Wohin geht die Arbeit? Anmerkungen zur globalen Arbeiter:innenklasse

08.08.2023, Lesezeit 70 Min.
Übersetzung:
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Foto: Simon Zinnstein

Wieso uns nicht die Automatisierung die Arbeit raubt, wie das Wachstum der Dienstleistungs- und Logistikbranchen unsere Arbeitswelt verändert und welche strategische Rolle die Arbeiter:innen in Pflege und Bildung haben können – das und noch mehr beleuchten Gastón Gutiérrez Rossi und Paula Varela.

Als wir die Einladung der Zeitschrift Corsario Rojo erhielten, uns mit einem Artikel „über die Lage der Arbeiter:innenklasse weltweit“ zu beteiligen, stellte sich sofort eine Frage: Wie kann man ein so breites und vielfältiges Panorama mehr oder weniger interessant zusammenfassen, ohne in die Wiederholung von Weltbank- und IAO-Statistiken zu verfallen – die übrigens für diejenigen unter uns, die die Arbeiter:innenklasse „aus einer marxistischen Perspektive heraus“ betrachten, starke methodische Verzerrungen und theoretische Einschränkungen aufweisen? Wir fanden keine einfache Antwort, denn die „Krise der Arbeit“ wird aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und ein Röntgenbild der heutigen Arbeitswelt lässt sich nicht auf die Erklärung eines einzigen empirischen Trends reduzieren, ohne in einseitige Betrachtungen zu verfallen.

Aus diesem Grund erschien uns angebracht, zunächst zu unterscheiden, welche Elemente Teil des aktuellen prokapitalistischen Diskurses sind und daher falsche Debatten darstellen (zum Beispiel die Wiederkehr der Idee vom „Ende der Arbeit“) und welche wirklich neue Probleme aufwerfen. Dieser Artikel geht also einer Reihe von Debatten nach (unter Berücksichtigung von kontextuellen, theoretischen und empirischen Argumenten) und kann als „kleine Landkarte“ verstanden werden. Als ein Instrument, das dabei hilft, die Stärken und Schwächen der heutigen Arbeiter:innenklasse theoretisch und empirisch zu untersuchen.

Das unendliche Lebewohl

Es gibt Abschiede, die niemals enden. Der des Proletariats scheint einer davon zu sein. Zyklisch tauchen „Abschiedsbotschaften“ von der Arbeiter:innenklasse auf1. Immer wieder, und erst recht in Krisenzeiten des Kapitalismus, in denen es nicht viele Arbeitsplätze gibt, tauchen verschiedene Erzählungen auf, die behaupten, dass die menschliche Arbeit tendenziell entbehrlich wird. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dies zu begründen.

Grob gesagt könnte man behaupten, dass es pessimistische und optimistische Narrative gibt. Erstere weisen darauf hin, dass der gegenwärtige „Finanzkapitalismus“ (auch Schuldenkapitalimus) zur Kapitalakkumulation nicht mehr die Ausbeutung der verfügbaren Bevölkerung erfordert und wir daher auf ein unausweichliches Szenario der Massenarbeitslosigkeit zusteuern. Dabei wird der „Abschied vom Proletariat“ dadurch vollzogen, dass das Proletariat zu einer unbedeutenden Minderheit der Bevölkerung wird und der Rest wird ein schwammiges Was-auch-immer („Multitüde“, „marginale Masse“; „Prekariat“; „neue Massen“; und so weiter). Die andere Sichtweise betont, dass der Kapitalismus in seiner technologischen Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass die menschliche Arbeit durch neue Technologien ersetzt wird, die sie tendenziell ablösen. Auch in diesem Szenario bewegten wir uns auf eine Gesellschaft der Massenarbeitslosigkeit zu, allerdings als Nebenprodukt eines „Fortschritts der Menschheit“. Beide Narrative bieten eine Diagnose, der man nur Umverteilungsmaßnahmen wie das Grundeinkommen entgegensetzen könnte, sowohl in rechts- wie linksgerichteten Perspektiven.

Beginnen wir mit der Kritik an der Vorstellung vom Ende der Arbeit, indem wir einen Blick auf einige leicht verfügbare empirische Daten werfen, denen zufolge wir uns nicht vor einem „Ende der Arbeiter:innenklasse“ befinden.
Wie Aaron Benanav in Erinnerung ruft, ist die Erwerbsbevölkerung, sowohl die lohnabhängige als auch die nicht lohnabhängige, von 1980 bis 2018 (laut IAO) um 75 Prozent gewachsen, was bedeutet, dass mehr als 1,5 Milliarden Menschen auf den weltweiten Arbeitsmärkten hinzugekommen sind2, insgesamt also knapp 3,5 Milliarden Menschen. Auf der Grundlage dieser IAO-Daten weist Kim Moody darauf hin, dass etwa zwei Drittel von ihnen, das heißt etwas mehr als 2 Milliarden, zur Arbeiter:innenklasse gehören, die sich aus Lohnempfängern und „Selbstständigen“ oder „Arbeitnehmer:innen auf eigene Rechnung“ zusammensetzt3. Nach Untersuchungen von Marcel van der Linden4 (ebenfalls auf der Grundlage der IAO) ist der Anteil der Menschen, die von ihrem Lohn leben, zwischen 1991 und 2019 niemals unter 44 Prozent gefallen, sondern im Gegenteil auf 55 Prozent der Erwerbsbevölkerung angestiegen.

Betrachtet man die jüngsten verfügbaren Daten der IAO, so schätzt sie in ihrem Bericht vom Januar 2023, dass sich die „globale Erwerbsbevölkerung“ auf etwas mehr als 3,6 Milliarden Menschen beläuft (die IAO verwendet den Begriff „Arbeitskräfte“, der dem sogenannten Erwerbspersonenpotenzial entspricht) und sich aus 2,17 Milliarden Männern und 1,43 Milliarden Frauen zusammensetzt. Davon sind 3,39 Milliarden erwerbstätig und 208 Millionen arbeitslos, also 5,8 Prozent der weltweiten Erwerbsbevölkerung. Von den Erwerbstätigen sind 1,96 Milliarden Menschen informell beschäftigt, was 58,4 Prozent ausmacht, und 214 Millionen leben in extremer Armut (das heißt mit weniger als 1,99 USD pro Tag), was etwa 6,4 Prozent der Erwerbstätigen entspricht5.

Die Erwartung für das Jahr 2023 ist sehr schlecht: einerseits wird eine starke Verlangsamung des Beschäftigungswachstums (das sich seit den Spitzenwerten der Arbeitslosigkeit während der Pandemie erholt hatte, auch wenn es nie das Niveau von 2019 erreicht hat) erwartet; andererseits wird prognostiziert, dass die neu geschaffenen Arbeitsplätze das sehr hohe Maß an Informalität beibehalten werden, das wir in den letzten Jahren gesehen haben: 2022 waren 4 von 5 Arbeitsplätzen für Frauen informell und 2 von 3 für Männer.

Kurz gesagt, wenn wir diesen kurzen Überblick betrachten, scheint die Idee eines „empirischen“ Verschwindens der Arbeiter:innenklasse unter keinem Gesichtspunkt haltbar zu sein. Damit ist die Debatte jedoch nicht beendet, sondern nur eingeleitet: Denn diese Arbeiter:innenklasse, die vor uns steht und zu der wir gehören, weist nicht die gleichen Merkmale der glorifizierten „Arbeiter:innenklasse der Nachkriegszeit“ auf, weil auch die Jahre des Booms in der Geschichte des Kapitalismus eine Ausnahme und nicht die Regel waren.

Es gibt kein also Verschwinden der Arbeiter:innenklasse, aber eine „Krise der Arbeit“ gibt es schon: weit verbreitete und wachsende Prekarität der Arbeit; fortschreitende Feminisierung der Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor; Zunahme von Unter- und Überbeschäftigung; Fluktuation mit hoher Arbeitslosigkeit; Auswirkungen einiger technologischer Veränderungen, die die menschliche Arbeit nicht ersetzen, sie aber neuen Formen der Kontrolle und des Managements unterwerfen; und, als Folge dessen, die Ausbreitung der „Armut trotz Arbeit“ als ein immer weiter verbreiteter Zustand sowohl in den peripheren als auch in den zentralen Ländern, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und Intensität.

Gerade angesichts dieses Szenarios des Wandels beißt sich das hegemoniale Narrativ in den eigenen Schwanz, wenn es erklärt, dass Arbeit nicht mehr das sein wird, was sie nie wirklich war. Indem es die Nachkriegszeit verherrlicht und dabei ausschließlich aus der Perspektive der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder schaut, wird die Unfähigkeit des Kapitalismus, „anständige“ Arbeitsplätze zu schaffen, die periodisch hohen Arbeitslosenquoten, die Ausbreitung der Unterbeschäftigung (neben anderen Indikatoren, die oft als Krise der „normalen“ oder „typischen“ Beschäftigung angesehen werden) angeprangert, womit der Weg für eine weitere Verarmung geebnet werde.

Mit der Pandemie wurde die zentrale Bedeutung dieser Probleme im Zusammenhang mit der Arbeit und den sozialen Ungleichheiten sehr deutlich. Gleichzeitig zeigte sich der Widerspruch zwischen dem „unverzichtbaren“ Charakter, den die Ausbeutung einer bestimmten Arbeitskraft annimmt, und dem „Wegwerfcharakter“, den die Körper, die sie verüben, erhalten. Es gibt kaum einen öffentlichen Diskurs, der nicht irgendeine Diagnose über „die Arbeit“ im Allgemeinen stellt, um ihre „unvermeidliche“ Degradierung zu rechtfertigen. Seitens der Arbeiter:innen wird ständig die enorme Ausweitung der Prekarisierung angeprangert (durch Streiks, Proteste und gewerkschaftliche Organisierung, wo dies bisher unmöglich schien). Das gleiche sieht man in den verschiedenen Prozessen der sozialen Mobilisierung, die sich nicht unbedingt als „Arbeiter:innenproteste“ darstellen, in denen die Arbeiter:innen aber den wichtigsten Teil bilden, der diesen Kämpfen Leben einhaucht: von den Gelbwesten in Frankreich, den Revolten von 2019 in Lateinamerika, den Streiks während der Pandemie in den USA und Europa bis zu den aktuellen Streiks in den USA, Europa (insbesondere in Großbritannien, Frankreich und Deutschland) und China.

Die Illusion der Automatisierung

Eine Möglichkeit, die Ausbreitung der Prekarität und das Fehlen ausreichender Arbeitsplätze zu erklären, besteht darin, sie der technologischen Dynamik zuzuschreiben, was diese zu einem unvermeidlichen Analysepunkt für die „Krise der Arbeit“ macht. Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt wird dieser neue Diskurs, den wir „die Illusion der Automatisierung“ nennen, von Sozialtheoretiker:innen, Silicon-Valley-Unternehmer:innen, Zukunftsforscher:innen mit Bestsellern, Massenmedien und sogar von Politiker:innen aller Couleur (Liberale, christliche mitte-links Sektoren und einige Linksintellektuelle) gefördert. In Argentinien stellte das Buch von Eduardo Levy Yeyati Después del trabajo. El empleo argentino en la cuarta Revolución Industrial (dt. „Nach der Arbeit. Die argentinische Beschäftigung in der vierten industriellen Revolution“) eine Reihe von Behauptungen darüber auf, warum eine Gesellschaft wie die unsrige von diesem technologischen Wandel nicht verschont bleibt. Unter anderem wies er darauf hin, dass nach Angaben der Weltbank 60 Prozent der Arbeitsplätze in Argentinien in Zukunft mit einer Maschine oder einem Computerprogramm konkurrieren werden (ohne dass die empirische Grundlage für eine solche Prognose sehr klar wäre). Aber nicht nur die Berater des liberalen Wahlbündisses Juntos por el Cambio (dt. „Gemeinsam für den Wandel“) sind von diesem Diskurs beeinflusst. Auch einige Vertreter:innen der sogenannten „economía popular“ teilen die Prämissen dieser Prognose, wie man in Juan Grabois‘ La Clase Peligrosa (dt. „Die gefährliche Klasse“) sehen kann. Die Namen und Bücher sind zahlreich, aber die Diagnose ist dieselbe: Sie besteht in der These, dass eine angebliche Beschleunigung des technologischen Wandels die Ursache für den Mangel an Arbeitsplätzen sei, und sagt vorher, dass dies zum „Ende der Arbeit“, wie wir sie kennen, führen werde. Eine Reihe von nicht immer genau definierten technologischen Veränderungen, die häufig unter dem Begriff „Digitalisierung der Arbeit“ oder „Vierte Industrielle Revolution“ zusammengefasst werden, würden die menschliche Arbeit ersetzen: Robotisierung, Big Data, das Internet der Dinge, 3D-Druck, digitale Plattformen und, der Star am Firmament, „künstliche Intelligenz“. Auch wenn wir die Auswirkungen all dieser Entwicklungen auf die Arbeitswelt noch nicht in vollem Umfang abschätzen können, wird es notwendig sein, sich darüber klar zu werden, ob wir es wirklich mit einer Veränderung des Kapitalismus zu tun haben, die, wie die „kalifornische Ideologie“ es sich vorstellt, die zentrale Bedeutung der Arbeit tendenziell verdrängen wird6.

