Wohlstand statt Klassenkompromiss und Klimakrise
Der Klimawandel als Chance für die Abkehr von der Sozialpartnerschaft? Ein Gastbeitrag von Johannes Gress.
In der deutschen Politik lässt sich derzeit ein seltenes Naturphänomen beobachten. Der „kleine Mann“, einstweilen auch die „kleine Frau“, ist wieder von Relevanz. Er wird geradezu umgarnt, umschwärmt und verhätschelt. Das ist immer wieder Mal der Fall – vor allem in Vorwahlzeiten –, aber wohl selten so konstant und beharrlich wie in den vergangenen Monaten. Das Schreckgespenst Gelbwesten geht nach wie vor um und es lehrte deutschen Politikerinnen und Politikern eindrucksvoll: Klimaschutz ist auch eine soziale Frage.
Die Klimakrise ist zunächst einmal keine Krise des Klimas, sondern eine Krise der Menschen, ein existenziell bedrohliche noch dazu. Uns bleiben noch rund elf Jahre Zeit, um unseren Emissionsausstoß radikal zu senken, ansonsten könnte die Zukunft für unsere Spezies sehr ungemütlich werden. Das ungefähre Ausmaß der Bedrohung ist mindestens seit dem Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972 bekannt, seit dem IPCC-Bericht vom Oktober vergangenen Jahres in erschreckender Genauigkeit.
Doch scheint es neben einer intakten Umwelt noch eine weitere existenzielle Bedingung menschlichen Seins zu geben: Wirtschaftswachstum. Wachstum, so lautet zumindest das Dogma der Mainstream-Ökonomie und Politikerinnen und Politikern aller Couleur, bedeutet Wohlstand. Nur wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) größer ist als im Jahr zuvor, geht es uns auch allen gut – und somit zukünftig auch immer besser. An diesem Wohlstand soll auch der „kleine Mann“ teilhaben dürfen: derzeit vor allem in Form von Schnitzeln, Malle-Flügen und Flachbildfernsehern.
Seit jeher galt die materielle und symbolische Einbindung der Subalternen, also der „kleinen“ Männer und Frauen, als Garant zur stillen Beilegung des Klassenkonflikts: Ja, die da oben haben ziemlich viel, aber dafür bekommt ihr da unten ja auch ein beträchtliches Stück vom Kuchen. Derzeit nähert sich die Logik dieses faulen Kompromisses ihrer natürlichen Grenze. Der globale Ressourcenverbrauch muss innerhalb der nächsten Jahre drastisch reduziert werden, um den Kollaps noch abzuwenden – ein beständiges Mehr an Schnitzeln, Malle-Flügen und Flachbildfernsehern wird zukünftig nicht drin sein.
Die Frage sozialer Gerechtigkeit wurde lange, zu lange auf Kosten der Umwelt gelöst. Doch indem die Klimakrise die soziale Frage neu aufwirft, stellt sie gleichzeitig auch die Systemfrage: Ist unendliches wirtschaftliches Wachstum möglich? Falls nein, lässt sich dann der Klassenkompromiss auf diese Art und Weise überhaupt noch aufrechterhalten? Und falls auch hier die Antwort Nein lauten sollte: Was heißt das für das Fortbestehen des Kapitalismus an sich?
Die bürgerliche Leistungsethik steht Kopf
Große Fragen, also der Reihe nach.
Neben der plötzlichen Sorge um den „kleinen Mann“ lässt sich derzeit ein weiteres Phänomen beobachten: In Sphären der Ökologie werden die Werte und Normen der bürgerlichen Leistungsethik auf den Kopf gestellt. So heißt es doch da: Wohlstand habe sich einer vor allem durch Leistung verdient. Jeder habe seinen Wohlstand individuell zu erarbeiten. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, wenn er nur will. Leistung, Disziplin, Verzicht und Mäßigung sind die Koordinaten in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wie der unsrigen. Symptomatisch steht hierfür die gern bemühte Formel in wirtschaftlichen Krisenzeiten: Da müsse man den Gürtel eben enger schnallen. Was muss, das muss.
