YPG-Prozess in München: Innenministerium kehrt Beweislast um und diktiert antidemokratisches Urteil
Am Freitag wurden wir Zeuge eines politischen Verfahrens gegen den Aktivisten Benjamin Ruß. Er wurde vom Amtsgericht München in erster Instanz zu 90 Tagessätzen dafür verurteilt, eine erlaubte kurdische Fahne getragen zu haben – dabei war der Prozess selbst nach geltenden juristischen Standards eine Farce.
Die Richterin des Münchner Amtsgerichts begann ihre Urteilsbegründung damit, sie habe sich „jegliche Mühe gegeben, aus diesem Prozess keinen politischen Prozess zu machen“. Und doch folgte sie in ihrem Schuldspruch ganz und gar der Argumentation eines Beauftragten des Bundesinnenministeriums, der sich auf rein politische Erwägungen stützte. Und nicht nur das: Das Urteil gegen Benjamin Ruß, 33 Jahre alt und Angestellter im öffentlichen Dienst, beruhte auf der Einschränkung der im Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit und auf der zynischen Umkehr der selbst nach bürgerlichem Recht grundlegenden Unschuldsvermutung.
Aber der Reihe nach: Ruß wurde für das Zeigen einer Fahne der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ angeklagt, einmal auf Facebook im März 2017, einmal im Februar 2018 bei einer Kundgebung gegen den türkischen Angriffskrieg auf Afrin. Afrin liegt in Westkurdistan, auf dem von Syrien und neuerdings auch der Türkei beanspruchten Gebiet, in dem YPJ und YPG die Bevölkerung gegen die militärischen Aggressionen des IS und des türkischen Staats verteidigen.
Bereits die Form des Verfahrens kündigte seinen Inhalt an: Der Saal wurde kurzfristig geändert und das Publikum vor dem Gerichtssaal durch eine zweite, zusätzliche Sicherheitsschleuse geführt. Alle Gegenstände mussten den Justiz-Beamt*innen abgegeben werden, Ausweise wurden kopiert, nicht einmal Stift und Papier durften mit. Den Angeklagten wollten die Beamt*innen in einer Prozesspause zunächst nicht auf die Toilette gehen lassen. Im Saal und davor standen insgesamt etwa ein Dutzend Beamt*innen. Das ganze selbst für bayerische Verhältnisse höchst ungewöhnliche Szenario diente zur Einschüchterung des Angeklagten und des Publikums, das vom demokratischen Recht auf Prozessbeobachtung Gebrauch machen wollte. Und bald nach Auftakt des Hauptverfahrens war auch klar warum: Es handelte sich um einen politischen Prozess mit dem Bundesinnenministerium als Hauptakteur.
Bundesinnenministerium: Verbotene nicht verbotene Fahnen
Als das Verfahren tragender „Experte“ wurde ein Mann in den Zeugenstand berufen, der im Bundesministerium des Innern (BMI) das Schreiben selbst mit verfasst hatte, das Symbole der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ, sowie eine Reihe anderer kurdischer Symbole, von der Polizei nicht auf Demonstrationen geduldet werden sollen – obwohl diese Organisationen erlaubt sind. Dieses Schreiben an deutsche Behörden Anfang 2017 ist Grundlage für diesen und viele andere Prozesse wegen YPG- und YPJ-Fahnen. Es handelt sich beim Zeugen um den Ministerialbeauftragten Jens Koch, Referatsleiter für internationalen Terrorismus und Extremismus beim BMI – also einen Vertreter der Exekutive.
Im Zeugenstand gab der Referatsleiter an, dass YPG- und YPJ-Fahnen an sich nicht verboten sind. Es handle sich zwar um Organisationen, die Teil der PKK seien und dem Kommando in Kandil unterstünden, so der BMI-Zeuge, jedoch hätten sie eine gewisse Unabhängigkeit und seien Teil des westlichen Militärbündnisses in Syrien. In Deutschland nutze die PKK die Fahnen jedoch als Ersatzsymbole. Hierbei sei es egal, welche Fahnen oder Farben gezeigt werden: Es komme vielmehr darauf an, wo und von wem sie in welcher „Choreographie“ genutzt würden. Die PKK inszeniere mit verschiedenen kurdischen Symbolen „Fahnenmeere“. Die Argumentation des BMI-Mitarbeiters zur Verfolgung der Symbole der erlaubten YPG und YPJ:
Rote, gelbe und grüne Fahnen sind an sich nicht illegal. Wenn sie aber auf einer Demo, an der PKK sympathisierende Kräfte teilnehmen, in so einer Form choreografiert werden, dass die kurdische Fahne entsteht, ist dies eine Straftat.
Überhaupt seien jegliche Symbole, die im Kontext der PKK verwendet werden, strafbar – egal ob die Symbole legal oder illegal sind.