Ein wirksamer Weg, diese Frage anzugehen, besteht darin, die konkreten Auswirkungen der „Automatisierung“ auf die Ersetzung von Arbeitskräften zu analysieren: Stimmt die Diagnose, dass uns ein „Ende der Arbeit“ durch eine neue technologische Revolution bevorsteht, oder gibt es eine andere Ursache für den Abbau von Arbeitsplätzen und die Arbeitslosigkeit?
Aaron Benanavs Automation and the Future of Work7 befasst sich eingehend mit dem erneuerten und enthusiastischen Diskurs über die „Automatisierung der Arbeit“8 und den wirtschaftlichen Trends, die eine globale Erwerbsbevölkerung mit hoher Arbeitslosigkeit, prekärer Unterbeschäftigung und relativer Überbevölkerung strukturieren.

Sein Verdienst ist, dass er uns eine konkrete und theoretisch sehr fundierte Analyse liefert, die knapp zusammengefasst argumentiert, dass es keine empirischen Beweise gibt, die die Diagnose stützen, dass die Automatisierung die menschliche Arbeit (sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungssektor) verdrängt und zu einer „technologischen Massenarbeitslosigkeit“ führt.
Bei der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen technologischen Innovationen und der Entwicklung des Arbeitsmarktes stellt Benanav fest, dass der Rückgang der Nachfrage nach Arbeitskräften nicht auf einen Sprung in der technologischen Innovation zurückzuführen ist, sondern auf die Einbettung dieser kontinuierlichen technologischen Veränderungen (die im Kapitalismus periodisch auftreten) in einen Kontext tiefgreifender wirtschaftlicher Stagnation9. Daher nimmt die geringe Nachfrage nach Arbeitskräften nicht die notwendige Form von Massenarbeitslosigkeit an, sondern zeigt sich als anhaltende Tendenz zu prekärer Unterbeschäftigung (mit anderen Erscheinungsformen in den zentralen Ländern als in den peripheren Ländern, aber unter der gleichen Tendenz des globalen Kapitalismus).

Für seine Argumentation nimmt Benanav einen Schlüsselindikator (Arbeitsproduktivität) und weist darauf hin, dass, wenn die Automatisierungstheoretiker:innen Recht hätten, die Arbeitsproduktivität rasch steigen sollte. Das heißt, der Ersatz von Arbeiter:innen durch „Roboter“ (oder neue Technologien) würde nicht nur eine Verringerung der Zahl der Betriebe mit Arbeiter:innen bedeuten, sondern sollte auch mit einem Anstieg der Arbeitsproduktivität in denselben Betrieben einhergehen (insbesondere in den stärker automatisierten Betrieben wie der Automobilindustrie). Die in dem Buch aufgezeigte statistische Analyse zeigt jedoch, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Wir erleben eine Verlangsamung der Produktivität vor dem Hintergrund eines lang anhaltenden Rückgangs des Wirtschaftswachstums. Von 2010 bis 2020 verlangsamte sich die Produktivitätsteigerung, das heißt, ihr Wachstum war langsamer als in der Vergangenheit. Die OECD-Statistiken zeigen, dass die Produktivität in den OECD-Ländern langsamer wächst als in früheren Perioden. Dies gilt für die USA, Deutschland und Japan, um nur die drei technologisch fortschrittlichsten Volkswirtschaften zu nennen, in denen die Produktivität am höchsten ist. Die Wachstumsraten des verarbeitenden Gewerbes dieser Länder und ihrer Volkswirtschaften insgesamt (ihr BIP) haben sich in diesem Jahrhundert bisher deutlich verlangsamt. Und dies sind genau die Jahre, für die die Prognosen eine neue technologische Revolution vorhersagen.

Daher, so Benanav, müssen wir die gegenteilige Schlussfolgerung zum Automatisierungsdiskurs ziehen: Wir leben nicht in einer Ära der beschleunigten Vernichtung von Arbeitsplätzen durch qualitative technologische Fortschritte, sondern in einer Ära der verlangsamten Schaffung neuer Arbeitsplätze infolge des geringen Wirtschaftswachstums.

Die eigentliche Ursache für die Verlangsamung der Schaffung von Arbeitsplätzen infolge der wirtschaftlichen Stagnation liegt im Rückgang der Investitionen und in der mangelnden Dynamik der Industrie infolge des neoliberalen Globalisierungsprozesses: Die weltweite Ausweitung der Produktionskapazitäten führte zu Überkapazitäten in der Industrie und zu Redundanzen im Handel. Dies führte zu einem Einbruch der Investitionsrate. Dies wurde von den etablierten Ökonom:innen verspätet als „säkulare Stagnation“ bezeichnet und von marxistischen Theoretiker:innen wie Robert Brenner schon seit einiger Zeit angemahnt. Es ist diese relative „Deindustrialisierung“ in den Kernländern, die die Erscheinungsformen der globalen Arbeiter:innenklasse verändert hat. Deindustrialisierung wird im Allgemeinen als ein Rückgang des Anteils der in der verarbeitenden Industrie beschäftigten Arbeitskräfte definiert. Es handelt sich dabei immer um eine relative Größe, denn Deindustrialisierung kann auch in Ländern stattfinden, in denen die Gesamtzahl der Arbeitskräfte schnell wächst und sogar die Zahl der Arbeitskräfte in der Industrie zunimmt, die jedoch nicht mit dem Gesamtwachstum der Erwerbsbevölkerung Schritt hält. Die „Deindustrialisierung“ ist also relativ zum stärkeren Wachstum der Gesamtbevölkerung, der Erwerbsbevölkerung und der lohnabhängigen Bevölkerung im Besonderen. In den Kernländern ist allgemein ein absoluter Rückgang der Industriebeschäftigung zu verzeichnen, während in anderen Ländern in der Peripherie entweder der gleiche Prozess (wie in Lateinamerika) oder ein relativer Rückgang (Asien) zu beobachten ist.

Die globalen Trends zeigen ein Szenario, das paradox erscheinen mag: Die alten Industriemächte haben sich „deindustrialisiert“ und die neuen industrialisierten Volkswirtschaften beginnen früh mit der „Deindustrialisierung“ (nach Angaben der IAO war der Höhepunkt in China im Jahr 2013: Der Anteil der Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe an der Gesamtbeschäftigung ging von 19,3 Prozent im Jahr 2013 auf 17,2 Prozent im Jahr 2018 zurück). Aber insgesamt hat sich die Welt nicht in erheblichem Maße deindustrialisiert. Globale (und nicht länderspezifische) Statistiken zeigen, dass die massive Neukonfiguration der Lieferketten die Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe „verstreuter“ verteilt10. Was bedeutet das? Dass Veränderungen im kapitalistischen Wertproduktionszyklus durch das „Offshoring“ und „Outsourcing“ von Aufgaben die Industrie im Süden (China, Indien und so weiter) mit komplementären Prozessen (industrielle oder technologische Montage und Logistik) verbinden, die in den Kernländern enden. Wie Beverly J. Silver in einem mittlerweile klassischen Werk erläutert, führten die „räumlichen Lösungen“, die die Kapitalisten im Zuge der „Globalisierung“ gefunden haben, auch zu Umstrukturierungen der Arbeitskräfte11. Weit entfernt von einem „Wettlauf nach unten“, bei dem die Löhne, die Arbeitsbedingungen und die kämpferischen Aktionen der Arbeiter:innenbewegung abwechselnd zusammenbrechen, erleben wir einen ungleichmäßigen Prozess, bei dem neue Sektoren (Mega-Logistiklager), neue Arbeiter:innenklassen in den Schwellenländern (Mega-Industrien in Asien) und die „Industrialisierung“ neuer Sektoren (die „Gesundheits- oder Bildungsindustrie“) entstehen12.

Dieser uneinheitliche Trend wirkte sich in vielen Ländern dadurch aus, dass die Erwerbsbeteiligung im verarbeitenden Gewerbe eines Landes zurückging und sich die Arbeitskräfte auf Tätigkeiten verlagerten, die statistisch gesehen unter der Kategorie „Dienstleistungen“ zusammengefasst werden.

Eine „Dienstleistungswirtschaft“?

Die Arbeitsstatistiken zeigen eine Ausweitung des „Dienstleistungssektors“ sowohl in den Kernländern als auch in der kapitalistischen Peripherie: „In der gesamten Weltwirtschaft haben die mehr als drei Milliarden erwachsenen Arbeitskräfte einen Wendepunkt erreicht, an dem mehr als die Hälfte im Dienstleistungssektor beschäftigt ist“13.

Diese Verdrängung erfolgte nicht aufgrund einer Expansion der „Dienstleistungswirtschaft“ als Ergebnis der Entstehung einer „postindustriellen“ Gesellschaft (angeblich ein neues „kognitives“ Verwertungssystem auf der Grundlage „immaterieller Arbeit“). Im Gegenteil, das Versagen des industriellen Motors führt zu zwei unterschiedlichen, aber eng miteinander verknüpften Phänomenen: Die Unterbeschäftigung – ein weit verbreitetes Merkmal der Beschäftigung im Dienstleistungssektor – nimmt zu, und die Arbeitslosigkeit steigt ebenfalls an, wenn auch in einem anderen zeitlichen Zusammenhang. Niedrige Wachstumsraten führen zu hohen Unterbeschäftigungsquoten und in Zeiten offener Krisen zu hohen Arbeitslosenquoten. Doch während die Arbeitslosigkeit insgesamt mehr oder weniger stabil bleibt, erfolgt die Abwanderung der Arbeitskräfte in Form von Unterbeschäftigung in den Kernländern und „informeller Arbeit“ in den Ländern der Peripherie14.

Es gibt Autoren wie Jason Smith und Fred Moseley, die die Ausweitung der Dienstleistungen damit erklären, dass in einem Szenario, in dem es den Kapitalist:innen nicht gelingt, die Kapitalakkumulation substanziell auszuweiten, die Automatisierung der „produktiven Arbeit“ – als Gegenstück – „unproduktive Arbeit“ an anderer Stelle erzeugt15. Andere Autoren, wie Kim Moody oder Ricardo Antunes, schlagen vor, diese Ausweitung gerade als einen Versuch zu sehen, die Krise der Rentabilität zu überwinden. Sie erklären das als einen Prozess der „Industrialisierung“ und der Ausweitung der „Lohnarbeit“ auf Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit der Zirkulation (Logistik) und der sozialen Reproduktion (Gesundheit, Bildung und Pflege) stehen. Im Fall der Logistik spielen, wie wir gleich sehen werden, technologische Innovationen eine wichtige Rolle, insbesondere durch die Digitalisierung vieler Aufgaben und die zunehmende Komplexität des Produktionsprozesses.

Abgesehen von der Offenheit der Debatte darüber, was die Expansion des Dienstleistungssektors für die kapitalistische Wirtschaft insgesamt bedeutet, steht fest, dass das Vordringen des Kapitals in neue Sektoren von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der neuen Erscheinungsformen der Arbeiter:innenklasse ist.

Logistik: der neue Fluss der Arbeiter:innenklasse

Einer der wichtigsten Prozesse der Umgestaltung des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten ist die sogenannte „logistische Revolution“. Diese „Kunst, Dinge zu bestimmten Zwecken zu bewegen“, erlebte zunächst mit dem Krieg in den 1960er Jahren und dann mit der Deregulierung des Welthandels in den 1980er Jahren einen Boom, der schließlich die Warenzirkulation beschleunigte und eine neue globale Versorgungskette bildete, die eine unverzichtbare materielle Infrastruktur für die Globalisierung darstellt.