Ganz anders beim Thema Umweltschutz. Wer hier auf Mäßigung und Disziplin pocht, beispielsweise ein Tempolimit fordert, steht schnell im Verdacht, „gegen jeden Menschenverstand“ (Andreas Scheuer) zu agieren. In der Ökologie ist die vielbemühte Disziplin ebenso wie die Mäßigung offensichtlich fehl am Platz. Vor allem die Grünen können davon ein Liedchen singen, wird man offensichtlich umgehend zur „Verbots-Partei“, sollte man auch nur einen Gedanken daran verschwenden, einen fleischfreien Tag pro Woche einfordern zu wollen. Überhaupt, die Grünen: Die Partei, die derzeit am konsequentesten fordert, die Umweltziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten – und dabei, nebenbei bemerkt, alles andere als radikal vorgeht –, steht schon seit langem im Verdacht, einen Art grünen Öko-Sozialismus durch die Hintertür einführen zu wollen. Die Geschwindigkeit, mit welcher Scheuers Gesinnungsgenossen in seiner Argumentation hier von Tempolimit über Verbotspartei zum drohenden Stalinismus rauschen, ist atemberaubend. In einer Gesellschaft, in der Freiheit in erster Linie Konsumfreiheit bedeutet, gleicht jede ökologische Forderung einem Eingriff in die Freiheit per se.
„Ökologisch-ökonomische Wachstumszange“
Dass die Klimafrage auch eine soziale Frage ist, stellte unlängst der chirurgische Eingriff namens Klimapaket eindrucksvoll unter Beweis. Deutschland hinkt in Sachen Klimaschutz meilenweit hinterher. Man möchte meinen, nach Fridays For Future und den Wahlerfolgen der Grünen sollte auch bei Union und SPD angekommen sein, dass man die Sache mit dem Klima demnächst etwas engagierter angehen soll, um nicht völlig die großkoalitionäre Seinsberechtigung entzogen zu bekommen. Man möchte meinen. Das Resultat ist bekannt: Eine CO2-Steuer, die ihren Namen ohnehin nicht verdient, und zur Beschwichtigung eine Erhöhung der Pendlerpauschale. Klima, recht und schön, ist auch schlimm, aber man will ja auch niemanden vergraulen, schon gar nicht den „kleinen Mann“.
Die Klimafrage ist aber auch noch auf eine andere Art eine soziale Frage, eine Frage der Klimagerechtigkeit. Die reichsten zehn Prozent der Welt, so fand unlängst eine Oxford-Studie heraus, produzieren rund 50 Prozent aller Emissionen. Reiche fahren dickere Autos, fliegen häufiger, konsumieren mehr und wohnen in größeren Häusern oder Wohnungen. Da hilft es auch nicht, wenn der ein oder andere Großgrundbesitzer im Supermarkt Mal zum etwas teureren Bio-Apfel greift.
Gleichzeitig bekommt der wirtschaftlich schlechter gestellte Teil der Bevölkerung die Folgen der Umweltbelastungen am deutlichsten zu spüren. Das gilt in Deutschland, wo Prekarisierte in jenen Stadtvierteln mit weniger Grün- und mehr Verkehrsflächen wohnen und die Luft sich dementsprechend atmen lässt. Und das gilt vor allem global: In jenen Gegenden, die in viel stärkerem Maße von der Natur abhängig sind, beispielsweise in Form von Landwirtschaft und Fischerei. In vielen Teilen der Welt ist mit der sich zuspitzenden Klimakrise ein subsistenzwirtschaftliches Auskommen schlicht unmöglich geworden.
Klaus Dörre, Soziologe am Kolleg für Postwachstumsgesellschaften an der Universität Jena, spricht in diesem Zusammenhang von einer „ökologisch-ökonomischen Wachstumszange“. Mehr geht nicht, aber weniger auch nicht. Ein stetig steigender Ressourcenverbrauch lässt sich auf Dauer nicht mit einer intakten Umwelt vereinbaren. Und gleichzeitig braucht es, so Dörre, ebendiesen, um sich nicht der Gefahr von Wirtschaftskrisen und sozialen Unruhen auszusetzen. Jede ökologische Forderung ist eine Anmaßung für den Fortbestand des Bestehenden.
„Wer glaubt, unendliches Wachstum in einer endlichen Welt sei möglich“, sagte der Ökonom Kenneth Boulding, „ist entweder verrückt oder Wirtschaftswissenschafter.“ Sollte sich dieses Zitat bewahrheiten, haben wir es derzeit mit einer Horde von Verrückten in ziemlich verantwortungsvollen Positionen zu tun (die noch dazu von Ökonomen beraten werden). Aus diesen Reihen wird schon seit längerem ein Allheilmittel propagiert: der technologische Fortschritt. Alles kann so bleiben wie bisher, effizientere Produktionsweisen, grüner Konsum und allen voran die Elektromobilität versprechen den Beibehalt der Schnitzel-Malle-Flachbild-Mentalität – ad infinitum!
Dieses Argument hat zwei sehr zutreffende Komponenten. Zum einen produzieren wir dank technologischem Fortschritt in der Tat wesentlich effizienter als früher. Zum anderen wird es wohl in der Tat bald möglich sein, mittels Geo-Engineering beispielsweise Schadstoffe aus der Luft zu nehmen oder Wolken von oben zu besprühen, die dann durch die Reflektion des Sonnenlichts der Erderhitzung entgegensteuern.
