Wohin geht der deutsche Imperialismus?
Der deutsche Imperialismus ist in eine Sackgasse gefahren: Krisen, Kriege und geopolitische Spannungen bringen Deutschlands Rolle in der Weltordnung ins Wanken.
Das folgende Dokument wurde zur Vorbereitung des Kongresses der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO) geschrieben, der Ende November 2024 stattfinden wird.
1. Die deutsche Außenpolitik in einem Szenario „vor 1914“
In den 1990ern meinte Helmut Kohls Außenminister Volker Rühe ironisch, Deutschland sei „von Freunden umzingelt“. Die außenpolitische Grundorientierung der BRD schien sich „triumphal“ zu bestätigen, wie Jörg Lau, außenpolitischer Korrespondent der ZEIT, im Magazin Internationale Politik schreibt:
Westbindung, Ostpolitik, europäische Integration, Engagement für Israel (und einen Palästinenserstaat), Multilateralismus, Abrüstung und nicht zuletzt: ein für die Exportnation Deutschland hoch profitabler Freihandel in einer globalisierten Welt mit immer durchlässigeren Grenzen für Waren und Informationen.
Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 ist Deutschland einer „schier endlosen Reihe von Realitätsschocks“ ausgesetzt. Sämtliche im Zitat genannten Orientierungen stehen mindestens vor ungeklärten Fragen oder befinden sich in einer fundamentalen Krise. Die vollmundig von Scholz verkündete Zeitenwende kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der deutsche Imperialismus weit davon entfernt ist, eine neue strategische Orientierung zu finden, eine neue Rolle in der sich verändernden Weltordnung.
Die unipolare Weltordnung unter Führung der USA ist am Ende, ein neues Gleichgewicht in einer multipolaren Weltordnung aus mehreren Großmächten hat sich noch nicht gefunden und kann sich ohne zwischenstaatliche Kriege nicht finden. In der Epoche des Imperialismus ist eine neue Etappe angebrochen. Nach der Jalta-Ordnung des Kalten Krieges (1945-1990) und der bürgerlichen Restauration (1990 bis zur Finanzkrise 2008, alternativ bis zum Ukraine-Krieg 2022) werden die klassischen Merkmale der Kriege, Krisen und Revolutionen wieder aktuell – letztere noch am schwächsten ausgeprägt. Die immensen weltweiten Anstrengungen zur Aufrüstung deuten darauf hin, dass die Kriege in der Ukraine und Westasien eine neue Vorkriegsperiode zwischen den Großmächten einläuten. Dazu zählen auch die neuen Bestrebungen, die nukleare Abschreckung wieder aufzubauen. Ab 2026 sollen US-amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden. Die atomare Karte ist auch für Putin die ultimative Drohung.
Claudia Cinatti verglich in einem Artikel in La Izquierda Diario im Mai das Szenario mit der Periode „vor 1914″, als Militarisierung, regionale Kriege und Krisen zwischen den imperialistischen Mächten die Spannungen bis zum Anschlag brachten und sich schließlich im Ersten Weltkrieg entluden:
Die von den USA angeführte neoliberale Ordnung, die in der Zeit unmittelbar nach dem Kalten Krieg unangefochten die Führung innehatte, befindet sich wahrscheinlich in einer tiefen Krise. Die „globalisierte“ Welt unter der Führung Washingtons weicht einer neuen Anordnung „vor 1914“ Vor dem Hintergrund des Niedergangs der liberalen Demokratien und der „cäsaristischen“ Bestrebungen [autoritäre Herrschaftsform] kehren verschiedene politische Entwicklungen zurück. Dazu gehören protektionistische Tendenzen der imperialistischen Länder, wie Bidens jüngste Zölle von 100 Prozent auf Elektroautos aus China. Auch die Rivalitäten zwischen den Großmächten treten wieder hervor. Zudem herrscht Krieg im Herzen Europas, begleitet von einem weiteren Konflikt mit internationaler Dimension im Nahen Osten. Wir stehen noch nicht am Anfang eines ‚Dritten Weltkriegs‘, d.h. einer offenen militärischen Auseinandersetzung um die Weltherrschaft, aber ein gefährlichesInterregnum[Zwischenphase zwischen Herrschaftsformen] hat sich aufgetan.