Wir alle wissen, dass ein großer Teil der von uns konsumierten Waren entlang umfangreicher globaler Ketten produziert wird, die mit der Verlagerung der Produktion aus den entwickelten Ländern des Nordens während der neoliberalen Globalisierung entstanden sind. In der Pandemie und mehr noch in der Zeit danach – die von einer „Versorgungskrise“ und einer Krise der „Versorgungsketten“ begleitet wurde – wurde die zentrale Bedeutung der Versorgungsketten für den globalen Handel deutlich. Dies führte vorhersehbarerweise auch zur Bildung neuer Sektoren der Arbeiter:innenklasse. Wir erleben derzeit einen Zyklus von Protesten und Organisierung, die in diesen Sektoren an Boden gewinnen: ein Prozess, der von den Hafenstreiks in Deutschland bis zu den Kampf- und Gewerkschaftsprozessen in den Amazon-Lagern in den USA und Europa (Großbritannien, Spanien, Deutschland und Frankreich) reicht.

Eine der interessantesten Überlegungen zu den weiteren Auswirkungen dieses Prozesses auf die Arbeiter:innenklasse stammt unserer Ansicht nach von Kim Moody16. Seiner Analyse zufolge hat eine Reihe von produktiven, technologischen und organisatorischen Veränderungen eine „Logistisierung des Kapitalismus“ (oder einen „logistischen Kapitalismus“) hervorgebracht, in dem globale Ketten zu einer unverzichtbaren Waffe geworden sind, um mit sinkenden Profitraten fertig zu werden. Im 21. Jahrhundert haben neue Transport-, Kommunikations-, Computerisierungs- und Datendigitalisierungstechnologien – wie Barcodes, GPS, EDI (elektronischer Datenaustausch), WMS-Software (Warehouse Management Systems) und RFID (Radio Frequency Identification Tagging) – es ermöglicht, die Bewegung von Waren – und Arbeiter:innen – zuverlässiger zu verfolgen und zu steuern sowie einen dynamischeren Fluss dieser Güter zu realisieren. Dies ist der Grund für die „Logistikrevolution“, bei der laut ihrem Guru Yossi Sheffi „die physische Infrastruktur die Logistikinvestitionen dominiert“ und (gleichzeitig) „eine Informationslieferkette parallel zu jeder physischen Lieferkette“ besteht. Wie Corsino Vela hervorhebt, ist die Logistik eine sehr technologieintensive Organisations- und Managementtechnik. Sie stellt fest:

Aus betrieblicher Sicht hat die Logistik eine physische, materielle Dimension, die die Handhabung, den Transport und so weiter von Produkten umfasst. Aus der Sicht des Managements hat sie jedoch eine immaterielle Dimension der Übermittlung und Verwaltung von Informationen, die für die Erbringung der Dienstleistung und folglich für die Leistung des Unternehmens von entscheidender Bedeutung sind17.

Es ist diese „doppelte Dimension“ (physisch und immateriell), die oft einseitig dargestellt wird, indem eine mystifizierte Lesart konstruiert wird, die die jüngste Periode der Digitalisierung so interpretiert, als ob es sich um den Aufstieg eines entmaterialisierten Flusses der Kapitalakkumulation handeln würde. Die Digitalisierung ist jedoch weit davon entfernt, immateriell zu sein, denn gerade sie hat eine verstärkte (physische) Kontrolle der Arbeitskraft ermöglicht und die Methoden ihrer Verwaltung beschleunigt, so dass die Waren sich schneller bewegen können. Wer Ken Loachs brillanten Film Sorry, we missed you gesehen hat, kann den materiellen Charakter der „logistischen Revolution“ in der Flasche, die dem Protagonisten als Urinal dient, deutlich erkennen. Wie Juan Sebastián Carbonell festgestellt hat, neigt das kapitalistische Narrativ über das Logistikmanagement dazu, unsichtbar zu machen, dass sich hinter den Begriffen „just in time“ und „zero stock“ nicht nur neue technologische Fortschritte verbergen (die sicherlich vorhanden sind), sondern auch neue Reihen von Arbeiter:innen, die einer intensiven Ausbeutung ausgesetzt sind18.

Dieser Prozess der Logistik wird von Moody als Teil des gesamten Produktionsprozesses (und nicht als Gegensatz zum Produktionskreislauf) betrachtet. In Anlehnung an Marx‘ Grundrisse und seine Analyse, dass „[d]ie räumliche Bedingung, die Bringung des Produkts auf den Markt, […] ökonomisch betrachtet, in den Produktionsprozeß selbst [gehört]“ (MEW 42, S. 440), argumentiert der Autor, dass die Bewegung von Waren von ihrer Herstellung (oft im Globalen Süden) zu den Distributionsclustern auf der anderen Seite des Planeten nicht nur als Teil des kapitalistischen Produktionsprozesses betrachtet werden sollte, sondern dass ihre tiefere Bedeutung darin besteht, die Warenzirkulation zu beschleunigen, um die Umschlagszeit des Kapitals zu verkürzen und die Profitrate neu zusammenzusetzen.

Die technischen Veränderungen, die dieser Prozess mit sich bringt, fasst Moody in fünf Schlüsselbereichen zusammen, in denen der „Logistik-Kapitalismus“, wie Marx sagte, „die Vernichtung des Raums durch Zeit“ vorantreibt: 1) der Ausbau von Glasfaserkabeln (durch die 95 Prozent des Internetverkehrs zirkulieren); 2) der Aufstieg von Datenzentren; 3) die Vervielfachung und Umwandlung von Lager- und Vertriebszentren in moderne Logistikzentren; 4) die Verbreitung von 3PLs (siehe unten); 5) die Entwicklung einer entsprechenden materiellen Infrastruktur19.

All diese materiellen Entwicklungen sind auf unterschiedliche Weise mit menschlicher Arbeit und ihren verschiedenen Kapazitäten (Bau, technische Bedienung und so weiter) verbunden, ohne die es keine Zirkulation von Daten, Geld und Waren gäbe. Außerdem werden sie von Konzernen wie den Internet-Service-Providern kontrolliert, die allein in den USA rund 250.000 Arbeiter:innen beschäftigen.

Betrachtet man die Lagerzentren, so stellt man fest, dass sich die dort verrichtete Arbeit von einer weitgehend unproduktiven Arbeit (in der die Lagerhaltung vorherrscht) zu einer aus marxistischer Sicht produktiven Arbeit gewandelt hat, in der „Cross-Docking“ und „just in time“ und damit die Mobilität der kapitalistischen Produktion herrschen. Die Veränderungen, die Wallmart dem Einzelhandel auferlegte, hatten große Auswirkungen auf die gesamte Vertriebsbranche. Es ist kein Zufall, dass die Methoden der schlanken Produktion (Toyotismus) ursprünglich von Taiichi Onos Beobachtung eines amerikanischen Supermarktes inspiriert wurden, in dem die Waren ständig in Bewegung waren.

Eine weitere Innovation, die Moody als typisch für die Krise nach 2008 hervorhebt, ist das Aufkommen von „3PL“-Logistikunternehmen (Third Party Logistics Provider), die eine noch stärkere Auslagerung des Logistikprozesses ermöglichen, den Gewinnrückgang der Unternehmen, die sie beauftragen, abmildern, die Betriebskosten konzentrieren und ein größeres Risikomanagement übernehmen (was auch mehr Kapital und Technologie erfordert).

Der emblematische Fall, an dem all diese Veränderungen sehr deutlich zu erkennen sind, ist Amazon. Dieser Konzern ist dynamisch und agiert auf verschiedenen Stufenleitern, ist gleichzeitig ein Technologieunternehmen – es kontrolliert die Hälfte der globalen Cloud-Infrastruktur –, ein führendes E-Commerce-Unternehmen, ein großes Logistikimperium – mit einer Schlüsselrolle in den so genannten „globalen Wertschöpfungsketten“ – und schließlich der zweitgrößte Boss weltweit (2023 wird er schätzungsweise 1,3 Millionen Mitarbeiter:innen beschäftigen und damit Wallmart überholen). Die Lagerhallen des Unternehmens nehmen den Fabriken der Vergangenheit in mancher Hinsicht nicht viel: Die Beschäftigten sind täglich Erniedrigungen, Produktivitätsdruck sowie Gesundheits- und Sicherheitsrisiken ausgesetzt. Aber sie stellen eine Rekonfiguration der Arbeiter:innenklasse dar: eine neue „Konzentration“ der Arbeitskraft unter dem Dach der Logistikzentren; Einbeziehung von Technologie zur Automatisierung von Aufgaben und Kontrolle der Arbeitskräfte (algorithmisches Management); Einsatz von technologischen Arbeitskräften im Rahmen von „Mikroarbeit“ (mit Amazon Mechanical Turk); und weitere Verelendung in ihrem Logistiknetzwerk im Einklang mit dem „Plattformkapitalismus“ und der „Gig Economy“.

Obwohl sich Amazon als weltgrößter Online-Händler bezeichnet und Jeff Bezos behauptet, es sei in Wirklichkeit ein Technologieunternehmen, glaubt Moody, dass das Unternehmen „die stabilste Logistikinfrastruktur der Geschichte aufbaut“. E-Commerce und technologische Fähigkeiten werden durch logistische Fähigkeiten zur wirtschaftlichen Führung getrieben. Bezos, der weit von der Mythologie der Tech-Garage entfernt ist, nutzte alte Waffen wie Steuerhinterziehung, Abzocke von Lieferanten und vor allem die Unterdrückung von Gewerkschaften. Mit dem großen Dotcom-Boom der 1990er Jahre sammelte er bis 2001 2,1 Milliarden Dollar ein (andere Tech-Unternehmen brachten in der Regel nicht mehr als 50 Millionen Dollar auf) und nutzte diese „ursprüngliche Akkumulation“, um das Herzstück seiner Infrastruktur aufzubauen. Einerseits entwickelte er das „moderne Lager“ (nach dem Vorbild von Wallmart, wo Waren ein- und ausgehen, ohne gelagert zu werden) und wandte Just-in-Time-Methoden an, die in „Echtzeit“ durch Algorithmen, Handheld-Computer und RFID-Etiketten, Kiva-Roboter und Förderbänder unter strenger menschlicher Aufsicht gemessen werden. Auf der anderen Seite wurde der Big-Data-Betrieb, aus dem Amazon Web Services (AWS) hervorgehen sollte, gestärkt, indem neue Ebenen der Vorhersage, Verfolgung, Koordination und Geschwindigkeit erreicht wurden. Das in der Transportbranche investierte Produktivkapital fügt also durch die Arbeit der Beschäftigten den Produkten Wert hinzu. Allein in den USA gibt es 350.000 Beschäftigte, 100.000 Vertragsarbeiter:innen und 10.000 Softwarearbeiter:innen und wie bereits erwähnt zählt Amazon weltweit 1,3 Millionen Beschäftigte. Da die überwiegende Mehrheit in seinem globalen Logistiksystem arbeitet, sind sie, wie Moody analysiert, Wertproduzent:innen: Es sind diese Arbeiter:innen (und nicht die Verbraucher:innen), die den unglaublichen Reichtum dieses Giganten begründen20.

Da die „Lieferzeit“ der wichtigste Faktor ist, um ihre Konkurrenten zu schlagen, wird die ständige Verbesserung der Methoden, der Technologie und der Infrastruktur in den Dienst der Verkürzung dieser Zeit auf ein Minimum gestellt. Daher stehen die dort beschäftigten Arbeitskräfte unter enormem Druck und die Geschwindigkeit, mit der sie diesen Mehrwert produzieren (wie in jeder „Industrie“), steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit. Dies hilft zu verstehen, warum die Arbeiter:innen bei den „Make Amazon Pay“-Streiktagen sagten: „Dies ist nicht nur ein Streik gegen Amazon, sondern auch ein Streik gegen eine neue Form der Ausbeutung“.

Dieser Prozess hat jedoch eine Kehrseite: Je engmaschiger die Lieferkette ist, desto anfälliger ist ihr Logistiksystem für Störungen. „Just in time“ beseitigt die Abstände zwischen den Vorgängen und macht die gesamte Kette anfälliger für den kleinsten Rückschlag. Darüber hinaus erfordert das globale Logistiknetz hohe Investitionen in fixes Kapital. Dies stellt eine weitere Schwachstelle dar, denn, um Anwar Shaikh zu zitieren: „Kapitalintensive Industrien haben tendenziell auch hohe Fixkosten, die sie anfälliger für die Auswirkungen von Bummelstreiks und Streiks machen“.