Wenn Amnesty z.B. eine Demo gegen den Krieg in Syrien anmeldet, wäre es kein Problem, wenn sie YPG/YPJ Fahnen tragen. Wenn NAV-DEM diese Demo anmeldet jedoch schon, da wir davon ausgehen, dass es bei der Demo eigentlich gar nicht um Syrien, sondern um die PKK gehen soll. So wäre ein Fahnenmeer egal von welchen Fahnen auf kurdischen Demos schon ein Referenzsymbol an die PKK. Jedes Symbol kann illegal sein, wenn der Träger die Gesinnung hat, die PKK aufrecht zu halten.
Es käme darauf an, wer zu einer Demonstration aufruft und mobilisiert. Wenn etwa in der Zeitung „Özgür Politika“ zu einer Demo aufgerufen werde, müsse der Referatsleiter davon ausgehen, dass dies eine PKK-Demonstration und keine Demonstration zum Krieg in Syrien sei. Auch wenn es dabei um den Krieg in Syrien geht also. Der Sachverständige merkte an, dass auch das BMI die Einsätze der Türkei in Syrien und dem Irak als völkerrechtswidrig werte. Die Liste des BMI diene sowieso nur zur Orientierung, sie hinke „der Kreativität der kurdischen Organisationen immer hinterher“, so der Zeuge. Das Gesamtbild des „Fahnenmeeres“ kurdischer Kundgebungen in Deutschland unterstütze die PKK.
Nicht nur eine Organisation, sondern ein ganzes Volk wird damit kriminalisiert: Da wird dann vom Ministerialbeauftragten der kurdische Kalender mit dem Neujahrsfest (Newroz) zum „PKK-Kalender“ und die, wie der BMI-„Experte“ es nennt, „sogenannten kurdischen Nationalfarben“ Rot, Grün und Gelb zu PKK-Farben. Alle Kurd*innen und alle mit ihnen solidarischen Menschen stehen anscheinend im Verdacht, die PKK zu unterstützen. Die Forderung nach Aufhebung des Verbots der PKK wird vom BMI und der Staatsanwaltschaft uminterpretiert zu einem Slogan mit „PKK-Bezug“, wodurch alles, was darum herum passiert, wiederum zu etwas in einer PKK-Kundgebung wird. Auch Bezüge zum „Organisatorenkreis“ einer Demonstration werden gemacht, die ein örtlicher Polizist als Zeuge bestätigte: „PKK-Bezug, Kurden-Bezug“, sagte er. „Dort unten ist das alles eins“, sagte die Staatsanwältin später im Plädoyer, das die Muster des Ministerialbeauftragten aufgriff.
Folgender Dialog gibt diese Logik der Argumentation des Bundesinnenministeriums wieder, das vom Sachverständigenzeugen Koch vertreten wurde:
Verteidigung: „Können sie die einzelnen verbotenen Fahnen nochmal zeigen?“
Sachverständigenzeuge (BMI): „Nein, die Fahnen sind nicht verboten, sondern die Ansammlung, das Gesamtbild, was sie bilden.“
Verteidigung: „Also ist jeder Teilnehmer der Demo ein Straftäter?“
Sachverständigenzeuge (BMI): „So könnte man das sehen.“
Staatsanwaltschaft: „Es liegt ein Anfangsverdacht vor.“
Richterin (fasst das BMI zusammen): „Wenn ich als Teilnehmer dieses Fahnenmeer sehe, weiß ich, dass das eine PKK-Veranstaltung ist und sollte mich nicht Teil dieser machen.“
Das ist nicht einfach ein skurriler Dialog, sondern die Aushebelung selbst grundlegendster rechtstaatlicher Prinzipien: BMI, Staatsanwaltschaft und Gericht drehten die Unschuldsvermutung einfach um und argumentierten, jedes legale Symbol könne illegal sein, wenn der – vermuteten (!) – Gesinnung etwas Verbotenes zugrunde liege.
Das Urteil: Eine Umkehrung der Beweislast
Im Schlussplädoyer beteuerte die Staatsanwältin auffällig: „Es geht hier letztlich um eine reine Rechtsfrage“. Die verbotene Vereinigung PKK mache sich ein Symbol zu eigen, das somit „zumindest auch“ als Kennzeichen dieser verbotener Organisation gelten müsse. Das heißt, auch nicht verbotene Symbole könnten Symbole verbotener Vereinigungen sein. Auf Versammlungen würde laut dieser Argumentation durch „Farbenwahl“ und den viel zitierten „Fahnenmeeren“ erlaubter Symbole ein PKK-Bezug hergestellt. Die Absicht, die verwendeten Kennzeichnen zu zeigen, sei dabei „unerheblich“, da es um die „Förderung des Zusammenhalts einer terroristischen Organisation“ gehe.
In dieser antidemokratischen Rechtsprechung wird der kurdische Widerstand per se kriminalisiert, das Ziel eines eigenständigen kurdischen Staats per se mit Terrorismus gleichgesetzt. Unabhängig davon, dass wir strategische Differenzen mit der PKK haben, ist uns klar, dass dadurch jede Möglichkeit des kurdischen Volkes, sich mit seinen selbst gewählten Methoden selbst zu organisieren, durchkreuzt werden soll. Deshalb verurteilen wir nicht nur dieses politische Urteil, sondern die gesamte Praxis der Kriminalisierung der kurdischen Organisationen, ob PKK oder nicht.