Trotz all der Schrecken, die die Kriege schon jetzt annehmen, ist die Definition wichtig, dass es keinen Automatismus zu einem „Dritten Weltkrieg“ gibt. Die geopolitischen Spannungen sind noch nicht total genug, die Produktion ist noch nicht auf Kriegswirtschaft umgestellt. Und insbesondere hat der Klassenkampf noch keinen grundlegenden Einfluss auf die internationale Situation genommen – er wird jedoch mit zunehmenden Konflikten eine zentralere Rolle spielen, mit der Möglichkeit, politische Szenarien grundlegend zu verändern. Die Klimakatastrophe heizt als weitere Konfliktursache und Brandbeschleuniger die Dynamiken weiter an: Hungersnöte, Aufstände, Fluchtbewegungen und Kriege in Folge von Dürren und Überschwemmungen sind schon jetzt zu einem treibenden Faktor der Politik geworden.
Die Kriege in der Ukraine und Westasien haben der Legitimität der deutschen Außenpolitik einen schweren Schlag verpasst. Wachsende Teile der Bevölkerung sind mit der Ausrichtung unzufrieden (was nicht gleichbedeutend ist mit einer progressiven Kritik an ihr). Die Leute fühlen, dass der deutsche Imperialismus in eine strategische Sackgasse gefahren ist. Dies drückt sich aus in den Forderungen von Seiten der AfD und von BSW bzw. der klassischen Friedensbewegung nach einem Frieden mit Russland.
Auch wenn Teile des deutschen Regimes zu dieser Position vermitteln (etwa die CDU im Osten), so ist die Forderung nach einer Absage an die NATO und eine offen pro-russische Position in der Großbourgeoisie derzeit nicht vorhanden. Mittelfristig gibt es für den deutschen Imperialismus heute keine Alternative zur NATO. Aber die derzeit stattfindende Blockbildung NATO gegen Russland-China ist nicht automatisch in Stein gemeißelt. Die Differenzen zwischen den USA und Europa werden tendenziell eher größer. Die USA wird Druck machen, dass sich Deutschland gegen China positioniert. Ein von den USA aufgezwungener verschärfter Handelskrieg und geopolitische Konfrontationen mit China könnten aber schwerwiegende politische und wirtschaftliche Folgen haben, die die deutsche Bourgeoisie nur mitgehen wird, wenn sie keine Wahl hat. Die Aufrüstungsbemühungen stehen auch im Kontext davon, Europa eigenen militärischen Handlungsspielraum zu verschaffen und eine unabhängige Position einnehmen zu können.
Langfristig können auch wechselnde Bündniskonstellationen möglich sein. Um die Analogie der Situation „vor 1914“ zu ziehen: In etwa bis 1905 bestand die strategische Ausrichtung des deutschen Kaiserreichs darin, mit dem Flottenbauprogramm England die Seeherrschaft streitig zu machen und trotzdem zwischen Russland und England zu balancieren, bei gleichzeitiger Isolation Frankreichs. Die russische Revolution 1905 machte dieses Gleichgewicht zunichte, Russland konnte nicht mehr als Gegenspieler zu Großbritannien fungieren. Bis 1908 änderten sich die Bündniskonstellationen und Deutschland geriet in Isolation. Auch vor dem Zweiten Weltkrieg war lange nicht ausgemacht, ob sich die Westalliierten mit Nazi-Deutschland oder der Sowjetunion verbünden würden. Diese Vergleiche sollen zeigen, dass schroffe Wendungen keineswegs unmöglich sind. Der Ukraine-Krieg war in dieser Hinsicht bereits eine strategische Niederlage für den deutschen Imperialismus, der seine Kooperation mit Russland verloren hat – etwas, worauf die USA aktiv hingearbeitet haben.
