Xi Jinping weicht vor dem Druck der Straße zurück – eine Premiere
Die demokratische Bewegung Hongkongs hat einen großen Sieg errungen und die Regierungschefin gezwungen, die Pläne zur Auslieferung der Bevölkerung an Festlandchina auszusetzen.
Die Aussetzung des Auslieferungsgesetzes, durch die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam, war ein großer Sieg für die Hongkonger Demokratiebewegung. Nach den massiven Mobilisierungen war Lam gezwungen, ihre Pläne zur Verabschiedung eines Gesetzes auszusetzen, das die Auslieferung ihrer Bürger*innen an Festlandchina ermöglicht hätte.
Erinnern wir uns, dass der chinesische Machthaber Xi Jinping keinerlei Zugeständnisse gemacht hatte, nachdem die „Regenschirm-Revolution“ 2014 das Zentrum der ehemaligen britischen Kolonie mehr als zwei Monate lang lahmgelegt hatte, um eine demokratische Wahl der Regierung für das teilautonome Gebiet zu fordern. Darüber hinaus warnte er 2017 die Hongkonger Bevölkerung, dass jeder Versuch, die Autorität der Zentralregierung in Frage zu stellen, als Überschreitung einer roten Linie angesehen würde. Angesichts des enormen Widerstandes der Bevölkerung, aber auch der lokalen Geschäftsleute, sowie der wachsenden internationalen Kritik, einschließlich Drohungen aus den Vereinigten Staaten, verlangte Peking jedoch von Carrie Lam, das Projekt vorerst aufzugeben. Lam, tief geschwächt, entschuldigte sich in der Hoffnung, dass die wachsende Menge, die auf mehr als zwei Millionen Menschen geschätzt wird, wieder nach Hause gehen würde. Bisher ist dieser Plan jedoch nicht aufgegangen.
Die zunehmende Absorption Hongkongs durch Peking
Heute ist Hongkong eines der wichtigsten Finanzzentren der Welt, einer der weltweit führenden Containerhäfen und politisch gesehen der Brückenkopf der Volksrepublik China zum Westen. Nach dem bis 2047 geltenden Modell „Ein Land, zwei Systeme“ genießt es einen besonderen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Status nach westlichem Vorbild, der seinen Bürger*innen im Vergleich zum Einparteiensystem der Volksrepublik wichtige Rechte gewährt, wie beispielsweise den freien Zugang zum Internet.
Dieses Modell hat es Festlandchina erlaubt, vom Konsens der wichtigsten Wirtschafts- und Berufssektoren der ehemaligen Kolonie zu profitieren. Aber die Autonomie wird immer weiter eingeengt. Die Existenz eines echten demokratischen Regimes würde die Vormachtstellung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und damit letztlich die Stabilität des Landes gefährden. So verhinderte die Niederlage der „Regenschirm-Revolution“, dass die Führer*innen dieses Territoriums in allgemeiner Wahl gewählt wurden, wie es die Bewegung verlangt hatte.
Um die demokratischen Bestrebungen der Bevölkerung endgültig zu beseitigen, kam Peking auf zwei langfristige Strategien zurück. Die erste bezieht sich auf die Intensivierung der wirtschaftlichen und infrastrukturellen Integration des weiteren Gebiets des Perlflussdeltas, zu der Hongkong, Macau und neun Städte der Provinz Guangdong (Guangzhou, Shenzhen, Zhuhai, Foshan, Zhongshan, Dongguan, Huizhou, Jiangmen und Zhaoqing) gehören. Der Ballungsraum soll mit den wichtigsten ausländischen Technologiezentren konkurrieren und den Plan „Made in China 2025“ unterstützen, mit dem sich die Volksrepublik China im High-End-Industriebereich etablieren will.
Die Integration der Infrastruktur erleichtert seinerseits den Umzug von Bürgern Hongkongs nach Festlandchina. Fünfzigtausend Menschen haben bereits auf die Vorteile Hongkongs verzichtet, angezogen von den größeren und billigeren Immobilien. Umgekehrt steigen auch die Investitionen wohlhabender Chines*innen der Volksrepublik China in den Hafen von Hongkong. Beide Bewegungen könnten schließlich das Zugehörigkeitsgefühl zur Stadt schwächen und damit die Souveränität Pekings stärken, was jedenfalls die Wette der KPCh-Bürokratie ist.