Aus diesem Grund muss den riesigen Konzentrationen von Arbeiter:innen in Logistik-Clustern, die in jedem Land verstreut sind, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, insbesondere in den Großstädten und in den Verteilungszentren um Flughäfen und Häfen. Manche meinen zu Recht, dass es sich dabei um eine Art Verlängerung der industriellen Arbeitswelt in logistischer Form handelt. Trotz der Unterschiede zur traditionellen Fabrikarbeit handelt es sich zweifelsohne um eine Erweiterung der manuellen Lohnarbeit, wie die vorangegangenen Analysen zeigen. Die Arbeit in diesen Lagern beinhaltet für Zehntausende von Arbeiter:innen eine Organisationsform der Arbeitskräfte, die als „algokratisch“ bezeichnet wird: weil der Algorithmus den gesamten Prozess steuert – unter Verwendung von Automatisierung, Robotik und KI – und es dem Unternehmen ermöglicht, die Zahl der Arbeitskräfte (nach oben oder unten) synchron mit den Schwankungen der Online-Nachfrage zu regulieren.

Unter dem Slogan „Wir sind keine Roboter“ prangern die Lagerarbeiter:innen dieses Regime an. Gleichzeitig haben sich die Tech-Arbeiter:innen von Amazon für Klimagerechtigkeit eingesetzt und dafür, dass das Unternehmen keine Technologien (wie Gesichtserkennung) an die CIA, ICE (US-Grenzschutz), das Militär und die Polizei liefert. Hier liegt ein Schlüssel, um über die Möglichkeiten dieses neuen Sektors der Arbeiter:innenklasse nachzudenken: Die Verbindung zwischen dem Technologiesektor (Cloud-Betreiber), den Logistikzentren (Lagerhäuser) und dem Liefernetzwerk (Vertrieb) wird zu einem zentralen Faktor bei der Begründung seiner strukturellen Macht und seiner Fähigkeit, Streiks an wichtigen Engpässen (Abschaltung von Websites, des Zugangs zur Cloud oder von Logistiksystemen) zu verursachen. Der diesem Sektor innewohnende Widerspruch, der in der Notwendigkeit besteht, die Zirkulation durch räumliche Konzentration (große Lager in städtischen Randgebieten) und in Form einer unpersönlichen Macht des Kapitals (komplexe Algorithmen, Maschinen und Technologie), hinter der menschliche Arbeit steht, permanent zu reduzieren („Vernichtung des Raums durch die Zeit“), ist gleichzeitig seine Anfälligkeit: periodische Unterbrechungen durch menschliche Arbeit. Diese Fähigkeit, den Profitkreislauf zu durchbrechen, hat die Positionsmacht großer Gruppen von wertschöpfenden Arbeiter:innen nicht nur in Transport- und Logistiklagern, sondern in allen Phasen der Produktion und Zirkulation des Kapitals und zwischen den beiden Arbeitsbereichen gestärkt21.

Das „Platforming“ der Arbeit

Nach der Finanzkrise von 2008 erlebte die Welt den internationalen Aufstieg der großen digitalen Unternehmen, besser bekannt als GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft), und eine Expansion von Plattformunternehmen, die eine Vielzahl an wirtschaftlichen Austauschen abdecken. In den lateinamerikanischen Ländern haben diese Plattformen in den letzten zehn Jahren allmählich Einzug gehalten und mit der Covid-19-Pandemie (und den Schließungen von Einrichtungen und Isolierungsmaßnahmen) ist ihre Präsenz im öffentlichen Raum, um den Austausch von Waren und Dienstleistungen zu ermöglichen, immer größer geworden. Am sichtbarsten sind die Liefer- (Rappi und Glovo in Lateinamerika, Lieferando oder Gorillas in Deutschland) und Mobilitätsplattformen (Uber, Cabifi, und so weiter), aber sie sind nicht die einzigen. Auch wenn sie weniger Beachtung finden, gibt es eine Reihe von geistigen Tätigkeiten (Unterrichten, Programmieren, Transkription und so weiter) und sozialen Reproduktionsaufgaben (Pflege-, Reinigungs- und Hausarbeit und andere), die derzeit über Plattformen vermittelt werden.

Zur Beschreibung dieser neuen Beziehung zwischen Kapital und Arbeit werden häufig verschiedene Neologismen und Begriffe verwendet: „Uberisierung“, „Gig Economy“, „Amazonisierung“, „Plattformkapitalismus“, „Überwachungskapitalismus“, „Silikonisierung des Lebens“ und andere. Diesen Begriffen ist der Versuch gemeinsam, die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt zu erklären. Doch während einige davon dem Narrativ entsprechen, das dieselben Unternehmen von sich selbst konstruieren, oder den Illusionen begeisterter „Selbstständiger“ – einer Kategorie, die die Lohnarbeit versteckt, indem sie ihre „Autonomie“ postuliert –, zielen andere darauf ab, die kritischen Aspekte des Phänomens und seine negativen Folgen zu betonen, wie die Verbreitung von Arbeitsplätzen ohne Rechte und unter despotischer Kontrolle.

Eine der ersten kritischen Darstellungen ist die von Nick Srnicek entwickelte Analyse des „Plattformkapitalismus“. Demnach ist der „Plattformkapitalismus“ kein neues „kognitives“ Verwertungsregime (wie es die neo-operaistische Vision von Tiziana Terranova sein könnte), sondern ein Zyklus von Investitionen kapitalistischer Unternehmen, die in einem Kontext anhaltender wirtschaftlicher Stagnation durch die Verarbeitung massiver Daten und die Ausbeutung verfügbarer und billiger Arbeitskräfte im Kontext hoher Unterbeschäftigungs- und Arbeitslosenquoten nach Profiten streben.

Was sind Plattformen? Es handelt sich um digitale Infrastrukturen, die als Vermittler zwischen zwei oder mehreren Gruppen (oder Nutzer:innen) fungieren22. Sie können auch als „Werkzeuge zur Zusammenführung von Arbeitsangebot und –nachfrage“ definiert werden23. Und sie stellen eine neue Art der Verbindung zwischen Arbeiter:innen und Kapitalist:innen dar, indem sie die zentrale Rolle des Unternehmens bei der allgemeinen Festlegung der Arbeitsbedingungen, der Bezahlung von Aufgaben und der Kontrolle der Arbeitszeit durch Just-in-Time-Managementmethoden unsichtbar machen.

Unabhängig davon, ob man lieber von der „Plattformisierung der Arbeit“24 oder der „Uberisierung“25 spricht, besteht unter den kritischen Studien zur Arbeitswelt ein Konsens über die negativen Folgen, die diese Form der Beschäftigungsverhältnisse mit sich bringt. Alle oder fast alle Arbeitsplätze, die heute über Plattformen ausgeübt werden, gab es schon vorher, der Unterschied besteht darin, wie sie in einer neuartigen Organisationsform ausgeführt werden, bei der die digitale Technologie die Beziehungen zwischen dem Unternehmen (oder der „Plattform“), den Arbeiter:innen und den Verbraucher:innen vermittelt.

Plattformgesteuerte Arbeit26 bezieht sich auf Aufgaben, die bereits in anderer Form existierten (Fahrer, Post- oder Kurierdienste, Fast Food und so weiter), die nun unter einer neuen Form der Arbeitsorganisation ausgeführt werden27. Dabei übernehmen die Arbeiter:innen das Risiko der Aufgabe und stellen ihre eigenen Arbeitsmittel zur Verfügung (Mobiltelefone, Fahrräder, Autos und so weiter), während sich das Unternehmen durch die Architektur seiner digitalen Infrastruktur die Kontrolle über den kommerziellen Austauschprozess und den Arbeitsprozess vorbehält. Dies erleichtert die Anwendung der Logik der „Just in time“-Aufgaben, die einer starken algorithmischen Kontrolle unterliegen (zum Beispiel Echtzeitzugriff auf den Standort und die Position des Arbeiters und so weiter) auf den Arbeitsprozess.

Plattformen scheinen das Verhältnis zwischen Arbeiter:innen und Bossen aufzulösen, da sie keine „Arbeitsplätze“ anbieten, sondern „Aufgaben“ an „Mitarbeiter:innen“ vergeben, die mit den Apps verbunden sind, die im besten Fall formal als „unabhängige“ Arbeiter:in registriert sind und oft an die Grenzen der offenen Arbeitsinformalität stoßen. In diesem Sinne stellt der Status der digitalen Arbeiter:innen als „unabhängige“ Auftragnehmer:innen, „Kollaborateur:innen“ oder „Selbstständige“ einen Bruch mit den „klassischen“ Arbeitsbeziehungen zwischen Bossen und Arbeiter:innen dar. Das ermöglicht den Plattformen, fast die gesamte Belegschaft auszulagern, die unter der Figur der „Mitarbeiter:innen“ subsumiert wird und dabei die Rechte einer abhängigen Beschäftigung verliert (Zahlung eines Mindestlohns, medizinische und andere Arten von Urlaub, Versicherung gegen Berufsrisiken, vertraglicher Schutz, Sozialversicherungsbeiträge und so weiter). Aus diesem Grund erscheint die „Plattformisierung der Arbeit“ in den Statistiken oft als unsichtbar oder wird in Kategorien wie Selbständige oder Freiberufler:innen aufgelöst. Bislang gibt es keine spezifischen quantitativen Erhebungen, die es erlauben, das weltweite Volumen der Arbeiter:innen in Plattformunternehmen vollständig zu erfassen. Nach Angaben der IAO lag die Zahl der aktiven Plattformen, die virtuelle und/oder physische Arbeit (nur Transport- und Lieferdienste) anbieten, im Jahr 2010 bei 142 und stieg bis Januar 2021 auf mehr als 777 an28. Es wird geschätzt, dass weltweit etwa 70 Millionen Menschen über eine Plattform einen Job gefunden haben. Einigen verfügbaren Schätzungen zufolge arbeiten derzeit weniger als 4 Prozent der weltweiten Erwerbsbevölkerung für diese Plattformen. Am höchsten ist die Zahl im Vereinigten Königreich, wo bis zu 12 Prozent der Arbeitskräfte die Erfahrung der „Uberisierung“ gemacht haben.

Wenn wir über ihre Bedeutung für Länder der Peripherie nachdenken, in denen ein großer Teil der „informellen Arbeitsplätze“ konzentriert ist, die laut IAO 61 Prozent der weltweit Beschäftigten ausmachen, stimmen die ersten Analysen darin überein, dass Plattformen Tätigkeiten verändern oder absorbieren, die früher zwischen prekärer Formalität und informeller Arbeit schwankten. Ursula Huws29 weist darauf hin, dass die Ausbreitung von Plattformen im globalen Süden parasitär auf bereits bestehende Praktiken in der informellen Wirtschaft zurückgreift. Die Beziehung zwischen Plattformarbeit und Informalität hat mehrere Autor:innen dazu veranlasst, davor zu warnen, unkritisch Konzepte zu importieren, die für andere Breitengrade konstruiert wurden, und zu glauben, dass wir Zeug:innen einer Ausweitung und Verallgemeinerung von Prozessen der Informalität auf die Arbeitsmärkte des Nordens seien. In gewisser Weise war diese Tendenz, die Merkmale der peripheren Beschäftigung als neue Regel der Prekarität auf globaler Ebene zu übernehmen, bereits bei Srnicek vorhanden, dessen Diagnose lautete, dass die Krise von 2008 das Entstehen neuer Überschussbevölkerungen und eine Schwächung der Arbeitsmärkte mit einem impliziten Anstieg der Informalität der Arbeit bedeuten würde.

Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die „Plattformisierung der Arbeit“ ein neuartiger Prozess ist, der zwar in vorangegangene Prozesse der Informalität eingeschrieben ist und diese vertieft, aber auch substanzielle Veränderungen mit sich bringt, die über diese hinausgehen. Man könnte sagen, dass er eine prekäre Nutzung der verfügbaren Arbeitskräfte mit entscheidenden Unterschieden in der Art der sozialen Beziehungen verbindet, die er im Vergleich zum typischen Szenario der „Informalität“ in Lateinamerika mit sich bringt. Die Plattformen machen die Beschäftigung prekär, aber gleichzeitig erweitern sie die Vorherrschaft des kapitalistischen Marktes über den „Austausch von Nähe“ (auf der Grundlage von Freundschaft, Gemeinschaft, Verwandtschaft und so weiter)30 und verbinden verstreute Arbeitskräfte über digitale Infrastrukturen, die die (vermeintlich) „unsichtbaren Fäden“, die die Unternehmen über diese neuen Formen der Arbeit haben, erweitern. Der Einsatz fortschrittlicher Technologien im Dienste dieser Arbeitsprozesse ermöglicht lockere und unsichere Arbeitsbeziehungen zu einer intermittierenden Belegschaft und impliziert gleichzeitig eine starke algorithmische Kontrolle über eben diese „unabhängige“ Arbeit unter Bedingungen, die es vor der Einführung der Plattformen nicht gab.

Entgegen der anfänglichen Annahme hat die Organisierung in diesen Sektoren jedoch Fahrt aufgenommen. Wie Jamie Woodcock berichtet, haben sich die Arbeitskämpfe der Plattformarbeiter:innen in verschiedenen Teilen der Welt verallgemeinert31. Sie tun dies angesichts eines neuartigen Problems: der Verbreitung von Verträgen als Scheinselbstständige (klassischer Betrug zur Umgehung von Vorschriften) und der Auferlegung von Akkordarbeit oder Bezahlung nach Aufgabe, aber auf neue Art und Weise. In Bezug auf Liefer- und Transportarbeiter:innen weist Woodcock darauf hin, dass das Ziel von Pay-per-Delivery-Plattformen darin besteht, die Bezahlung für unproduktive Zeit zu eliminieren, da die Arbeitskräfte in den Intervallen zwischen den Lieferungen nicht direkt gebraucht werden, auch wenn sie zur Deckung der Nachfrage verfügbar sein müssen.
Unter Berufung auf Marx erklärt der Autor diesen Anstieg des Mehrwerts durch eine Analogie:

„Der Kapitalist kann nun der Arbeit einen gewissen Mehrwert entziehen, ohne ihr die für ihre eigene Erhaltung notwendige Arbeitszeit zu gewähren. Er kann jede Regelmäßigkeit in der Beschäftigung aufheben und je nach Bequemlichkeit, Laune und Interesse des Augenblicks den größten Überschuss an Arbeit mit relativem oder absolutem Stillstand der Arbeit abwechseln lassen“32.

Daher findet man diese Arbeiter:innen häufig vor Restaurants oder in „Wartezentren“, wo sie auf eine Bestellung warten, ohne für diese verlorene Zeit bezahlt zu werden. So wie die „Just-in-Time“-Methode die Logistik verändert hat, um die Arbeitskosten erheblich zu senken, versuchen die Plattformen, die Kosten drastisch zu senken und nur für die Zeit zu bezahlen, die sie als konkrete Arbeitszeit ansehen. Diese räumliche Logik von Uber und Konsorten ist als „Just-in-Place“-Beschäftigung bekannt.
Entlohnte soziale Reproduktionsarbeit: weiblich und wachsend.

Innerhalb des Dienstleistungssektors ist eine der am stärksten gewachsenen Branchen die der entlohnten sozialen Reproduktion, die die allgemeinen Merkmale der Dienstleistungen und die besonderen Merkmale der sozialen Reproduktionsarbeit aufweist. Die allgemeinen Merkmale sind, dass es sich um einen niedrigproduktiven und arbeitsintensiven Sektor handelt. Die besonderen Merkmale bestehen darin, dass es sich um einen außerordentlich feminisierten Sektor mit niedrigen Löhnen handelt, insbesondere wenn man die hohe Qualifikation berücksichtigt, die für einen großen Teil dieser Arbeit erforderlich ist (Bildung, Gesundheit und Pflege). Dieser letzte Punkt ist wichtig zu betonen, weil es eine Rückkopplung zwischen dem feminisierten Charakter der sozialen Reproduktionsarbeit, ihren niedrigen Löhnen und der Entqualifizierung ihrer Aufgabe durch den Staat und den Markt gibt33.

Diese Abwertung steht in direktem Zusammenhang mit dem Stellenwert der gesellschaftlichen Reproduktionsarbeit in kapitalistischen Gesellschaften. Wie von sozialistischen Feministinnen in der „Hausarbeitsdebatte” im Rahmen der Zweiten Feministischen Welle in den 1970er Jahren mit großer Schärfe analysiert wurde, ist die generationenübergreifende Arbeit der Produktion und Reproduktion von Arbeitskraft (und damit des Lebens, das sie trägt) eine Arbeit, die ebenso notwendig (für die Akkumulation von Kapital) wie ökonomisch und sozial entwertet ist. Diese Entwertung beruht auf dem ständigen Bedarf des Kapitals an Arbeitskraft zur Ausbeutung sowie auf der Notwendigkeit, diese Arbeitskraft so billig wie möglich zu produzieren und zu reproduzieren, um die Gewinnspannen für die Erzeugung von Mehrwert zu maximieren. Der private Charakter der Produktion und Reproduktion von Arbeitskraft im Haushalt, der sich auf die unbezahlte Arbeit von Frauen stützt, die diese Arbeit größtenteils verrichten, ist die wichtigste Methode, mit der der Kapitalismus versucht, seinen Bedarf an billiger Arbeitskraft zu decken. Rassifizierung, Migration und Enteignung sind weitere Möglichkeiten, die Arbeitskraft zu verbilligen.

Aber wie Lise Vogel in ihrem 1983 geschriebenen Buch Marxismus und Frauenunterdrückung34 dargelegt hat, wird die Arbeit der gesellschaftlichen Reproduktion nicht nur in unbezahlter Form im Haushalt, sondern auch in bezahlter oder angestellter Form in öffentlichen Einrichtungen des Gesundheits-, Bildungs- und Pflegebereichs geleistet. Vierzig Jahre nach der Veröffentlichung von Vogels Buch und im Zuge einer neoliberalen Offensive können wir hinzufügen, dass diese Art von Arbeit zunehmend in privaten Unternehmen geleistet wird, die die so genannte „Bildungs- und Gesundheitsindustrie“ bilden, neue Nischen der Kapitalakkumulation. Wenn diese Art von unentbehrlicher Arbeit auf bezahlter Basis verrichtet wird, folgt sie den Mustern der entwerteten Arbeit (auch wenn sie von Männern oder intergeschlechtlichen Personen verrichtet wird). Es sind diese bezahlten Sektoren (sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor), die in den letzten Jahren ein anhaltendes Wachstum zu verzeichnen haben und sogar Konzentrationen von Arbeiter:innen bilden, die der verarbeitenden Industrie oder den Logistikzentren wenig nachstehen. So sind im Krankenhaus von Posadas (einem der wichtigsten in der Provinz Buenos Aires) derzeit mehr als 5.000 Personen beschäftigt und im Krankenhaus von Castro Rendón (dem wichtigsten in der Provinz Neuquén) sind nach Angaben der Krankenhausverwaltung 2.500 Personen beschäftigt. Die Berliner Charité beschäftigt berlinweit sogar über 18.000 Personen, das Universitätsklinikum der Ruhr-Universität in Bochum über 15.000.

Es gibt drei Elemente, die es notwendig machen, sich auf diesen Sektor zu konzentrieren, wenn man über die neue Erscheinungsform der Arbeiter:innenklasse nachdenkt. Das erste ist, wie wir bereits gesagt haben, dass er eine wachsende Zahl von Arbeiter:innen konzentriert. In Argentinien beläuft sich die Zahl der Beschäftigten im Gesundheits- und Bildungswesen laut EPH-Daten aus dem 3. Quartal 2022 auf 2,6 Millionen Arbeiter:innen. Im deutschen Gesundheitswesen waren 2022 etwa 6 Millionen Arbeiter:innen beschäftigt, davon 75 Prozent Frauen. Weitere 2,5 Millionen Arbeiter:innen waren 2018 im deutschen Bildungswesen angestellt.35

Zweitens steht dieser Sektor im Zentrum dessen, was Nancy Fraser als „Krise der sozialen Reproduktion“36 bezeichnet hat, als (grundlegender) Aspekt der Krise des neoliberalen Kapitalismus. Im Gegensatz zu einigen Auffassungen, die sich bei der sozialen Reproduktion nur auf die häusliche oder gemeinschaftliche Sphäre konzentrieren, erlaubt Frasers Perspektive, die Krise der sozialen Reproduktion in den drei Sphären zu denken, die die Möglichkeit der Reproduktion des Lebens der Arbeiter:innen bestimmen: die Sphäre der Lohnarbeit, weil ein großer Teil der Reproduktion der Arbeitskräfte durch die Güter und Dienstleistungen erfolgt, die auf dem Markt durch Löhne erworben werden; die Sphäre der staatlichen Politiken, die auf die soziale Reproduktion durch Bildungs-, Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen abzielen; und die Sphäre der unbezahlten Arbeit im Haushalt oder in den Gemeinschaften, in denen vor allem Frauen die (fast unmöglich zu erfüllende) Verantwortung tragen, das Leben der Familienmitglieder zu gewährleisten. Kurz gesagt, um über die Krise der sozialen Reproduktion nachzudenken, ist es notwendig, die Vorgänge in der Produktionssphäre mit denen in der Reproduktionssphäre zu verknüpfen und dabei jede dichotomische Sichtweise zu vermeiden, die sie unabhängig voneinander macht oder fetischisiert. Wenn wir diese drei miteinander verbundenen Ebenen betrachten, stellen wir fest, dass sich alle drei derzeit in einer Krise befinden und dass die öffentlichen und privaten Institutionen, die sich der sozialen Reproduktion widmen (und die Frauen, die dort arbeiten), im Zentrum dieser Krise stehen. Die Kämpfe im Gesundheitswesen (wie die Gesundheitsstreiks in Spanien und Frankreich, der National Health Service (NHS) in Großbritannien und so weiter) und im Bildungswesen (wie die in Portugal oder der „Teachers‘ Spring“ in den Vereinigten Staaten), die in den letzten Jahren stattgefunden haben, sind Ausdruck dieser Krise. Und wir können ohne Zweifel sagen, dass diese Krise auch einer der Auslöser für das Entstehen der Neuen Feministischen Welle war. Die Pandemie verschärft diese Krise, insbesondere im Bereich der Gesundheit, indem sie den Widerspruch zwischen der Unverzichtbarkeit der gesellschaftlichen Reproduktionsarbeit und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwertung brutal offenlegt. Der Slogan, den die Gesundheitsarbeiterinnen der Provinz Neuquén in dem großen Kampf des Sektors im Jahr 2021 geprägt haben, ist eine großartige Synthese dieses Widerspruchs: „Sie nennen uns unverzichtbar, aber sie behandeln uns als Wegwerfartikel“.

Das dritte Element besteht darin, dass es auf der Grundlage des oben Dargelegten möglich ist, die sozio-reproduktive Stellung der Arbeiter:innen der entlohnten sozialen Reproduktion als eine „strategische Position“ im Sinne von John Womack37 zu betrachten, das heißt eine Position, die sich aus der Arbeit ergibt, die die Arbeiter:innen verrichten. Aber im Gegensatz zu dem, was Womack betrachtet, liegt der Schlüssel hier nicht in der ökonomisch-technischen Bedeutung dieser Arbeit, sondern in der sozio-reproduktiven Zentralität dieser Arbeit38. Die Arbeiter:innen der entlohnten sozialen Reproduktion verfügen zwar nicht über die „Arbeiter:innenmacht“, die Produktion an bestimmten Punkten zu unterbrechen, doch besitzen sie eine andere Art von „Arbeiter:innenmacht“, die sich aus ihrer Fähigkeit ergibt, die Bedingungen für die Reproduktion des Lebens der Arbeiter:innen als Ganzes direkt zu beeinflussen. Im Gegensatz zur strukturellen Macht39, wie sie von E.O. Wright40 und Beverly Silver41 definiert wurde, ergibt sich die Quelle der Arbeiter:innenmacht nicht ausschließlich aus ihrer Position im wirtschaftlich-produktiven System. Im Gegenteil, die strukturelle Macht der Arbeiter:innen im Gesundheits-, Bildungs- und Pflegebereich (um nur die wichtigsten Zweige der lohnabhängigen sozialen Reproduktion zu nennen) wurde als gering oder kaum vorhanden betrachtet, da ein Streik entweder am Arbeitsplatz (Schule, Krankenhaus oder Pflegeheim) oder in der gesamten Branche keine größere Störung oder Einschränkung der Kapitalakkumulation zur Folge hat (er führt bestenfalls zu einer Störung der Akkumulation eines einzelnen Kapitalisten in einer privaten Einrichtung der sozialen Reproduktion). Dies hat dazu geführt, dass die Arbeiter:innen in diesen Sektoren im Allgemeinen im Vergleich zu den Arbeiter:innen in strategischen Industrien oder in der Logistik als wenig kampfkräftig gelten. Es ist jedoch nicht mehr die Stellung im wirtschaftlich-produktiven System, in der sich diese Arbeiter:innen befinden, sondern ihre Rolle als die Bedingung der Möglichkeit dieses Systems, der ihnen Feuerkraft verleiht. Wir sprechen von der Reproduktion der Arbeitskraft als Möglichkeitsbedingung für die Akkumulation des Kapitals und von der Gefahr ihrer Unterbrechung. Darin liegt die besondere Stellung der Arbeiter:innen und folglich die Quelle ihrer Klassenmacht: Die Arbeit, die das Leben produziert und reproduziert, produziert und reproduziert dabei die wertvollste Ware für das Kapital, die Arbeitskraft.