Der deutsche Versuch, zwischen China und den USA zu balancieren, wird sich nicht ewig aufrechterhalten lassen. Auch wenn es heute nicht als wahrscheinlichstes Szenario erscheint, müssen wir auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Deutschland eine Nähe zu China suchen könnte (zu den wirtschaftlichen Bedingungen Siehe Punkt 5) oder versuchen könnte, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren. Eine dauerhafte Front im Osten wäre für das deutsche Kapital äußerst kostspielig und könnte die politische Legitimität jeder Regierung untergraben sowie ihre Fähigkeiten, Europa anzuführen. Zu erinnern sei, dass bis zum Ukraine-Krieg das deutsche Verhältnis zu den USA kühl war, ja die NATO von Trump und Macron gar angezählt wurde. Ein Ende des Krieges würde die Frage nach der Ausrichtung des transatlantischen Bündnisses und der weiteren Konstellationen neu stellen.
2. Ukraine-Krieg: Verhandlungen zu welchen Bedingungen?
Nachdem die US-Hegemonie schon in den letzten Jahren schwächelte (etwa mit dem Rückzug aus Afghanistan), stellte der Ukraine-Krieg einen entscheidenden Bruch in der internationalen Ordnung dar. Es war der Versuch Russlands, nicht nur seine Stellung in Europa zu stärken, sondern auch die bestehende Weltordnung unter US-Führung zu untergraben. Er ist damit eine der Fronten in der wachsenden Blockkonfrontation, die sich auch in einem drohenden Flächenbrand in Westasien ausdrückt und die zudem z.B. mit einem Konflikt um Taiwan heißer werden könnte. Je nach Ausrichtung der künftigen US-Präsidentschaft könnten sich die USA an verschiedenen Fronten stärker einsetzen (Harris für Ukraine, Trump für Israel). Putin dürfte auf einen Sieg Trumps spekulieren, der ihm in die Karten spielen könnte:
Die Lage in der Ukraine ist düster. Das Ende der Kursk-Offensive ist zwar noch nicht absehbar, aber wenn der Krieg so weitergeht wie bisher, läuft alles auf einen russischen Sieg durch ukrainische Erschöpfung hinaus.
Diese Einschätzung schilderten im September Claudia Major und Jana Puglierin im Magazin Internationale Politik. Nach ihnen geht es für den Westen darum, eine „totale“ Niederlage der Ukraine abzuwenden. Russland führt im Ukraine-Krieg systematische Zerstörungen durch, insbesondere gegen kritische Infrastruktur wie die Energieversorgung. Die Ukraine ist dem militärisch nur unzureichend gewachsen, da es ihr an Flugabwehrsystemen, modernen Kampfflugzeugen, Munition, Präzisionsschlagfähigkeiten, Drohnenabwehr sowie an Ressourcen für Wartung und Nachlieferungen von Rüstungsgütern mangelt. Während Russland seine Rüstungsproduktion hochgefahren hat und durch Kooperationen mit Ländern wie Iran, Nordkorea und China unterstützt wird, bleibt der Westen hinter den notwendigen militärischen und logistischen Hilfen für die Ukraine zurück. Moskau rechnet damit, durch eine langwierige Abnutzungstaktik zu gewinnen, während die westlichen Unterstützer zögern, ausreichende Ressourcen zu mobilisieren oder Kiew militärische Mittel zu geben, um Gebiete zurückzuerobern.
Trotz westlicher Unterstützung gibt es drei große Hindernisse: 1) Europa sieht sich nicht willens oder in der Lage, die notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen; 2) der Westen zeigt keine Bereitschaft, militärische Risiken gegen die Nuklearmacht Russland einzugehen, die Kiew über eine bloße Verteidigung und punktuelle Konteroffensiven hinaus stärken würden; 3) es ist weder dem Westen noch der Ukraine gelungen, Russland international zu isolieren. Sollte die westliche Unterstützung in ihrer derzeitigen Form bestehen bleiben oder nachlassen, droht die Ukraine gezwungen zu sein, einem Friedensschluss zu russischen Bedingungen zuzustimmen, was den Verlust von etwa 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets bedeuten könnte.