Doch beide Argumente erzählen nur die halbe Wahrheit. Im Jahr 1965 betrug die Kohlenstoffintensität der Weltwirtschaft etwa 760 Gramm CO2 pro US-Dollar, bis zum Jahr 2015 fiel sie auf knapp unter 500 Gramm. Es wurden also in der Tat rund 35 Prozent eingespart – und trotzdem ist der Schadstoffausstoß gegenüber 1990 bis heute um 60 Prozent gestiegen. Mag eine relative Entkopplung der Emissionen vom Wachstum geglückt sein – eine absolute Entkoppelung ist bloße Augenwischerei. Und was das Thema Geo-Engineering betrifft: Im Modell des IPCC-Berichts vom Oktober 2018 wird davon ausgegangen, dass solche Technologien in Zukunft noch entwickelt werden. Das bedeutet, dass wir zukünftig künstlich CO2 aus der Atmosphäre nehmen – obwohl diese Technologien noch nicht entwickelt sind –, ist in diese Kalkulation bereits miteingeflossen. Geo-Engineering ist kein nice-to-have, sondern ein must-have.
Wenn die Regulation des Klassenkonflikts bisher nur durch einen äußerst ressourcenintensiven Klassenkompromiss möglich war, unser Ökosystem einem Weiter-so-wie-bisher allerdings nicht standhält und eine technologische Lösung der Krise illusorisch erscheint, müssen neue Wege gefunden werden, die ökologische Frage – die eine ökologisch-soziale ist – zu lösen.
Wohlstand radikal neu denken
Wenn materieller Massen-Wohlstand durch immerwährendes Wachstum ausscheidet, bestünde eine naheliegende Möglichkeit darin, bereits bestehenden materiellen Wohlstand radikal umzuverteilen. Das käme ziemlich nahe an das heran, was derzeit als Schreckgespenst Öko-Sozialismus durch die Debatte geistert. Man denke nur an die medial verbreiteten Panikschübe politischer und wirtschaftlicher Eliten, als es Juso-Chef Kevin Kühnert in einem ZEIT-Interview wagte, laut über Enteignung nachzudenken. Es bliebe also zu fragen, inwiefern das in letzter Instanz noch einer Kompromittierung der Subalternen gleicht – besteht die Intention der Hegemonie der Herrschenden doch gerade darin, bestehende gesellschaftliche Hierarchien aufrechtzuerhalten und dabei nicht radikal umverteilen zu müssen.
Weitaus interessanter, aber eng damit in Zusammenhang stehend, ist meiner Meinung nach die zweite Möglichkeit: den Begriff Wohlstand radikal neu denken.
Wohlstand ist heute gleichbedeutend mit materiellem Wohlstand. Wohlstand bedeutet, vor einem prall gefüllten Regal zwischen zwölf Sorten Tomatenketchup auswählen zu dürfen. Wohlstand lässt sich messen an der magischen Zahl namens BIP und an der Anzahl Flachbildfernseher pro Haushalt. Wohlstand ist aufs engste mit intensivem Ressourcenverbrauch verknüpft, denn Wohlstand bedeutet vor allem: mehr.
Eine Bearbeitung der Klimakrise kann nur mit einer radikalen Infragestellung des bisherigen Wohlstandsbegriffs gelingen – und muss daher zwingend eine Transformation der bisherigen gesellschaftlichen Produktions- und Lebensweise nach sich ziehen. Eine Abkehr von ressourcenintensivem Wirtschaften kann nur gelingen, wenn wir neue Vorstellungen vom „guten Leben“ entwickeln. Das betrifft neben der Ökologie auch alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Wenn Wohlstand an sauberer Luft und sinkender Wochenarbeitszeit statt an BIP und PS gemessen wird, wäre schon viel gewonnen.
Das wirkt im Lichte des Status quo utopisch, ja. Und für Andreas Scheuer mag das ein „Ansatz der ständigen Gängelung“ sein, wenn es plötzlich uncool wird, mit dem BMW über die A8 zu heizen. Aber, um im Scheuer’schen Jargon zu bleiben, je weniger wir uns jetzt gängeln, umso mehr müssen wir uns in zehn Jahren gängeln. Und in 20 Jahren gängeln wir uns nicht mehr selbst, sondern werden gegängelt – von Naturkatastrophen und einer Umwelt, die uns sukzessive unserer Lebensgrundlage beraubt. Selbst die Beibehaltung des Status quo wirkt im Lichte des Status quo utopisch. Die eigentliche Utopie ist das Beharren auf dem Bestehenden, der naive Glaube, dass alles so weitergehen kann wie bisher – nicht der Wunsch nach Veränderung.