Die zweite Strategie besteht in der Wiederbelebung Hongkongs als Finanzzentrum, im Rahmen der Initiative „Neue Seidenstraße“ („One Belt, One Road“ / „Belt and Road“), der von Xi Jinping unterstützten Infrastruktur- und Wirtschaftsinitiative, zum Ausbau der Verbindungen zwischen der Volksrepublik und Eurasien.
Der Konsens der lokalen Wirtschaftselite hängt vom Wohlstand der Region ab. Daher ist es notwendig, Hongkong den Status einer „großen Verbindung“ zwischen China und dem Rest der Welt zu garantieren. Es ist wichtig im Hinterkopf zu haben, dass die Bedeutung Hongkongs durch die Integration der Städte Festlandchinas in die Weltwirtschaft zwar abgenommen hat, aber die „Privilegien“, die sie immer noch genießt (Verhandlungen mit flexibleren Regeln, Aufnahme von Auslandskapital auf unterschiedliche Weise und die Zulassung von mehr Freizügigkeit, für die wichtigen Ausländer, im Vergleich zu China), machen sie zu einer notwendigen Brücke zwischen China und dem Rest der Welt. Sein Verlust würde bedeuten, einen wesentlichen Kanal für die Interaktion mit der Weltwirtschaft zu verlieren. Aber wenn die chinesische Bürokratie auch versucht, diese Verbindungen zu ihrem Vorteil zu nutzen, hat das internationale Kapital immer einen großen Einfluss. Einige der erneuerten Institutionen aus der Kolonialzeit können als Mittel dienen, um Chinas Staat und Kapital in Richtung einer größeren Liberalisierung zu disziplinieren, wie es das westliche Kapital verlangt.
In diesem Zusammenhang war die starke Opposition der wichtigsten Kapitalist*innen gegen das Auslieferungsgesetz, das die kapitalistische Stabilität der großen Kolonie bedrohte, für Xi Jinping eine zentrale Sorge. Bislang waren Konflikte zwischen ihnen Teil eines Machtkampfes hinter den Kulissen. Die beschleunigte Entwicklung der Vorrechte Pekings hat einen Bruch im Bündnis der chinesischen Regierung mit den großen Kapitalist*innen und einem zentralen Teil der Mittelklasse eröffnet, einem Bündnis, das Hongkong seit der Rückkehr unter chinesische Autorität im Jahr 1997 regiert. Während das Interesse der bedeutenden lokalen Gruppen, als Nutznießerinnen der kapitalistischen Entwicklung Hongkongs, auf den Status quo ausgerichtet ist, wird die Konsolidierung der Kontrolle Pekings dem chinesischen Staat und den chinesischen Kapitalist*innen zugute kommen, aber sie wird nicht im Geringsten den Interessen der chinesischen arbeitenden Massen dienen.
Die größten Ereignisse in der Geschichte der ehemaligen Kolonie
Die aktuellen Mobilisierungen haben die von 2014 weit übertroffen. Es sind die wichtigsten in der Geschichte der ex-Kolonie. Sie stehen im Einklang mit bestimmten Merkmalen der „Regenschirm-Revolution“, genauso wie mit ihrer Radikalisierung. Das ist, was mehrere Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen bekunden.
Der Aktivist und Analytiker Au Loong Yu sagt, dass
„wir in dieser Bewegung 2019 die Fortsetzung einer bereits sehr sichtbaren Tendenz des Jahres 2014 erleben, nämlich den starken Sinn für dezentrale und führungslose Aktionen. Die Kommunikationsrevolution macht die Koordination jetzt viel einfacher und eine starre Organisation weniger notwendig. Doch es gibt eine Art Spontaneitäts-Fetischismus unter jungen Aktivist*innen. Viele halten die Organisation einfach für überflüssig oder unbedingt autoritär. Selbst das relativ neue Demosistō, das von Joshua Wong[einem 22-jährigen Aktivisten, der während der „Regenschirm-Revolution“ an Bedeutung gewonnen hat]gegründet wurde und geleitet wird, erscheint für die heutige Jugend nicht attraktiv genug. Heute kann Jede*r ein*e zeitweilige*r Führer*in sein und radikales Handeln fordern, ohne die Vor- und Nachteile abzuwägen.“
Chun-Wing Lee, Mitglied der sozialistischen Gruppe Left21 und Chefredakteur von The Owl sagt:
„Der Aufstieg des ‚Lokalismus‘ und das Misstrauen gegenüber Organisationen sind meiner Meinung nach die wichtigsten negativen Folgen der Regenschirm-Bewegung. Aber die Erfahrung der Konfrontation mit der Polizei auf den Straßen im Jahr 2014 stärkte deutlich das Machtverständnis vieler Aktivist*innen, und immer mehr Menschen wurden offen für radikale Aktionen auf den Straßen. Ohne eine solche Änderung, die zum Teil ein Vermächtnis der Regenschirm-Bewegung ist, wären die Demonstrant*innen wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, die Gebiete um den Legislativrat zu besetzen, was zur Absage seiner Sitzung führte.“