In der Ukraine wächst zwar die Bereitschaft zu Gebietsabtretungen im Austausch für Frieden, aber eine Mehrheit lehnt dies weiterhin ab. Der Westen steht vor der Frage, unter welchen Bedingungen ein Waffenstillstand für die Ukraine akzeptabel wäre, zumal ein solches Abkommen russische Besatzungen vorübergehend legitimieren könnte. Für Kiew könnte der Erhalt der staatlichen Souveränität, die wirtschaftliche Wiederaufbauperspektive durch eine EU-Integration sowie langfristige Sicherheitsgarantien, etwa durch die NATO oder multilaterale Abkommen, solche Bedingungen für einen Frieden schaffen.
Ein totales Scheitern der Ukraine hätte gravierende Folgen. Millionen Geflüchtete könnten nach Europa strömen, die EU und die NATO würden geschwächt, während Russland und andere Länder durch den Erfolg der militärischen Gewalt ermutigt würden. Ein solches Szenario wäre besonders gefährlich für Länder wie Deutschland, das auf internationale Stabilität und funktionierende Handelsströme angewiesen ist.
Die Ukraine und auch Deutschland fürchten, dass Trump als US-Präsident die militärische und finanzielle Unterstützung drastisch reduzieren oder gar stoppen könnte. Er hat bereits in der Vergangenheit signalisiert, dass er die US-Hilfe für die Ukraine kritisch sieht und lieber eine Verhandlungslösung forcieren würde, möglicherweise zu Bedingungen, die Wladimir Putin bevorzugt.
Daher wurden in den letzten Wochen verstärkt Überlegungen zu einer Beendigung des Krieges diskutiert. Für die Tagesschau analysiert Gustav Gressel den „Siegesplan“ Selenskyjs: Dieser Plan solle verhindern, dass die Ukraine gezwungen wird, zu ungünstigen Bedingungen mit Russland zu verhandeln. Selenskyj versucht, den Westen zu einer klaren Strategie zu bewegen, anstatt nur kurzfristige Unterstützung zu erhalten, die nicht auf konkrete Ziele ausgerichtet ist. Er will verhindern, dass Zugeständnisse an Russland gemacht werden, beispielsweise durch einen Waffenstillstand ohne NATO-Beitritt.
Gressel betont, dass es wichtig sei, Russland militärisch unter Druck zu setzen, um es an den Verhandlungstisch zu zwingen. Dabei könnte der Einsatz moderner Langstreckenwaffen, auch gegen Ziele auf russischem Boden, eine Rolle spielen. Ein solcher Einsatz würde die Fähigkeit Russlands, aus frontnahen Flughäfen Angriffe durchzuführen, erheblich einschränken.
In einem Debattenbeitrag in der FAZ sprachen zuletzt auch die CDU-Vorsitzenden Thüringens und Sachsens, Voigt und Kretschmer, sowie Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Woidke dafür aus, dass Deutschland zu einer Verhandlungslösung beitragen solle:
Um Russland an den Verhandlungstisch zu bringen, braucht es eine starke und geschlossene Allianz. Deutschland und die EU haben diesen Weg noch zu unentschlossen verfolgt. Je breiter die internationale Allianz aufgestellt ist, desto größer wird der Druck. Es geht darum, einen Waffenstillstand zu erreichen und der Ukraine belastbare Sicherheitsgarantien zu bieten. Unsere wirtschaftliche Stärke kann dabei ebenso ein Hebel sein. Die Bundesregierung muss ihre außenpolitische Verantwortung durch mehr erkennbare Diplomatie aktiver wahrnehmen. Deutschland kann und sollte – wie in früheren Jahrzehnten durch Politiker wie Helmut Kohl, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher – stärker als Vermittler auftreten. Wir wollen eine aktivere diplomatische Rolle Deutschlands in enger Abstimmung mit seinen europäischen Nachbarn und Partnern.