Dass sich Scheuer und Co. plötzlich um die PS-Freiheit des „kleinen Mannes“ scheren, mag wohl weniger daran liegen, dass er und seine Gesinnungsgenossen plötzlich ihre soziale Ader entdeckt haben, sondern vielmehr daran, dass der „kleine Mann“ konsumieren muss, um die wachstumsfetischistische Maschinerie überhaupt in Gang zu halten. Um die bestehende Ordnung zu bewahren, umgarnen die Eliten die Subalternen, indem sie die propagierte Freiheit und den Umweltschutz gegeneinander ausspielen.
In der bürgerlich-kapitalistischen Ideologie ist Freiheit auch deshalb so untrennbar an Konsumfreiheit gekoppelt, weil die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Machthierarchien essentiell vom wirtschaftlichen Wachstum abhängt. Nur solange der Masse sozialer und wirtschaftlicher Aufstieg potentiell möglich erscheint, kann, wie Erich Fromm schreibt, die „demokratische Autoritätsstruktur aufrecht erhalten werden“. Mag Marketing und Werbung in erster Instanz dem Profit dienen, ist es genau die daraus folgende symbolische Überladung des Materiellen, die das permanente Streben des Einzelnen nach materiellem Wohlstand am Leben erhält. Und damit auch die demokratische Autoritätsstruktur.
Ein Frage der Macht
Ein Umdenken des Wohlstandsbegriffes würde an den Grundfesten unserer gesellschaftlichen Machstrukturen rütteln. Wenn der „kleine Mann“ plötzlich nicht mehr mit protzigen SUVs abzuspeisen ist, der ressourcenintensive Klassenkompromiss damit de facto nicht mehr an Wirtschaftswachstum gekoppelt ist, stellt das die Logik des Systems an sich auf den Prüfstand.
Selbst die ureigenste Institutionalisierung des Klassenkompromisses, ein Sozialstaat mitsamt Transferleistungen, wäre so nicht mehr aufrechtzuerhalten. Krankenversicherungen und Rentensysteme, die Finanzierung öffentlicher Einrichtungen, ja die Grundfeste unseres Staates hängen maßgeblich von wirtschaftlichem Wachstum ab. Nicht zuletzt durch die Mitgliedschaft in der EU hat sich jeder Mitgliedsstaat vertraglich zum Wirtschaftswachstum verpflichtet.
Doch derzeit wird mehr als eindeutig offenbar, dass mehr Wachstum nicht automatisch mehr Wohlstand bedeutet. Mit jeder Tonne CO2, die in die Luft geblasen wird, steigt das Risiko für noch mehr Hitzesommer, Dürren, Waldbrände, Überschwemmungen und Ernteausfälle. Das zeigt die eigentliche Absurdität der Warnungen, die von AfD bis weit hinein in die Sozialdemokratie reichen, dass Klimaschutz immer auch einen potentiellen „Wohlstandsverlust“ mit zu berücksichtigen habe.
Diese Überlegungen zu einem radikalen Überdenken unserer Vorstellung „guten Lebens“ sind nicht neu. Doch seit sich die Klimakrise immer dramatischer zuspitzt, mehren sich die Forderungen in diese Richtung. Nicht umsonst fragen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fridays For Future-Proteste: Wieso soll ich für eine Zukunft lernen, die es vielleicht bald gar nicht mehr gibt?
Der Kampf gegen die Klimakrise ist keine reine Kopfsache. Ein Überdenken des Wohlstandsbegriffs ist zunächst einmal ein Denken, kein politischer Akt. Dass Wohlstand in unserer Gesellschaft vor allem materieller Wohlstand bedeutet, ist fest in die bürgerlich-kapitalistische Ideologie und in die dazugehörigen Apparate eingeschrieben – und damit keine reine Kopfsache, sondern eine Frage von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, letztlich Eigentumsverhältnissen. Somit ist die Frage nach dem „guten Leben“ auch ein Kampf um materielle Verteilung und um eine Restrukturierung der Macht-, Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse. Es gilt zu erkennen, dass nicht unendliches Wachstum, sondern einzig unsere ökologische Lebensgrundlage alternativlos ist.
Dieser Gastbeitrag erscheint in unserem Offenen Forum. Unser Autor Robert Müller gibt in seinem Artikel „Klimawandel und die soziale Frage: Über wessen Wohlstand reden wir?“ eine Antwort auf einige der hier aufgeworfenen Aspekte.