Wohin geht der deutsche Imperialismus? Der Kampf gegen Krieg und Aufrüstung

06.03.2022, Lesezeit 10 Min.
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Illustration: Ideas de Izquierda

Der reaktionäre Einmarsch Russlands in die Ukraine verändert die internationale geopolitische Lage grundlegend und führt zu einer seit Jahrzehnten nicht gesehenen Rüstungseskalation im Herzen Europas. Welche Aufgaben haben Linke und Gewerkschafter:innen in dieser Situation?

Der reaktionäre Einmarsch Russlands in die Ukraine verändert die internationale geopolitische Lage grundlegend und führt zu einer seit Jahrzehnten nicht gesehenen Rüstungseskalation im Herzen Europas. Während Putins Truppen Kiew umzingeln und andere ukrainische Städte bombardieren, wächst die Welle der Empörung angesichts der Bilder des Einmarsches in ukrainische Städte, zerstörter Gebäude und mehr als einer Million Menschen, die aus der Ukraine fliehen und in EU-Ländern Schutz suchen.

Die Ablehnung des reaktionären Einmarsches Russlands in der Ukraine in der Bevölkerung nimmt weiter zu, was vor einer Woche in einer Großdemonstration in Berlin zum Ausdruck kam. Und während sich Tausende von Menschen in Deutschland mit den aus der Ukraine ankommenden Gelüchteten solidarisieren und sie mit Schlafplätzen, Lebensmitteln und Kleidung versorgen, zeigt die deutsche Grenzpolizei wieder einmal ihr rassistisches Gesicht, indem sie weiße ukrainische Gefüchteten von Schwarzen Geflüchteten trennt, die sie an der Einreise ins Land hindert.

Gleichzeitig liefern die NATO-Länder Waffen an die Regierung Selenskij und stocken ihre Truppen und Kriegsschiffe in den an Russland angrenzenden Ländern auf. Obwohl die NATO vorerst nicht mit eigenen Truppen in der Ukraine eingreift und Selenskijs Forderung nach einer Flugverbotszone abgelehnt hat, ist eine weitere Eskalation nicht auszuschließen und könnte weitere europäische Länder direkt in den Krieg mit Russland verwickeln.

Nachdem die Bundesregierung lange Zeit Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die ukrainische Regierung abgelehnt hatte, änderte sie ihre Position schließlich schnell. Zunächst mit dem Stopp der Gaspipeline Nordstream 2, die bisher zu den geopolitischen Projekten der Bundesregierung gehört hatte. Und dann mit der Ankündigung einer „Zeitenwende“ in der deutschen Außenpolitik durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am vergangenen Wochenende: Es wurde beschlossen, Waffen in die Ukraine zu schicken, die deutsche Militärpräsenz an der russischen Grenze und in der Ostsee zu verstärken und – vor allem – den Militäretat auf ein Niveau zu erhöhen, das es in der deutschen Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben hat. Außerhalb des regulären Haushalts wird ein Sonderfonds mit zusätzlichen 100 Milliarden Euro eingerichtet, der sogar im Grundgesetz verankert werden soll. Darüber hinaus wird der jährliche Militärhaushalt, der bereits knapp 50 Milliarden Euro betrug, auf mehr als 2 Prozent des BIP, d. h. auf über 70 Milliarden Euro pro Jahr, erhöht.

Um ein paar Zahlen zu nennen, wie der Sonderfonds ausgegeben werden soll: Nach vorläufigen Berichten werden Drohnen, Panzer, Kriegsschiffe, neue F35-Kampfflugzeuge aus den USA für allein 15 Milliarden Euro und Munition im Wert von 20 Milliarden Euro gekauft. Zudem wird in Hyperschallwaffen und digitale Kriegsführung investiert.

Wie zu erwarten war, sind mit der Ankündigung dieser imperialistischen Aufrüstung die Gewinne der großen Rüstungsunternehmen explodiert. Allein die Aktien des deutschen Unternehmens Rheinmetall stiegen nach der Ankündigung um 58 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Es handelt sich um dieselben Unternehmen, die bereits während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs mit dem deutschen Imperialismus Milliarden verdient haben.

Eine „Zeitenwende“ in der deutschen Außenpolitik

Diese imperialistische Aufrüstung der deutschen Armee ist historisch – nicht nur in ihrem Umfang, sondern vor allem in ihrer Bedeutung für die deutsche Außenpolitik. Nachdem Scholz von einer „Zeitenwende“ sprach, schlossen sich alle führenden Analyst:innen der bürgerlichen Presse – nicht nur in Deutschland, sondern international – dieser Diagnose an. Die Entscheidung ist ein Versuch, die bisher größte Schwäche des deutschen Imperialismus zu überwinden: ein Wirtschaftsriese mit einer eher begrenzten Armee, der den wachsenden geopolitischen Spannungen zwischen den Großmächten nicht gewachsen ist. In den letzten Monaten wurde viel über die Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland gesprochen, aber es stimmt auch, dass Deutschland in militärischer Hinsicht ziemlich abhängig von den USA und anderen imperialistischen Mächten wie Frankreich bleibt.