Darüber hinaus weisen Gesundheits- und Bildungseinrichtungen eine Reihe von Merkmalen auf, die unbedingt hervorgehoben werden müssen, wenn man über das Potenzial dieses Sektors von Arbeiter:innen nachdenkt. Einerseits ein von Beverly Silver hervorgehobenes Merkmal, das von entscheidender Bedeutung ist, nämlich die Unmöglichkeit der Verlagerung dieser Art von Arbeitsstrukturen. Bekanntlich war in den letzten Jahren einer der am häufigsten genutzten Mechanismen angesichts eines Arbeiter:innenstreiks (hauptsächlich als Drohung, aber auch als Praxis) die Verlagerung: die Fabrik oder Dienstleistung, um die gekämpft wurde, wurde in eine andere Stadt, ein anderes Land oder sogar einen anderen Kontinent verlegt42. Einige Arbeitsstrukturen lassen sich leichter (das heißt billiger) ins Ausland verlagern als andere: Ein Callcenter kann verlagert und innerhalb einer Woche eingerichtet werden, eine Autoteilefabrik nicht. Ein Krankenhaus oder eine Schule können nicht ausgelagert werden, da es sich um Strukturen handelt, deren Zweck (die Reproduktion der Arbeitskräfte) an ihren Standort (den Wohnort der Arbeitskräfte) gebunden ist. Im Falle des Gesundheitswesens erfordert ihre Einrichtung außerdem umfangreiche Investitionen in die Infrastruktur, was insbesondere im privaten Sektor einen zentralen Kostenfaktor darstellt, der bei der Konfrontation von Kapital und Arbeit zu berücksichtigen ist.

Andererseits stellt auch die soziale Reproduktionsarbeit eine entscheidende Grenze für die Automatisierung von Aufgaben. Diese Schwierigkeit für die Automatisierung hängt mit den Merkmalen der spezifischen Arbeit, den hohen Qualifikationen, die sie erfordert (worauf wir bereits hingewiesen haben), und den spezifischen Merkmalen dieser Qualifikationen zusammen, zu denen affektive und fürsorgliche Fähigkeiten gehören, die von Maschinen (zumindest bis jetzt) nicht nachgeahmt werden können. Dies bedeutet auch, dass die Arbeiter:innen, die sie ausüben, nicht so leicht austauschbar sind, denn ein Lehrer oder Lehrerin, ein Krankenpfleger oder Krankenschwester bzw. ein Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterin kann nicht in einem Semester ausgebildet werden. Kurzum, es handelt sich um eine Art von Arbeitskräften, die im Falle eines Klassenkonflikts weder durch eine Maschine noch durch Sektoren arbeitsloser oder verfügbarer Arbeitskräfte (wenn diese nicht die erforderlichen Qualifikationen besitzen) leicht ersetzt werden können43.

Darüber hinaus ist es wichtig, die territoriale Ausdehnung und den vernetzten Charakter dieser Ausdehnung hervorzuheben. Betrachten wir den Bildungssektor im Besonderen. Im Gegensatz zu dem, was wir oben für den Gesundheitssektor dargelegt haben, schafft es der Bildungsbereich nicht, große Arbeitsstrukturen mit einer hohen Konzentration von Arbeiter:innen zu errichten. Diese Tatsache, die als Schwäche angesehen werden kann, hat jedoch eine Kehrseite: Ihre Organisation umfasst kleine oder mittelgroße Einrichtungen, die über das gesamte Stadtgebiet verstreut sind. Jedes Viertel (um eine flexible Maßeinheit zu verwenden) verfügt über eine Bildungseinrichtung. Diese Einrichtungen sind jedoch nicht völlig voneinander isoliert: Die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Beschäftigten sind gleich oder sehr ähnlich4; der konkrete Inhalt ihrer Arbeit (und die daraus resultierenden Reibungen) sind ebenfalls gleich; die Probleme der Gemeinschaft, die in den Schulen zum Ausdruck kommen, wirken ebenfalls als gemeinsame Elemente (mit Heterogenitäten je nach Gebiet). Mit anderen Worten, es handelt sich um ein Netz von Einrichtungen, die durch Arbeitsbedingungen, Entlohnung, konkrete Arbeit und Probleme, die die Gemeinschaft als Ganzes betreffen, miteinander verbunden sind. Doch im Gegensatz zu einer Fabrikhalle oder einem Fließband verfügt das Klassenzimmer immer noch über ein hohes Maß an Autonomie (trotz der Belagerung durch standardisierte Bewertungen und Systeme zur Überwachung der Arbeit der Lehrer:innen). Dies ermöglicht es, dass jedes dieser Netzwerk-Terminals (die Schulen) aus Räumen mit einer gewissen Autonomie besteht, die in bestimmten Momenten des Bildungsprozesses Räume der Basispolitisierung sein können. Diese Merkmale ermöglichen in den Fällen, in denen die kollektive Aktion die Richtung der Koordination einschlägt, lokale oder regionale Bildungsstreiks mit einer starken gemeinschaftlichen Wirkung. Im Gegensatz zu einigen Arbeiter:innenkämpfen, die leicht isoliert und sogar für den Rest der Gemeinschaft unsichtbar sind, ermöglicht diese netzartige Struktur die Planung gemeinsamer, vernetzter Aktionen, die als Gegentrend zur Isolation als Strategie zur Unterdrückung des Kampfes wirken.

Dies bringt uns zum letzten und für unsere Diskussion vielleicht wichtigsten Merkmal: die Tatsache, dass die Institutionen, in denen diese Arbeit verrichtet wird, in Zeit und Raum die Bedürfnisse der Arbeiter:innen als Lohnempfänger:innen mit den Bedürfnissen der Arbeiter:innen als Klasse, die von der Arbeit lebt, das heißt der Arbeiter:innenklasse als Ganzes (und nicht nur ihres Lohnempfängeranteils), verbinden, und zwar aufgrund der Merkmale der Arbeit, die das Leben produziert und reproduziert. Die Institutionen der gesellschaftlichen Reproduktion sind „amphibische“ Territorien und damit potenzielle Knotenpunkte der Artikulation von Produktion und Reproduktion. Und das kann höchst brisant sein, denn es eröffnet die Möglichkeit einer Gegentendenz zu korporatistischen Kämpfen (die die Mehrheitsstrategie der Gewerkschaftsorganisationen sind) und deren Ersetzung durch die Debatte über die Organisation von Klassenkämpfen, die im Gegenteil Forderungen in sektorenübergreifender Weise artikulieren.

Schlussfolgerungen

Abschließend möchten wir einige Definitionen anführen, um diese Anmerkungen zur globalen Arbeiter:innenklasse zusammenzufassen. Natürlich umfasst dieser Überblick nicht alle Merkmale, geschweige denn alle Probleme, mit denen die Arbeiter:innenklasse (und wir) konfrontiert sind. Wenn dies der Fall wäre, wäre es unvermeidlich, über die Veränderungen bei den Migrationsprozessen, die Überschneidung von Prekarisierung und Rassifizierung, die Zunahme neuer Formen unfreier Arbeit, die (gewaltsam) fortschreitende Enteignung einheimischer Völker und Gemeinschaften, die Mechanismen der Marginalisierung sexueller Vielfalt zu sprechen. Wir machten jedoch einen bescheidenen Versuch, mit empirischen, kontextuellen und theoretischen Argumenten einige der Merkmale zu erörtern, die unsere Klasse prägen.

In erster Linie und angesichts der Beharrlichkeit des Narrativs vom Ende der Arbeit (in den Medien, der Intelligenzia und den politischen Sektoren, nicht nur auf der Rechten), muss festgestellt werden, dass dieses Narrativ nicht mit den empirischen Daten auf globaler Ebene übereinstimmt: Es gibt kein Verschwinden der Arbeiter:innenklasse, sondern eine tiefgreifende „Krise der Arbeit“, die sich in der weit verbreiteten und zunehmenden Prekarität der Arbeit, der fortschreitenden Feminisierung der Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor, der Zunahme von Unter- und Überbeschäftigung und der Fluktuation mit einer hohen Arbeitslosenquote ausdrückt; die Auswirkungen bestimmter technologischer Veränderungen, die die menschliche Arbeit zwar nicht ersetzen, sie aber neuen Formen der Kontrolle und des Managements des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit unterwerfen; und, als Folge des oben Gesagten, die Ausbreitung der „Working Poor“ als ein immer weiter verbreiteter Zustand sowohl in den peripheren als auch in den zentralen Ländern, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und Intensität.

Zweitens, dass diese globalen Trends (wenn auch mit unterschiedlichen Merkmalen je nach Land und Region) nicht auf die „Digitalisierung der Arbeit“ oder die „vierte industrielle Revolution“ zurückzuführen sind, wie dies oft in der so genannten „Illusion der Automatisierung“ zum Ausdruck kommt, sondern auf die Einbettung technologischer Veränderungen (die im Kapitalismus periodisch auftreten) in den Kontext einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Stagnation.

Drittens müssen im Zusammenhang mit dieser Krise des Kapitalismus bestimmte Dynamiken analysiert werden, die von zentraler Bedeutung zu sein scheinen. Die wichtigste ist die Ausdehnung des Dienstleistungssektors, die nicht Ausdruck eines neuen „kognitiven“ Verwertungsregimes auf der Grundlage der „immateriellen Arbeit“ ist, sondern die Folgen des geringen Wirtschaftswachstums zum Ausdruck bringt. Unabhängig davon, ob man, wie einige Autor:innen betonen, die Dienstleistungen als einen Sektor betrachtet, der in der Lage ist, die von der Industrie verdrängten Arbeitskräfte (in abgeschwächter Form) zu absorbieren, oder ob man sie als neue Nischen für die Produktion von Mehrwert betrachtet (als eine dynamische „Industrialisierung“ und „Entlohnung“ der Dienstleistungen), geht ihr starkes Wachstum mit einer Zunahme der Unterbeschäftigung und der damit verbundenen Verarmung der Arbeiter:innen einher.

Viertens, dass dieses Wachstum der Dienstleistungen eine Reihe von Widersprüchen mit sich bringt, die unbedingt hervorgehoben (und analysiert) werden müssen, wenn man über die neue Erscheinungsweise der Arbeiter:innenklasse nachdenkt. Zwei dieser Widersprüche möchten wir besonders hervorheben: Die entscheidende Bedeutung dessen, was manche „die logistische Revolution“ nennen. Weit entfernt von jeder vereinfachenden Interpretation (die davon ausgeht, dass wir es mit dem Aufstieg eines entmaterialisierten Flusses der Kapitalakkumulation zu tun haben) impliziert das Wachstum der Logistik eine doppelte Dimension (physisch und immateriell) im Dienste der extremen Forcierung der „räumlichen Lösung“ als Teil des Produktionsprozesses. Aber diese „Lösung“ (immer aus der Sicht des Kapitals) erzeugt wiederum enorme Konzentrationen in logistischen Clustern, die den „klassischen“ Fabrikkonzentrationen in nichts nachstehen, und die diese Arbeiter:innen in einen Schlüsselsektor für das Nachdenken über Kämpfe und Widerstände verwandelt. Der andere widersprüchliche Prozess, der mit den Dienstleistungen verbunden ist, ist die sogenannte „Plattformisierung“ der Arbeit, die ebenfalls kein neues Regime der „kognitiven“ Inwertsetzung darstellt, sondern ein neues Regime der Verwaltung der Arbeitskräfte, das auf algorithmischer Kontrolle, dem Bruch des „klassischen“ Verhältnisses zwischen Arbeiter:innen und Kapitalist:innen und dadurch der Vertiefung und Schaffung neuer Formen der informellen Arbeit ohne Rechte beruht.