Um dieses politische Urteil zu erwirken, fand zudem von der Anklage eine unerhörte Umkehrung der Beweislast statt: Man soll „eindeutig nicht“ in Verbund mit der PKK auftreten, wenn man für die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten gegen einen türkischen Angriffskrieg demonstriere. Eine sichtbare Gegnerschaft oder Distanzierung von der PKK sei Voraussetzung, um dem „Schutzzweck der Norm“ nicht zuwider zu laufen. Billigend in Kauf zu nehmen, den Zusammenhalt der PKK durch Nicht-PKK-Symbole zu „fördern“, reiche aus. Ein Banner „Weg mit dem Verbot der PKK“, das laut einem befragten Polizeibeamten fünf bis zehn Minuten am Rande der Kundgebung am Boden lag und in dessen Nähe er den Angeklagten nicht gesehen hatte, wurde von der Staatsanwältin zum Kronzeugen dafür erklärt, dass mit der YPJ hier eigentlich die PKK gemeint sei. Und eine Hausdurchsuchung wegen des Facebook-Posts einer YPG-Fahne, für den Benjamin Ruß im gleichen Prozess freigesprochen wurde, sollte für die Staatsanwältin als Beweis dafür dienen, dass der Angeklagte „uneinsichtig“ ist.
Der Verteidiger fragte in seinem Plädoyer, wie aus einem legalen, legitimen Zeichen etwas Illegales werden kann. Es handle sich schließlich nicht um ein verbotenes Kennzeichen nach dem Vereinsgesetz. „Auch als PKK-Anhänger muss man ja irgendwelche Fahnen tragen können“, spitzte er die Unlogik der Anklage zu, die alles Kurdische zum „PKK-Bezug“ und damit strafbar erklärte, egal ob es erlaubt oder verboten ist. Dies sei eine paradoxe Situation: „Ist es ein Symbol des verbotenen Vereins PKK? Entweder ist es keins oder es ist eins.“ Der Sachverständigenzeuge aus dem Bundesministerium des Inneren sage dazu mal ja und mal nein. Im Übrigen verwies der Verteidiger auf Artikel 5 Grundgesetz, dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit, das sein Mandant ausgeübt hatte.
Der Angeklagte selbst äußerte sich mit einem Schlusswort zur Sache: Es handelt sich anders als die Staatsanwältin sagt um einen politischen Prozess. Kurd*innen würden immer wieder von Polizei und Staatsanwaltschaft angegriffen, weil sie in sogenannten „Zusammenhängen“ stünden. Auch am vergangenen 8. März, dem Frauenkampftag, war das der Fall. „Es ist absurd, dass ich hier sitze, der das Ende türkischer Kriegseinsätze forderte, und nicht die Waffenfabrikanten“, so Ruß. Die Solidarität mit dem kurdischen Widerstand könne politisch nicht verhindert werden, daher würden Aktivist*innen in die Gerichtssäle gezerrt.
Kommen wir zurück zum Eingangszitat der Richterin: „Ich habe mir jegliche Mühe gegeben, aus diesem Prozess keinen politischen Prozess zu machen“. Sie bemühte ausgerechnet einen Vergleich mit rechtsradikalen Organisationen, die aufgrund der gleichen Gesetze verurteilt würden, um die Unabhängigkeit der Judikative zu begründen. Im Kontrast dazu stand, dass ihr Urteil die einfache Wiedergabe der Empfehlung des Bundesinnenministeriums war: Schuldig für das Zeigen einer Fahne auf einer Demonstration für Afrin, unschuldig für das Posten der gleichen Fahne ohne Kommentar auf Facebook. Das hatte der Ministerialbeauftragte des BMI empfohlen und so urteilte die Richterin.
Statt wie von der Staatsanwältin gefordert für beide Fälle zusammen zu 180 Tagessätzen, verurteilte die Richterin den Angeklagten zu 90 Tagessätzen für das Zeigen einer YPJ-Fahne auf einer Demonstration. Dass das Zeigen der YPJ-Fahne auf Facebook in diesem Fall – unkommentiert im Banner des eigenen Profils mit dem zeitlichen Kontext der Angriffe auf Afrin – vom Gericht als erlaubt angesehen wurden, ist ein kleiner Erfolg für alle, die sich solidarisch mit der kurdischen Bewegung in Syrien zeigen.
Der Schuldspruch zugunsten des Bundesinnenministeriums wegen Zeigen der gleichen Fahne auf einer Demonstration hingegen ist ein ungeheuerlicher Angriff auf die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit und völlig inakzeptabel. Die Symbole, für die Benjamin Ruß angeklagt wurde, sind in Deutschland erlaubt. Das Tragen zweier Fahnen wurde sogar von der Polizei vor Ort erlaubt. Darauf gingen weder die Staatsanwältin noch die Richterin in ihrer Begründung ein. Benjamin Ruß und sein Anwalt haben bereits angekündigt, dazu in Berufung zu gehen.
Bei den Zitaten handelt es sich um Notizen und Gedächtnisprotokolle, die vom Wortlaut im Gerichtssaal leicht abweichen können.