Ideologisch distanzierter als die Vorangegangenen, bemerkt der Korrespondent der konservativen französischen Tageszeitung Le Figaro:
„Ohne Führung stützt sich die Bewegung auf die horizontale Macht sozialer Netzwerke, einschließlich des verschlüsselten Nachrichtensystems Telegram, um Informationen zu teilen und zu verteilen, ohne dass die Polizei es merkt. Ein Hightech-Kampf, der von Pekinger Hackern ernst genommen wurde, die am Mittwoch einen beispiellosen Angriff auf die App starteten, als Studenten das Gebäude des Legislativrates umgaben, um die Behandlung des abgelehnten Gesetzestexts zu blockieren. Eine entschlossene Aktion, die eine starke Reaktion der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen hervorrief. Eine seltene Gewalt in dieser Stadt, die das Establishment erschüttert hat, bis ins Herz der Macht, und die Angst vor einem tödlichen Ergebnis entfacht. Diese massive Antwort steht im Gegensatz zu dem Pazifismus, den die Anführer*innen der ‚Regenschirm-Bewegung‘ vertraten … Die ‚Schirme‘ sind gehärtet und zementieren hinter den Kulissen der Aussöhnung zwischen jenen ‚Lokalisten‘, welche die Methoden der Konfrontation unterstützten, die bei den Demonstrationen 2016 genutzt wurden und dem pazifistischen Herzen der Bewegung. ‚Wir haben beschlossen, uns nicht mehr gegenseitig zu kritisieren. Wir ergänzen uns. Wenn es darum geht, der Polizei gegenüberzutreten, stellen sie sich an die vordere Front. In der Zwischenzeit ergreifen wir offene Maßnahmen, um die Öffentlichkeit zu erreichen‘, erklärt Poly.“
In diesem Kontext verhindert das Fehlen eines Organs der Selbstorganisierung, als Folge der Anbetung der Spontaneität, jede demokratische Debatte über die Ziele und Aktionen der Bewegung, sowie ihre Fähigkeit, gegen die Provokateur*innen der Regierungen von Hongkong und Peking zu kämpfen. Die Aktion gegen das Parlament, die nicht einmal während der Sitzung stattfand, war offensichtlich abenteuerlich, und gegen sie wurde die brutale Repression losgelassen. Aber was an dieser radikalen Aktion überrascht, ist, dass sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder von der überwiegenden Mehrheit der Massen gut aufgenommen wurde. Zugleich hat die Unzufriedenheit mit der Polizei zugenommen. Generell erleben wir die Geburt einer neuen politischen Generation, die durch Sprünge politisiert und radikalisiert wird. Wie Au Loong Yu sagt:
„Die Generation der ‚Regenschirme‘ stellt in Bezug auf die kulturelle Identität einen Bruch mit der älteren Generation dar: Sie identifizieren sich heute eher als Hongkonger*innen, denn als Chines*innen. Und dahinter verbirgt sich die emotionale Bindung zu Hongkong, die der älteren Generation fehlt. Was die ‚Regenschirm-Generation‘ auszeichnet ist, dass sie begonnen hat, solches Engagement zu entwickeln und politisiert wurde, als die Regierung ihre Forderung nach allgemeinem Wahlrecht ablehnte. In diesem Jahr hat Chinas Auslieferungsgesetz eine noch jüngere Generation politisiert. Ich erinnere mich, dass die Leute am letzten Tag der Regenschirm-Bewegung ein riesiges Banner aufhängten, auf dem stand: ‚Wir werden zurückkommen.‘ Diese Prophezeiung ist wahr geworden.“
Hinter der demokratischen Mobilisierung steht eine wachsende soziale und existentielle Angst
Der massive Zustrom von Festlandchines*innen hat die soziologische Struktur der Bevölkerung grundlegend verändert. Viele wohlhabende Chines*innen kaufen in Hongkong Immobilien, um eine Aufenthaltserlaubnis und einen Pass zu erhalten, der es ihnen erlaubt, ohne Visum in den Westen zu reisen. Heute ist mindestens jeder siebte in Hongkong lebende Mensch in Festlandchina geboren. All diese Bewegungen haben die bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten im Territorium verschärft. Wie Frédéric Lemaître, der Korrespondent von Le Monde in Peking, schreibt:
„Ein Haus zu kaufen ist für Kinder aus der Mittelschicht unmöglich. Im Gegensatz zu dem, was die bezaubernde Landschaft der Hongkonger Bucht vermuten lässt, ist das Leben oft schwierig und die Zukunft, sowohl politisch als auch wirtschaftlich, scheint für viele ihrer Bewohner düster. In einem solchen Fall ist die Krise in Hongkong tatsächlich existentiell.“
Denn sie haben nicht die gleichen Mittel wie die herrschenden Klassen, um Lösungen außerhalb des Territoriums zu finden, zum Beispiel mit einem zweiten Pass. Der oben genannte sozialistische Aktivist bestätigt diese Situation:
„…die junge Mittelschicht, insbesondere die freien Berufe, hat ihre wachsende Unzufriedenheit mit der Regierung zum Ausdruck gebracht. Während die Befürchtung, dass die relativ liberale Lebenswelt Hongkongs gefährdet sein könnte, einer der Hauptgründe ist, ist es unbestreitbar, dass der Anstieg der Lebenshaltungskosten, insbesondere der Wohnkosten, ein weiterer Faktor ist. Seit 2003 versucht die chinesische Regierung, das Bündnis zu stabilisieren, indem sie den Wert der Vermögen in Hongkong erhöht. Kapital aus Festlandchina ist eine der Ursachen für das Wachstum des Immobilienmarktes und des Aktienmarktes. Aber diese Strategie der Regierung hat sich eindeutig gegen sie gewandt, da es für junge Menschen immer schwieriger wird, eigenen Wohnraum zu kaufen. Die junge Mittelschicht und die Studierenden sind zum Eckpfeiler der oppositionellen Kräfte in Hongkong geworden.“
Allerdings gibt es in der aktuellen Bewegung eine signifikante Klassengrenze. Wie Au Loong Yu erklärt: „Die Mobilisierung auf der Straße gegen den Gesetzentwurf zur Auslieferung an China ist hauptsächlich das Ergebnis ihrer Arbeit. Wenn sie es jedoch versäumen, ihre Politik in eine linke demokratische Richtung zu entwickeln und ihre Fragmentierung zu überwinden, riskieren sie die Fähigkeit sich zu einer starken progressiven Kraft zu konsolidieren. Außerdem dominiert bei jungen Aktivist*innen nach wie vor weitgehend die Betonung von medienwirksamen Aktionen, einem Vermächtnis des liberalen Pan-Demokratie-Lagers, so dass nicht nur langfristige organisatorische Anstrengungen oft vernachlässigt werden, sondern auch eine Gleichgültigkeit gegenüber der katastrophalen Situation der Arbeiter*innen existiert. Viele Leute bitten die Arbeiter*innen jetzt, in den Streik zu treten, aber es war kein Erfolg. Sie behandeln die Arbeiter*innen einfach wie eine Art ‚Instant-Nudeltopf‘: Sie müssen nur eine Bestellung aufgeben und die Bedienung liefert sie Ihnen sofort. Hongkongs historische Entwicklung macht es zu einer Stadt, die den Werten der Linken, Solidarität, Brüderlichkeit und Gleichheit, feindlich gesinnt ist. Eine sozialdarwinistische Kultur, das Ergebnis von mehr als 150 Jahren Leben als Freihafen, hat die Bevölkerung so weit durchdrungen, dass es für linke Kräfte schwierig ist, sich dort zu entwickeln. Um dies zu erreichen, müssen junge Aktivist*innen anfangen, sich mit Klassenfragen zu befassen.“
Hongkong: ein Stein in Xis bonapartistischem Schuh
Aus der Sicht der Massenbewegung sind die Widersprüche groß, und die Pekinger Behörden haben keine leichte Aufgabe. Angesichts der egoistischen Vision seiner Führer*innen, die einen überschwänglichen Nationalismus propagieren, befindet sich China heute in einer ganz anderen Position als noch vor zehn Jahren. Die globale Krise des Jahres 2008 schwächte die Position Chinas als Exporteur. Seitdem hat die staatliche Führung versucht, den Inlandskonsum zu steigern, ihr Finanzsystem zu kontrollieren und das langsamere Wachstum zu bewältigen, ohne eine schwere politische und soziale Krise zu verursachen. Die Machtkonzentration und die Änderungen der Regeln der Nachfolge – die es ihm ermöglichen, auf unbestimmte Zeit zu regieren – haben Xi Jinping in einen Führer verwandelt, der mehr Macht und Fähigkeit zur Durchsetzung seines Willen besitzt, als jeder andere chinesische Führer seit Deng Xiaoping. Aber der Bonapartismus chinesischer Prägung ist Ausdruck jenes harten Übergangs, der sich für die kommenden Jahren abzeichnet, wo angesichts des rasanten Anstiegs der Inlandsverschuldung eine Reihe schwieriger Entscheidungen getroffen werden müssen, die ihn auf die Probe stellen werden, ebenso wie die Rolle Chinas in der Welt.