Damit gehen sie angesichts der Koalitionsverhandlungen im Osten in ihrem Dialog einerseits auf die Kriegs-kritischen Stimmen in Deutschland ein, wie sie durch das BSW ausgedrückt wird. Gleichzeitig betonen sie aber auch die Notwendigkeit, dass Deutschland Stärke zeigt. Unter dem Druck der militärischen Lage und dem noch unklaren Übergang im Weißen Haus dürften die Überlegungen zu Verhandlungen an Präsenz zunehmen.
3. Das Ende der „europäischen“ US-Präsidentschaften
Unter einer Präsidentin Kamela Harris würde die militärische Unterstützung der Ukraine vermutlich fortgesetzt werden, aber mit eigenen Widersprüchen (dazu unten mehr). Deutlich unberechenbarer wäre hingegen Trump. Wie seine Ukraine-Politik aussehen könnte, beschreiben die Analystinnen Sophia Besch und Liana Fix:
Das Szenario: Trump wird gewählt und plant direkt nach seiner Vereidigung eine Friedenskonferenz mit Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj. […] Trump verlangt von den Europäern mitzumachen und jeden Deal, den er aushandelt, zu unterstützen. Die Ukraine zwingt er an den Verhandlungstisch mit der Drohung, sonst alle Hilfen einzustellen, Russland mit der Drohung, sonst die Militärhilfe an die Ukraine zu verdoppeln. […] Für die Europäer stellen sich nun zentrale Fragen: Nehmen sie eine solche Friedenskonferenz als unvermeidbar hin? Versuchen sie, die Verhandlungen im Hintergrund zu beeinflussen? Und können sie dem Druck Trumps standhalten, der die Unterstützung Europas für seinen Friedensplan als Gegenleistung für amerikanische Sicherheitsgarantien in der NATO fordert? Das konkrete Szenario einer „ruhenden“ NATO ist in republikanischen Kreisen beliebt genug, dass Europäer eine solche Drohung ernst nehmen müssten.
Die Autorinnen fordern einen Plan für ebendiesen Fall: Es bräuchte eine regelmäßigen, informelle Koordination zwischen wichtigen europäischen Akteuren wie der NATO, der EU-Kommission und den Staaten Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Polen agieren. Diese Gruppe solle rote Linien festlegen, Verhandlungen mit Donald Trump vorbereiten und der Ukraine weitere Unterstützung in Form von Waffen und Sanktionen versprechen, falls Russland den zukünftigen Trump-Deal verletzt. Europa müsse zudem ein Signal setzen, dass es seine Verteidigungsausgaben bis 2035 auf drei Prozent erhöhen und dabei einen Teil in amerikanische Waffensysteme sowie in europäische Projekte investieren will, um die Allianz so neu auszurichten, dass sich die USA schrittweise aus Europa zurückziehen und sich auf den Indo-Pazifik konzentrieren können.
Friedensverhandlungen mit Russland stehen also unter dem Vorzeichen des viel umfangreichen Konflikts zwischen den USA und China. Trump könnte von Europa verlangen, Zölle gegenüber China zu erhöhen und harte Sanktionen gegen dessen Unterstützung für Russland zu verhängen. Für die USA könnte der Ukraine-Krieg damit ein Hebel sein, um Europa nicht nur von Russland zu distanzieren, sondern auch in eine Front gegen China zu bringen. Trump will vor allem verhindern, dass Europa mit China gute Geschäfte macht, während es sich gleichzeitig seine Sicherheit von den USA garantieren lässt.
Doch auch, wenn Trump eine aggressivere und unberechenbarere Strategie als Kamela Harris verspricht, steht auch für sie der strategische Schwerpunkt gegen China im Mittelpunkt. Der Think Tank Agora Strategy schreibt:
Eine Regierung unter Trump würde eventuell die von ihm vorgeschlagenen Zölle von 60 Prozent auf chinesische Waren durchsetzen. Wenn dieser Schritt nicht bloß der Beginn von Verhandlungen mit Peking sein soll, dürfte er mit ziemlicher Sicherheit einen Handelskrieg auslösen. China würde dann eventuell versuchen, seine Überkapazitäten in andere Regionen zu exportieren. Derartige Maßnahmen könnten bestimmte Produkte in Europa billiger machen, würden aber nahezu sicher Vergeltungsmaßnahmen der EU provozieren, die Inflation in die Höhe treiben und das Wachstum im eigenen Land untergraben. Eine Regierung unter Harris wird die restriktiven Maßnahmen der Biden-Administration wahrscheinlich fortführen, darunter Zölle gegen den chinesischen Markt für Elektrofahrzeuge und Ausfuhrkontrollen für kritische Güter.