Auch deshalb, und nicht etwa, weil der deutsche Imperialismus „friedlicher“ sei als der US-amerikanische, hat Deutschland angesichts der Auseinandersetzung der USA mit Russland und China eine eher gemäßigte, schwankende Position eingenommen. Dies zeigte sich zum Beispiel beim Zögern in Bezug auf die Nordstream 2-Pipeline, die die deutsche Regierung bis zum letzten Moment nicht stoppen wollte. Doch in einer Welt, in der der Niedergang der US-Hegemonie immer deutlicher wird, wie unter anderem das Afghanistan-Debakel gezeigt hat, versucht das deutsche Kapital, seine Profite zu verteidigen, indem es militärische Unabhängigkeit von den USA anstrebt.

Diese Herausforderung ist nicht neu und wurde vor allem während der Präsidentschaft von Donald Trump diskutiert, als die deutsche Bourgeoisie zunehmend in Frage stellte, ob die wichtigste Weltmacht wirklich weiterhin das für die deutschen Profite notwendige Globalisierungsmodell garantieren würde. Tatsächlich wurde der Plan für den erwähnten 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds nicht erst letzte Woche entworfen, sondern war bereits Teil der Geheimverhandlungen zur Regierungsbildung im vergangenen Herbst, wie der Spiegel berichtete. Seine Ursprünge gehen sogar auf ein Strategiepapier aus dem Jahr 2013 mit dem Titel „Neue Macht, neue Verantwortung“ zurück, in dem bereits davon die Rede war, dass Deutschland in einer zunehmend konfliktreicheren Welt mehr militärische Verantwortung übernehmen muss.

Was sich nun geändert hat, scheint die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit zu sein. Als der damalige Bundespräsident Horst Köhler es wagte, während des Afghanistan-Krieges deutlich zu machen, dass dort tatsächlich die Interessen und Gewinne des deutschen Kapitals verteidigt werden, musste er zurücktreten. Heute argumentieren die Regierung und die bürgerliche Presse unter dem Vorwand des Krieges in der Ukraine, dass die historische Aufrüstung das Einzige sei, was den Frieden garantieren könne. Und Außenminister Baerbock von den Grünen, wie es selbst die Imperialistin Hillary Clinton nicht besser könnte, verkleidet diese Entscheidung als „feministische Außenpolitik“.

Es ist bemerkenswert, dass diese imperialistische Aufrüstung nicht von der CDU entschieden wurde (obwohl sie absolut einverstanden ist), sondern die sogenannte „Fortschrittskoalition“ mit der SPD und den Grünen an der Spitze. Dieselben Parteien, die 1999 der Bombardierung des ehemaligen Jugoslawiens zugestimmt haben, dem ersten Angriffskrieg der deutschen Armee seit 1945, mit der unglaublichen Ausrede, ein neues Auschwitz verhindern zu wollen (so der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer). Dieselben Sozialdemokraten und Grünen haben Anfang der 2000er Jahre mit der Arbeitsmarktflexibilisierung der Agenda 2010 den größten sozialen Angriff der Nachkriegsgeschichte durchgesetzt. Es ist auch dieselbe SPD, die die deutsche Arbeiter:innenklasse schon vor mehr als 100 Jahren mit ihrem Votum für die Kriegskredite 1914 in den imperialistischen Krieg getrieben hat.

Auch die Gewerkschaftsspitzen, die großen NGOs und sogar die linksreformistische Partei DIE LINKE stimmen in diesen Kriegschor ein. Sie setzen auf Sanktionen und in einigen Fällen sogar auf die Lieferung von Waffen. Der Chef der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Werneke, forderte auf der Großdemonstration mit 500.000 Menschen am vergangenen Sonntag in Berlin schärfere Sanktionen gegen Russland, erwähnte aber weder die Waffenlieferungen noch die 100 Milliarden für die Aufrüstung. Das Kommuniqué des DGB vom vergangenen Mittwoch beglückwünscht die Bundesregierung, „zu Recht verteidigungspolitisch schnell auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert“ zu haben. Und sie weisen darauf hin, dass die „dauerhafte Aufstockung des Rüstungshaushalts zur Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO […] vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften weiterhin kritisch beurteilt“ wird – also nicht wie bisher abgelehnt wird. Sie mahnen lediglich, dass „dringend erforderlichen Zukunftsinvestitionen in die sozial-ökologische Transformation und in die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates“ sicher gestellt bleiben müssen. Reiner Chauvinismus. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE) forderte sogar die Stärkung der Bundeswehr und die Rückkehr zur Wehrpflicht.