Fünftens gibt es einen Trend, der festgestellt wurde (obwohl er mehr Aufmerksamkeit erfordert), nämlich die Zunahme der stark feminisierten Arbeit im Bereich der bezahlten sozialen Reproduktion (Gesundheit, Bildung, Pflege) im Kontext einer Krise der sozialen Reproduktion als herausragendes Merkmal der globalen kapitalistischen Krise. Ob in seiner öffentlichen Version (durch Kürzungen und Anpassungspläne defizitär) oder in seiner privaten Version (umgewandelt in eine „Gesundheits- und Bildungsindustrie“), dieser Sektor konzentriert immer mehr Arbeiter:innen und stellt das dar, was wir einen „sozio-reproduktiven“ Standort nennen, der als „strategische Position“ betrachtet werden kann, nicht wegen seiner wirtschaftlich-technischen Zentralität (wie zum Beispiel der Logistik), sondern wegen seiner Fähigkeit, die Bedingungen für die Reproduktion des Lebens der Arbeiter:innen insgesamt direkt und damit indirekt die Kapitalakkumulation zu beeinflussen. Die Pandemie war ein starker Ausdruck für die zentrale Bedeutung dieser stark feminisierten Arbeit.

Schließlich haben all diese oben genannten Sektoren, die eine neue Erscheinungsweise der Arbeiter:innenklasse bilden (Kaufhäuser, Logistik, Apps, soziale Reproduktion), zusammen mit den „alten Sektoren“ (Produktion, Transport, Energie, öffentliche Verwaltung) in verschiedenen Ländern (mit unterschiedlicher Intensität und Ergebnissen) Prozesse des Kampfes und der Organisierung durchgemacht. Einige von ihnen hat man schon lange nicht mehr gesehen, wie die neue Generation in den USA, die den Aufbau von Gewerkschaften als ein Ziel ansieht, für das es sich zu kämpfen lohnt, oder die „wilden Streiks“, die in verschiedenen Ländern Europas stattgefunden haben, wie der massive „Kampf der Renten“ gegen Macron und der beispiellose „Mega-Streik“ in Großbritannien.

Obwohl wir diese Prozesse in diesem Artikel nur erwähnen, halten wir es für unerlässlich, sie im Lichte von zwei Gewissheiten zu analysieren. Nämlich, dass die Veränderungen der letzten Jahrzehnte in der Tat eine andere Arbeiter:innenklasse hervorgebracht haben, die nicht mit „Nostalgie für das, was nie passiert ist“ betrachtet werden kann, das heißt mit der Forderung nach einer Rückkehr zu einer „klassischen“ Arbeiter:innenklasse der Nachkriegszeit, die in Wirklichkeit eine historische Ausnahme war. Und dass diese Neukonfiguration „neue Arbeitskräfte“ hervorgebracht hat, die zwar zersplittert sind, aber gemeinsame Merkmale aufweisen, die durch die Globalisierung entstanden sind. Ob diese Kräfte der Dreh- und Angelpunkt für eine subjektive Neuzusammensetzung der Arbeiter:innenbewegung sein können (oder nicht), wird durch die Aktionen der Arbeiter:innen „getestet“ werden müssen. Denn die sogenannte Krise der Arbeit ist letztlich die Krise der Lebens- und Reproduktionsbedingungen der Klasse, die im Kapitalismus von der Arbeit lebt. Ihre Überwindung wird daher die Aufgabe der Arbeiter:innen selbst sein.

Der vorliegende Artikel von Gastón Gutiérrez Rossi und Paula Varela ist die Übersetzung eines spanischen Aufsatzes, der ursprünglich in der Zeitschrift Corsario Rojo Nr. 2 veröffentlicht wurde.

Fußnoten

1. Die aktuelle Diskussion ist nicht neu. Sie erscheint wie eine Wiederbelebung einiger Themen, die in den 1980er und 1990er Jahren im Zusammenhang mit den Arbeiten von André Gorz und Jeremy Rifkin heftig diskutiert wurden.

2. Aaron Benanav, La automatización y el futuro del trabajo, Madrid, Traficantes de Sueños, 2021, S. 86.

3. Kim Moody, La clase trabajadora global en la reorganización del capitalismo, verfügbar unter https://www.iade.org.ar/noticias/la-clase-trabajadora-global-en-la-reorganizacion-del-capitalismo.

4. Marcel van der Linden, La clase obrera ha muerto. ¡Larga vida a la clase obrera!, Interview mit Nicolas Allen, in: Jacobin América Latina, Nr. 4, 2021.

5. World Employment and Social Outlook, Trends 2023, IAO, S. 138.

6. Cédric Durand, Tecnofeudalismo. Crítica de la economía digital, Avellaneda, La Cebra y Kaxilda, 2021. Manchmal muss man gar nicht so weit gehen, um zu sehen, dass menschliche Arbeit unersetzlich ist. Vor einigen Tagen erklärte das Times-Magazin, dass die „künstliche Intelligenz“ von ChatGPT ursprünglich schon vor Jahren hätte veröffentlicht werden können, aber das hätte die Unzulänglichkeiten des Algorithmus offenbart. Um die Antworten zu präzisieren, hat die KI die Mehrheitsmeinungen in Netzwerkforen (YouTube, Twitter, Facebook und so weiter) aus dem Internet entnommen und da die Ideen, die überwiegend kursieren, unfehlbar die Ideen der herrschenden Klassen sind, kamen rassistische, sexistische, klassen- und fremdenfeindliche Vorurteile zum Vorschein. Die Lösung bestand darin, die Fehlerbehebung an ein kalifornisches Unternehmen auszulagern, das in Kenia lebende digitale Arbeiter:innen beschäftigt hat, die diese Fehler identifizieren, korrigieren und den Algorithmus korrekt neu trainieren sollten. Jeff Bezos, der Tycoon, dem Amazon gehört, bezeichnet diese Verfahren oft als „künstliche“ Produktion von „Künstlicher Intelligenz“. Es ist die Realität von Hunderttausenden von „Mikroarbeiter:innen“ hinter einer riesigen Plattformökonomie. Siehe Phil Jones, Work without the Worker, London/New York, Verso, 2021; und Antonio Casilli, Esperando a los robots, Investigación sobre el trabajo del clic, Santiago de Chile, LOM, 2022.

7. Erscheint auf Englisch seit 2020 bei Verso. Spanische Ausgabe erhältlich: Spanien, Traficantes de Sueños, 2021. Benanav ist eine führende Stimme in einem neuen „Ökosystem“ kritischer Theorien, die versuchen, die Verbindung zwischen Technologien und der Zukunft der Arbeit im heutigen Kapitalismus zu re-politisieren. Seine Doktorarbeit widmete er einer globalen Geschichte der Arbeitslosigkeit zwischen 1949 und 2010, unter der Leitung von Robert Brenner und mit Kommentaren von Perry Anderson. Seine bevorstehende Veröffentlichung ist angekündigt.

8. Der Begriff „Automatisierung“ wurde erstmals 1946 verwendet, als der Vizepräsident von Ford darauf hinwies, dass neue computergestützte Maschinen in der Automobil-, Stahl- und Erdölindustrie Arbeit einsparten. Seit den 1950er Jahren ist in den USA ein Prozess des Verlusts von Industriearbeitsplätzen zugunsten von Dienstleistungen (Bildung, Gesundheitswesen, Regierung, Finanzwesen, Restaurants, Einzelhandel und „Unternehmensdienstleistungen“) Teil der öffentlichen Diskussion. 1964 stellte James Boggs fest: „Wenn schwarze Arbeiter:innen einst die Pachtfarmen und Jim Crow verlassen konnten, um Fabrikarbeit zu finden, können die Vertriebenen jetzt nirgendwo mehr hingehen“.

9. Offensichtlich ist die Ersetzung von Arbeitskraft durch Technologie (von „lebendiger Arbeit“ durch „tote Arbeit“, wie Marx es ausdrückte) in einem systemischen Sinn eine Konstante der kapitalistischen Produktionsweise. Und es ist diese Konstante, die hinter den „endlosen Abschieden vom Proletariat“ steckt. Bereits seit dem 19. Jahrhundert haben Charles Babbage und Andrew Ure automatische Fabriken vorausgesehen und Marx misst diesem Problem im Kapital und anderen Werken große Bedeutung bei.

10. J. Felipe und A. Mehta, Deindustrialization? A global perspective, in: Economics Letters, 2016.

11. Beverly J. Silver, Fuerzas del trabajo. Los movimientos obreros y la globalización desde 1870, Madrid, Akal, 2003.

12. Beverly J. Silver, La (re) formación de la clase obrera, in: Jacobin América Latina, Nr. 4, 2021.

13. A. Benanav, „Automation Isn’t the Cause of Unemployment – Capitalism Just Can’t Generate Enough Jobs“, Interview mit Daniel Finn, unter: https://jacobin.com/2023/02/automation-unemployment-capitalism-jobs-post-scarcity-stagnation.

14. Wie Mike Davis in Planeta de ciudades miseria (2007) meisterhaft analysiert hat, ging der Übergang zu einer stärkeren Verstädterung in den meisten Ländern der kapitalistischen Peripherie nicht mit einem begleitenden Industrialisierungsprozess einher, was zur Entstehung riesiger Kontingente von „informellem Proletariat“ und „überschüssiger“ Arbeit führte. Das IAO-Konzept der Informalität ist ein Begriff, der von dualistischen Annahmen und der nie bewiesenen Behauptung geprägt ist, dass die kapitalistische Entwicklung in der Lage sein wird, die überschüssige Bevölkerung zu absorbieren. Auf der anderen Seite setzt der Begriff der „economía popular“ ebenfalls einen extremen Dualismus voraus, demzufolge es eine „andere“ Wirtschaft gäbe, bei der die Verbindungen zum kapitalistischen System als Ganzes nicht eindeutig sind. Im Gegenteil, um über diesen Prozess nachzudenken, ziehen wir es vor, die Marxschen Begriffe wie „Reservearmee“ und „relative Überbevölkerung“ wieder aufzugreifen. In diesem Zusammenhang siehe. R. Donaire, Subocupación y trabajo temporario. Expresiones de la repulsión de población desde la producción en los países de capitalismo avanzado, in: Lavboratorio, Nr. 31, 2021.

15. Jason E. Smith, Smart machines and Service Work. Automation in an Age of Stagnation, London, Reaktion Books, 2020.

16. Kim Moody ist der Gründer von Labor Notes und ein Spezialist für Arbeitsstudien. Zu seinen jüngsten Werken gehören On New Terrain. How Capital Is Reshaping the Battleground of Class War (2017); Tramps and Trade Unions Travelers: Internal Migration and Organized Labor in Gilded Age America 1870-1900 (2019) und Breaking the impasse: Electoral Politics, Mass Action, and the New Socialist Movement in the United States (2022).

17. Corsino Vela, Capitalismo terminal. Anotaciones a la sociedad implosiva, Madrid, Traficantes de Sueños, 2018, S. 144.

18. Juan Sebastián Carbonell, Le futur du travail, Paris, Éditions Amsterdam, 2022.

19. Kim Moody, Motion and Vulnerability in Contemporary Capitalism. The Shift to Turnover Time, in: Historical Materialism, Bd. 30, Nr. 3, 2022, S. 47-78.

20. In diesem Punkt unterscheidet sich Amazon unter den GAFAMs durch einen hohen Anteil an Hand- und Kopfarbeiter:innen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dies die einzige Quelle seiner Profite ist, da es am Wettbewerb zwischen den digitalen Giganten um die Aufteilung der globalen Masse des Mehrwerts durch Mechanismen zur Maximierung der Profitabilität teilnimmt.