Während Trump offen protektionistische Maßnahmen anstrebt, fährt Harris einen moderateren Kurs, aber keineswegs für offenen internationalen Handel. Im Wesentlichen wird sie Bidens Politik der Industriesubventionen fortführen. Zentrale Elemente sind der „Inflation Reduction Act“ (mit einem Volumen von 550 Milliarden Euro) sowie der „Chips and Science Act“ (280 Milliarden Euro), staatliche Förderungen für grüne Industrien. Diese schaffen neue Hürden für ausländische Unternehmen, indem Förderungen an „Made in America“-Regeln geknüpft werden. Dies führt zwar nicht zu klassischem Protektionismus, erschwert jedoch den Marktzugang für ausländische Firmen, bzw. zu US-Bedingungen. Biden wollte mit den Subventionen besonders High-Tech-Firmen aus dem Ausland anwerben. Die EU steuert mit eigenen Förderprogrammen entgegen, sodass ein Wettlauf um staatliche Subventionen entstanden ist. Der Finanzpolitiker Mario Draghi empfiehlt z.B. der EU ein Subventionsprogramm von 800 Milliarden Euro – Deutschland lehnt das ab, weil es keine vergemeinschafteten EU-Schulden will.
Auch sicherheitspolitisch dürfte Harris im Wesentlichen diese Politik von Biden fortführen. Sie verspricht auch die Fortsetzung der militärischen Unterstützung der Ukraine und redet dabei gar von einem Sieg, ohne ihn klar zu definieren. Eine Präsidentschaft von Harris dürfte trotzdem nicht einfach ein Weiter-So für Europa bedeuten. Sie selbst trat außenpolitisch bisher zwar wenig in Erscheinung. Einen Hinweis auf die künftige Haltung der US-Regierung zu Europa lässt sich aber aus den Positionen ihres Sicherheitsberaters Philip Gordon ziehen. Dieser ist zwar klar pro NATO und pro Waffenlieferungen an die Ukraine. Gleichzeitig plädiert er für eine größere strategische Autonomie für Europa und betont, dass „kein künftiger US-Präsident mit einem Mandat der Solidarität mit Europa gewählt werden wird, ohne die Gewissheit zu haben, dass er im Gegenzug etwas bekommt“. Dies bedeutet vor allem: Harris würde von Europa eine weitere Aufrüstung erwarten und Druck machen in einer gemeinsamen Haltung zu China. Das erwartet auch der CDU-Bundestagsabgeordnete McAllister:
Das Verhältnis zu den Alliierten und besonders zu den Europäern wird sich an der Frage messen, ob und in welchem Maße wir bereit sind, die Sicht auf China und die Politik gegenüber China mit den USA zu teilen.
Zwischen Republikanern und Demokraten herrscht Einigkeit darüber, dass sich die USA gegen China richten müssen. Die Frage ist aber durchaus wie. In Peking dürfte man über eine Präsidentschaft von Harris nicht unbedingt erleichtert sein. Unter Biden haben die USA ihre Zusammenarbeit mit Australien Japan, Südkorea, Vietnam, Indien und den Philippinen ausgebaut und die Zusammenarbeit mit der EU gesucht. Trumps „America First“ bietet hingegen Raum für mehr Differenzen zu Verbündeten, was China gelegen kommen könnte. Auch bekannte sich Trump nicht eindeutig zur Sicherheit Taiwans, anders als Harris. Trumps Drohung, 60 Prozent Strafzölle gegen China zu verhängen, wäre dagegen erstmal eine offene Verhandlungsfrage.