Im Moment scheint der Diskurs in der Bevölkerung Anklang zu finden. Einigen Umfragen zufolge befürworten zwei Drittel der deutschen Bevölkerung Waffenlieferungen, Aufrüstung und die Entsendung von Truppen nach Osteuropa. Das heißt aber nicht, dass sich die deutsche Friedensbewegung, die auf eine lange Tradition des Kampfes in den 1970er und 1980er Jahren, aber auch gegen den Irak-Krieg zurückblicken kann, bereits vollständig auf diese historische Wende des deutschen Imperialismus eingestellt hat. Der Sonderfonds für die Aufrüstung sorgt in der Tat für große Beunruhigung, vor allem angesichts der Politik der Bundesregierung während der Pandemie, als sie sich systematisch weigerte, die Gehälter des Gesundheitspersonals zu erhöhen und Zehntausende von medizinischen Fachkräften einzustellen, um die Gesundheitskrise zu bekämpfen. Das Gleiche gilt für die Bewegung gegen den Klimawandel: Um die imperialistische Aufrüstung zu finanzieren, haben die Grünen bereits angekündigt, dass der Kohletagebau länger als geplant aufrechterhalten werden muss. Und der Finanzminister Christian Lindner (FDP) erklärte direkt, dass die Lohnabhängigen in Deutschland für die Flugzeuge, Bomben und Munition der Bundeswehr mit Überstunden und Lohnverlusten zahlen werden.

Vor allem aber bedeutet diese Aufrüstung Deutschlands eine Stärkung der Militärmaschinerie einer der führenden imperialistischen Mächte der Welt, die den Weg für eine weitere Ausplünderung der Völker der Welt ebnet. Wir haben bereits im 20. Jahrhundert gesehen, dass der deutsche und europäische Militarismus zu nichts Geringerem als dem Ausbruch von zwei Weltkriegen und der Verstärkung der kolonialen Unterdrückung großer Teile der Welt geführt haben. Wie Rosa Luxemburg argumentierte, kann der Kampf gegen den Militarismus, um nicht in kleinbürgerlichen Pazifismus zu verfallen, nicht vom Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus getrennt werden.

Für eine antimilitaristische Bewegung gegen Putins Krieg und die Kriegseskalation der NATO

Die Ablehnung des Krieges und vor allem der imperialistischen Aufrüstung kann ein Ausgangspunkt für eine antimilitaristische und antiimperialistische Politik sein, um diese Kriegseskalation zu stoppen. Dazu gehört vor allem ein starker politischer Kampf gegen die reformistischen Bürokratien, die uns hinter die Interessen des deutschen Imperialismus und der NATO einreihen wollen, wie die Gewerkschaftsspitzen und die Führung der Partei DIE LINKE, sowie die Bürokratien der sozialen Bewegungen.

In Deutschland setzen wir uns für Resolutionen und Mobilisierungen in Betrieben und Universitäten gegen den Krieg in der Ukraine, gegen Putin und die NATO und gegen die imperialistische Aufrüstung ein und rufen gleichzeitig alle linken und gewerkschaftlichen Organisationen auf, das Gleiche zu tun, in der Perspektive einer großen Antikriegsbewegung, unabhängig von den Interessen „unseres“ eigenen Imperialismus.

Als erstes Beispiel konnten wir von RIO und Klasse Gegen Klasse letzte Woche in einer großen Versammlung mit Hunderten von Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser erreichen, dass mit großer Mehrheit eine Resolution gegen den Krieg und gegen die Aufrüstung verabschiedet wurde. Dieselbe Perspektive vertreten wir für eine Antikriegsbewegung an den Universitäten in der kämpferischen Tradition der Studierendenbewegung 1968.

Während wir weiterhin den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine und ein Ende der reaktionären russischen Invasion fordern, setzen wir in Deutschland auf das Entstehen einer großen Bewegung gegen Krieg und imperialistische Aufrüstung, die an die große revolutionäre antimilitaristische und antiimperialistische Tradition von Wilhelm und Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg anknüpft. Wie Wilhelm Liebknecht sagte: „Dem Militarismus keinen Mann und keinen Groschen.“ Und sein Sohn Karl Liebknecht: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“

Dieser Artikel erschien auch auf Spanisch in der Sonntagsausgabe Ideas de Izquierda.

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