jahrzehnten Trotzkist*innen waren und immer von der Enteignung der Produktionsmittel – ganz im Sinne von Trotzkis Übergangsprogramm – geträumt hatten. Aber die allermeisten hatten aus der einfachen Not gehandelt.
Ein Arbeiter hat das für mich auf den Punkt gebracht – nach so vielen Jahren versuche ich, seine Aussage zu rekonstruieren:
Früher habe ich mich nicht für Politik interessiert. Die militanten Arbeitslosen (piqueteros) haben immer wieder die Autobahn blockiert. Mich hat das tierisch aufgeregt – ich kam ja zu spät zur Arbeit. Sie wollten uns Flyer geben, aber ihre Zettel habe ich vor ihren Augen zerrissen.
Erst als die Fabrik uns gehöte, habe ich mir das neu überlegt. Wer sind die Piqueteros? Sind das nicht teilweise sogar Arbeiter*innen, die früher hier entlassen wurden? Und wenn wir die Fabrik verteidigen müssen, brauchen wir nicht ein Bündnis mit Ihnen? Da war mir klar, dass wir neue Arbeitsplätze schaffen müssen, und zwar für die Arbeitslosen.
Warum ist das Proletariat jene soziale Klasse, die dazu bestimmt ist, die soziale Revolution anzuführen? Nicht einfach, weil Proletarier*innen unter Armut und Unterdrückung leiden – außerhalb des Proletariats finden wir Schichten, die noch ärmer und unterdrückter sind. Nein, das Proletariat ist die Klasse, die seine Partikularinteressen nur als die Universalinteressen aller Unterdrückten durchsetzen kann. Anders gesagt: Das Proletariat kann sich nur selbst befreien, in dem es alle Unterdrückten befreit.
Das Proletariat „kann und muß (…) sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohnealleunmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben.“ (Karl Marx / Friedrich Engels:Die Heilige Familie.)
Dieser Arbeiter von Zanon hatte das erkannt, ohne Marx studiert zu haben. Seine Interessen – seinen Arbeitsplatz retten, seine Familie ernähren – konnte er nur durchsetzen, in dem er sich in eine Konfrontation mit dem Kapital und dem Staat begab. Und diese Konfrontation konnte er nur gewinnen, indem er sich mit allen Unterdrückten solidarisierte. Mit Arbeitslosen, mit Indigenen, mit Studierenden…
In der Not braucht die Arbeiter*innenklasse Solidarität, um zu überleben. Unsere Klasse mag von allen möglichen reaktionären Ideologien – Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie – verseucht sein. Aber unsere objektiven Interessen drängen uns zu Solidarität. Das habe ich bei Zanon zum ersten Mal richtig verstanden.
Und wenn eine Fabrik ohne Chefs funktioniert – warum sollten Industrien ohne Chefs nicht funktionieren? Oder eine ganze Welt? Dagegen wird eingewendet, Arbeiter*innen seien zu dumm, oder zu faul, oder zu desinteressiert. Aber erst wenn Menschen Verantwortung für ihre Lebensumstände übernehmen können, werden wir lernen, wozu wir alles fähig sind. Erst da lernen wir, wie solidarisch wir sein können.
Dafür steht Zanon. Und dieses Beispiel inspiriert mich als Marxist*in fast 15 Jahre später immer noch.