Ob nun Trump oder Harris ins Weiße Haus einziehen: Europa kann sich sicher sein, dass es nicht gemütlicher wird. Pointiert schreibt dazu der ZEIT-Journalist Jörg Lau:
Das transatlantische Bündnis steht nicht nur im Fall einer befürchteten zweiten Trump-Präsidentschaft vor einem Reset. Wer auch immer Joe Biden nachfolgen mag: Er ist der letzte US-Präsident, der Europas Sicherheit als amerikanisches Kerninteresse definiert.
4. Sackgasse der Westasien-Politik
Mit dem Genozid in Gaza und der Ausweitung des Krieges auf die Nachbarländer hat sich für den Westen eine schwer kontrollierbare Situation in Westasien geöffnet. Netanjahu sprach bei der UN davon, dass Israel an sieben Fronten kämpfe: im Gazastreifen, Westjordanland, gegen die Hisbollah und den Libanon im Allgemeinen, die Houthis im Jemen, pro-iranische Milizen in Syrien und im Irak und jetzt direkt gegen den Iran. Die Eskalation, die Israel gegen den Libanon führt, zielt darauf ab, die Machtbalance in der Region grundlegend zu verändern, indem die Vorposten des Iran ausgeschaltet und dieser erheblich geschwächt werden soll. Israel will dafür den Westen direkt in einen Krieg oder zumindest eine erhöhte Konfrontation gegen den Iran hineinziehen. Der Westen warnte den Iran vor Gegenschlägen, USA, Großbritannien und EU-Staaten beteiligen sich über Waffenlieferungen hinaus selbst bereits militärisch auf niedrigem Niveau am Konflikt, etwa mit der Luftabwehr von Raketen auf Israel, Bombardements im Jemen oder dem Marineeinsatz im Roten Meer. Einen direkten Krieg gegen den Iran wollen die USA vermeiden, aber sie können ihren Führungsanspruch nicht wirklich durchsetzen und haben ihren Kettenhund Israel nicht unter Kontrolle. Die historische Schwäche der USA sind der entscheidende Faktor, in dem Israel versuchen kann, offensiv aufzutreten. Trump könnte versuchen, mit einer noch direkteren Unterstützung Israels das Heft des Handelns wieder aufzunehmen. Im Wahlkampf sagte er gar, Israel solle iranische Atomanlagen angreifen. Von Harris wird erwartet, dass sie zumindest im Dialog moderater und bremsender auftreten wird
Diese Situation ist dabei, die Grundsätze der deutschen Westasien-Politik zu erschüttern. Unter Merkel bestanden diese in der Sicherheit Israels als deutscher „Staatsräson“ bei gleichzeitiger Befürwortung einer „Zwei-Staaten“-Lösung sowie der Einhegung des Iran durch eine Balance aus Kooperation und Sanktionen; besonders nach der Niederschlagung der aufständischen Bewegung 2022 mit mehr Fokus auf Repression. Kurzum: Die deutsche Vorstellung bestand darin, den Status Quo aufrechtzuerhalten. Dafür beteiligte es sich auch an der Besetzung Afghanistans und den Interventionen gegen Daesh (Islamischer Staat) in Syrien.
Nach dem 7. Oktober 2023 versuchte Deutschland einerseits Israels Vorgehen gegen die Hamas und Hisbollah zu unterstützen, wenngleich auch mit einem Dialog des humanitären Völkerrechts. In der bisher unklaren, zögerlichen, ja gänzlich hilflosen Haltung der Bundesregierung, die versucht moderierend auf Israel zu wirken und die die Eskalationsspirale zu bremsen, steht ein strategisches Dilemma. Einerseits ist Israel der entscheidende strategische Partner in der Region für Deutschland und den Westen insgesamt. Ohne die Existenz Israels wäre es unvergleichlich schwerer, in dieser wichtigen Weltregion mit verschiedenen Regionalmächten (Saudi-Arabien, Iran, Türkei, Katar, VAE, Ägypten) Kontrolle auszuüben. Mit seinen Handelswegen (Suezkanal, Straße von Hormus) und seinen Ölexporten ist die Region extrem wichtig für die Weltwirtschaft. Eine Region, in der auch Russland um Einfluss kämpft: im syrischen Bürger:innenkrieg sicherte der russische Militäreinsatz dem Assad-Regime das Überleben.