Aus diesem Blickwinkel sind die massiven Mobilisierungen der Bevölkerung Hongkongs die erste signifikante Reaktion auf die autoritäre Wende, seit Xis Machtübernahme im Jahr 2012. Sie sind ein Stein in Xis bonapartistischem Schuh. Willy Lam von der Chinesischen Universität Hongkong sagt:
„Xi Jinping versucht, das Bild eines Supernationalisten zu vermitteln. Die Affäre um Hongkong untergräbt dieses Bild, der Führer von 1,4 Milliarden Chines*innen ist nicht in der Lage, ein Gebiet mit 7 Millionen Einwohner*innen zu kontrollieren.“
Andererseits versprechen die Ereignisse in Hongkong für die Präsidentin Taiwans von der Progressiven Demokratischen Partei (PDP), Tsai Ing-wen, eine Wiederwahl im nächsten Jahr. Angesichts des Fehlens einer Klassenalternative wird diese Partei von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung als geringeres Übel angesehen, und ihre Kandidatin – die derzeitige Präsidentin – gilt als die tragfähigste Person, um sich China zu widersetzen. Diese bürgerliche Partei hat aufgrund ihrer arbeiter*innenfeindlichen Politik, seit ihrer Machtübernahme, eine massive Niederlage bei den Kommunalwahlen erlebt, aber rechtspopulistische Varianten wie Han Kuo-yu und Foxconn-CEO Terry Guo, die beide als extrem chinafreundlich gelten und von der KPCh weitgehend bevorzugt werden, verlieren an Boden. Ein zweiter Wahlsieg der PDP würde eine neue Niederlage für die Strategie der Pekinger Führer*innen gegenüber Taiwan bedeuten.
Unmittelbar vor und angesichts der entscheidenden handelspolitischen Verhandlungen auf dem G20-Gipfel in Japan, schwächen die unerwarteten Ereignisse in Hongkong die Position Chinas in seinem „Handelskrieg“ mit den Vereinigten Staaten. Die erneute Benutzung des Banners der Menschenrechte, sowie das Ende der wirtschaftlichen Zugeständnisse der USA für Hongkong, wenn es zu einer Änderung von dessen derzeitigen Status käme, wurden als neue Bedrohungen seitens der Trump-Administration gegenüber einer zunehmend unter Druck stehenden chinesische Macht genutzt. Um auf Hongkong zurückzukommen, ist dies die größte politische Krise seit der Angliederung an China, und sie ist noch lange nicht abgeschlossen. Peking kann den Teilsieg der Demonstrant*innen nicht zulassen, der ein gefährlicher Präzedenzfall wäre und zeigen würde, dass eine ausreichend große Massenmobilisierung den asiatischen Riesen zurückdrängen kann.
In Hongkong wollen die ermutigten Massen noch weiter gehen. Wenn trotz der Aussetzung des Gesetzes die Radikalisierung nicht aufhört, wie die Behörden Hongkongs und Chinas hoffen, könnte Peking zu einer extrem repressiven Lösung neigen, mit unvorhersehbaren Folgen sowohl lokal, in China, als auch international. Die offene Drohung des Tian’anmen-Massakers zu dessen 30. Jahrestag lässt keinen Zweifel an der wahrscheinlichen Haltung der chinesischen Behörden aufkommen. Aber damals wandte sich der Westen de facto ab, interessiert an der Marktöffnung Chinas. Im neuen geopolitischen Kontext der strategischen Rivalität zwischen Washington und Peking wäre die Reaktion eindeutig eine andere. Eine unabhängige Strategie der Arbeiter*innen muss sich einen Weg durch all diese Überzeugungen und Interessen bahnen. Die Verbindung zwischen der Lösung des Klassenproblems bei der Mobilisierung der Massen in Hongkong, mit dem proletarischen und demokratischen Erwachen der chinesischen Massen, das unter Pekings Medienblockade stattfindet, wird die einzige progressive Lösung sein.