21.In dem Artikel ¿Una nueva clase obrera industrial? Desafíos para interrumpir a Amazon en Alemania (dt. „Eine neue industrielle Arbeiter:innenklasse? Herausforderungen für die Störung von Amazon in Deutschland“) schlägt Nantina Vgontzas eine Diskussion vor, um darüber nachzudenken, wie die beiden wichtigsten Formen der Macht, die Industriearbeiter:innen im 20. Jahrhundert hatten, funktionieren: „Positionsmacht“, das heißt die Macht, die sich aus ihrer Position in der Wirtschaft ergibt und die es ihnen ermöglicht, die Produktion von Waren für den Weltmarkt zu stören, und „assoziative Macht“, das heißt die Fähigkeit, kollektive Bindungen und Organisationen (Gewerkschaften, Parteien und so weiter) zu schaffen, durch die sie historisch ihre Positionsmacht aktiviert haben. Sie zeigt Möglichkeiten und Grenzen auf. In: Jake Alimahomed-Wilson und Ellen Reese (Hrsg.), The cost of free shipping: Amazon in the global economy, London, Pluto Press, 2020. Hier eine Rezension des Werkes: https://www.laizquierdadiario.com/El-capitalismo-de-Amazon-y-los-cambios-en-la-composicion-de-la-clase-trabajadora.

22.Nick Srnicek, Capitalismo de plataformas, Buenos Aires, Caja Negra, 2018, S. 45.

23. Jamie Woodcock und Mark Graham, The Gig Economy. A critical Introduction, Cambridge, Polity Press, 2020, S. 242.

24.Ludmila Abílio, Henrique Amorim und Rafael Grohmann, Uberização e plataformização do trabalho no Brasil: conceitos, processos e formas, in: Sociologias, Porto Alegre, Jahrgang 23, Nr. 57, Mai-August 2021.

25.R. Antunes, O Privilégio da Servidão, São Paulo, Boitempo, 2018.

26.Pablo Míguez, Trabajo y valor en el capitalismo contemporáneo: reflexiones sobre la valorización del conocimiento, Los Polvorines, Universidad Nacional de General Sarmiento, 2020.

27.Es können zwei Arten von Plattformarbeit unterschieden werden: „lokalisiert in einer bestimmten Geografie“ und „Cloud-Arbeit“ (Woodcock und Graham, 2020). Wir untersuchen hier nicht die Arbeit innerhalb von Plattformen, die von komplexen Programmierjobs bis hin zu prekären Mikroarbeitsplätzen auf globaler Ebene reicht. Ebenso wenig befassen wir uns mit Theorien über die „digitale Arbeit“ der Nutzer:innen (Srnicek, 2021).

28.IAO, World Economic and Social Outlook. Die Rolle digitaler Arbeitsplatformen für die Transformation der Arbeitswelt, 2021.

29.Ursula Huws, The algorithm and the city: platform labour and the urban environment, in: Work Organisation, Labour & Globalisation, Bd. 14, Nr. 1, 2020.

30.Matthieu Montalban, Vincent Frigant und Bernard Jullien, Platform economy as a new form of capitalism: a regulationist research programme, in Cambridge Journal of Economics, vol. 43/4, 2019, S. 805-824.

31.Jamie Woodcock, The fight against platform capitalism: an inquiry into the global struggles of the gig economy, Londres, University of Westminster Press, 2021.

32.Zitiert nach Woodcock, S. 687.

33.Interessant ist, dass diese Arbeit oft als gering qualifiziert angesehen wird, obwohl sie im Gegenteil eine Reihe von Fähigkeiten erfordert, deren Erwerb viel Zeit in Anspruch nimmt. Ein großer Teil dieser Ausbildung findet zu Hause statt (und ist Teil der allgemeinen Reproduktion der Arbeitskraft, die unterschiedliche Qualifikationen für Männer und Frauen entwickelt) und unterliegt dem, was Daniele Kergoat die „Naturalisierung der Qualifikationen von Frauen“ nennt (das heißt die Auffassung, dass bestimmte erworbene Qualifikationen in der Tat „natürlich“ und daher weniger wertvoll seien). Ein anderer wichtiger Teil findet jedoch in formalen Bildungseinrichtungen statt, deren Qualifikationen vom Staat selbst (und vom Markt) abgewertet werden: Lehrer:innenausbildungsstätten, Schulen für Krankenschwestern oder Gesundheitsassistent:innen und generell Einrichtungen, in denen therapeutische Begleiter:innen, Sozialarbeiter:innen und Pflegekräfte ausgebildet werden. Auf diese Weise werden die Charakteristika der Dienstleistungsarbeit durch die Feminisierung dieser Art von Beschäftigung vertieft, die nicht nur eine wirtschaftliche Abwertung, sondern auch eine Abwertung in Bezug auf die soziale Anerkennung mit sich bringt. Siehe D. Kergoat, De la relación social de sexo al sujeto sexuado, in: Revista Mexicana de Sociología, Jahrgang 65, Nr. 4, Okt.-Dez. 2003.

34.Die Neuauflage des Buches bei Historical Materialism enthält eine ausgezeichnete einführende Studie von Susan Ferguson und David McNally. Im Jahr 2022 erschienen die französische und die brasilianische Ausgabe von Vogels Buch. Die spanische Ausgabe wird noch in diesem Jahr erscheinen.

35.Daten für Argentinien von der Arbeiter:innenbeobachtungsstelle unserer Schwesterzeitung La Izquierda Diario, unter: https://www.laizquierdadiario.com/Observatorio-Despidos-durante-la-Pandemia. Die Angaben zu Deutschland sind Bildung in Deutschland 2020 – Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt (S. 53) und dem Statistischen Bundesamt entnommen und wurden in der deutschen Übersetzung hinzugefügt.

36.N. Fraser, The contradictions of capital and care, in: New Left Review, Nr. 100, 2016, S. 111-132.

37.J. Womack, Posición estratégica y fuerza obrera. Hacia una nueva historia de los movimientos obreros, Mexiko, FCE, 2008.

38.Dies ist wichtig, weil Womack selbst einräumt, dass es andere strategische Positionen gibt, die nichts mit Arbeit zu tun haben: „Es ist auch kein Argument gegen die Idee (eher die häufige Tatsache), dass es strategische Positionen in kulturellem, moralischem, sozialem, kommerziellem, politischem, rechtlichem und anderem Sinne gibt, sowie Strategien, die auf der Grundlage dieser Positionen entwickelt werden“ (a.a.O., S. 51). Diese anderen Positionen sind jedoch weder exklusiv für die Arbeiter:innenklasse als solche, noch hängen sie mit der konkreten Arbeit zusammen, die sie verrichten, sondern werden mit anderen Klassen geteilt. Dasselbe könnte man von der „institutionellen Macht“, der „sozialen Macht“ und der „Zirkulationsmacht“ im Rahmen des Machtressourcenansatzes sagen. Was wir hier hervorheben wollen, ist, dass die sozio-reproduktive Macht eine Macht der Arbeiter:innen als solche ist, die sich aus der von ihnen geleisteten Arbeit und der Fähigkeit dieser Arbeit ergibt, die Bedingungen der sozialen Reproduktion der Gemeinschaft direkt zu beeinflussen. Aus diesem Grund kann sie unter dem Gesichtspunkt der strategischen Position betrachtet werden.

39.Stefan Schmalz betrachtet in seinem Artikel Los recursos de poder para la transformación sindical (Nueva Sociedad, Nr. 272, 2017) das, was er als „Reproduktionsmacht“ bezeichnet, als eine Form der strukturellen Macht – ebenso wie die „Zirkulationsmacht“ – und wendet es auf jede:n Arbeiter:in an, der:die soziale Reproduktionsaufgaben wahrnimmt, ohne zu unterscheiden, ob er oder sie diese in Institutionen oder zu Hause ausführt. Dieses Konzept hat unserer Meinung nach jedoch zwei Schwächen. Erstens wird der Begriff der strukturellen Macht so weit gefasst, dass er von der Stellung der Arbeiter:innen im Produktionssystem abgekoppelt wird: Die Macht der Bewegung ist beispielsweise eine Ressource, die sowohl von Arbeiter:innen als auch von Kapitalist:innen genutzt werden kann. Ein Beispiel dafür sind die Straßenblockaden der Bosse in der Landwirtschaft in Argentinien, um mit dem Staat über die Höhe der einbehaltenen Steuern zu verhandeln. Zweitens löst er die spezifischen Merkmale der sozio-reproduktiven Macht, die sich aus der besonderen Stellung dieser Lohnempfänger:innen als solche ergeben, nicht im produktiven, sondern im sozio-reproduktiven System in einem etwas abstrakten Begriff der strukturellen Macht auf. Wie wir weiter unten sehen werden, ist das, was hier als „sozio-reproduktive Macht“ bezeichnet wird, nicht nur direkt mit den Merkmalen der konkreten Arbeit verbunden, die von jeder:m Arbeiter:in verrichtet wird, sondern auch mit der kollektiven Form, die diese Arbeit in den Einrichtungen (Krankenhäuser, Schulen, Pflegeheime und so weiter) annimmt, in denen sie geleistet wird.

40.E. O. Wright, Working class power, capitalist class interest, and class compromise, in: American Journal of Sociology, Nr. 105, Bd. 4, 2000, S. 957-1002.

41.Beverly J. Silver, Forces of Labor. Workers‘ Movements and Globalization since 1870, University of Cambridge, 2003.

42.Wie Beverly J. Silver in der Auseinandersetzung mit einseitigen Ansichten über Offshoring scharfsinnig hervorhob, bedeutet jedes Offshoring, dass die Beziehung zwischen Kapital und Arbeit an einen anderen Ort verlagert wird, und damit auch die Arbeiter:innenbewegung. Siehe a.a.O., Anmerkung 41.

43.In diesem Sinne unterscheidet sich der Sektor der entlohnten sozialen Reproduktion von anderen Dienstleistungssektoren, in denen, wie Jason Smith hervorhebt, die Nicht-Automatisierung mit einer reinen Kosten-Nutzen-Rechnung zusammenhängt: Wenn Arbeit reichlich vorhanden und billig ist, ist die Automatisierung zur Besetzung prekärer Arbeitsplätze nicht rentabel. „Wenn die Entscheidung, ob ein Kapitalist Maschinen einsetzt, davon abhängt, ob die Kosten für die in der Maschine vergegenständlichte Arbeit niedriger sind als die Kosten für die Arbeit, die sie ersetzt, dann kann ein drastischer Rückgang der Löhne in der Tat ausschlaggebend für die Entscheidung eines Unternehmers sein, keine Maschinen einzusetzen, selbst wenn er es wollte“ (Jason Smith, Smart Machines and Service Work: Automation in an Age of Stagnation, London, Reaktion Books, 2020, S. 132, eigene Übersetzung). Im Gegensatz zu diesem von Smith aufgezeigten Trend ist eines der in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern beobachteten Phänomene das Vorhandensein unbesetzter Stellen (sowohl im Gesundheits- als auch im Bildungswesen), die aufgrund des Mangels an verfügbaren Arbeitskräften nicht besetzt werden. Dieses Phänomen hat mit den niedrigen Löhnen in diesem Sektor zu tun, was dazu führt, dass qualifizierte Arbeitskräfte für die Aufgaben der bezahlten sozialen Reproduktion lieber andere, besser bezahlte Arbeitsplätze annehmen. Nach Angaben des Royal College of Nursing (RNC) in England während des historischen Streiks im Dezember 2022 gibt es in England 47.000 unbesetzte Stellen in der Krankenpflege aufgrund der „schlechten Bezahlung“. Diese Tatsache wird zynisch ausgenutzt, oft zugunsten von Anpassungsprogrammen der Regierungen zur Kürzung von Diensten oder Zeitfenstern in öffentlichen Einrichtungen, was den Trend zur Privatisierung und das Wachstum der Gesundheits-, Bildungs- und Pflegebranche als Nische für die Kapitalakkumulation verstärkt.

44.Im Falle Argentiniens beispielsweise hat jeder Bezirk sein eigenes Lehrer:innenstatut, das die Bildungstätigkeit in diesem Gebiet regelt. Der Kern dieser Gesetze ist jedoch für alle Bezirke gleich, da er auf nationaler Ebene in der Gesetzgebung festgelegt wird.

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