Der Spagat der deutschen Außenpolitik aus Unterstützung für Israel bei gleichzeitig humanitärem Dialog hat der Realität nicht standgehalten. Der deutsche Ruf ist mit dem Genozid in Gaza in der Region massiv beschädigt worden, was seine diplomatischen Möglichkeiten schwächt. Mit der Ausweitung des Krieges auf die Nachbarländer Israels wird der Versuch, eine „humanitäre Rolle“ einzunehmen noch aussichtsloser. Schon positionierte sich Deutschland nach der israelischen Invasion im Libanon gegen den Iran. Dieser steht als Verbündeter Chinas und Russlands sowie als Zentrum der „Achse des Widerstands“, von dem die Hisbollah, die Hamas und die Houthi abhängig sind, besonders im Fokus. Die deutschen Ansätze der „feministischen Außenpolitik“, die auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft als Gegenstück zum iranischen Regime abzielte, zeigen ebensowenig Früchte, wie der Versuch, das Atomabkommen mit dem Iran wiederzubeleben, das von Trump 2018 aufgekündigt wurde.
Trotz der zunehmend gespannten Lage betonte die Bundesregierung im Sommer 2024 weiter die Notwendigkeit der Diplomatie mit dem Iran. Einen Antrag der Union lehnte sie ab, der die Listung der iranischen Revolutionsgarden als Terrororganisation sowie neue Sanktionspakete vorsah. In einem Positionspapier schrieb die CDU/CSU im April:
Wir erkennen an, dass das iranische Regime ein umfassender Gegner ist und wir unseren politischen Grundreflex gegenüber der Islamischen Republik Iran entsprechend ändern müssen. Das heißt auch, dass wir uns gegenüber dem Regime in Teheran nicht mehr auf zeitraubende und ergebnislose Scheindiskussionen einlassen.
Dabei schlugen sie die Unterstützung Israels bei der Bildung einer Anti-Iran-Koalition mit „moderaten“ arabischen Staaten vor. Noch sind diese Vorschläge nicht Realität, aber die Dynamik des israelischen Angriffs auf den Libanon macht eine solche konfrontativere Logik in der deutschen Außenpolitik in Zukunft möglich. Wie weit diese geht, wird von den Ereignissen in der Region selbst abhängen sowie auch der Positionierung einer künftigen US-Präsidentschaft. Netanjahu hatte Ende September angedeutet, einen Regime Change im Iran anzustreben. Weder Trump noch Harris ließen sich in der Vergangenheit zu solchen weitgehenden Äußerungen hinreißen. Die Tendenz zu einem „totalen“ Krieg wird vorerst dadurch gebremst, dass diesen außer Israel eigentlich niemand will: Die USA nicht, Europa nicht, der Iran nicht, ja auch China steht eher passiv an der Seitenlinie im Wissen, dass noch größeres Chaos in der Region die Handelswege und Ölimporte auch für sich gefährden würde. Das muss aber nicht so bleiben. Russland und China könnten nach Chancen suchen, Einfluss geltend zu machen, indem sie zum Beispiel Angriffe von Proxys auf den Suez Kanal als Erpressungsmittel nutzen oder die Kontrolle über den Iran zu bekommen. Auch die USA könnten (gerade unter einer Trump-Präsidentschaft) schärfer auftreten. Ein weiterer Stellvertreterkrieg des Westens gegen den russisch-chinesischen Block ist eine Möglichkeit. Sicher ist jetzt schon: Der Versuch Israels, das Kräfteverhältnis in der Region von Grund auf zu verschieben, kann heute noch unabsehbare Dynamiken befördern und die bisherige deutsche Außenpolitik noch weiter ad absurdum führen.
Zudem könnte ein dynamisiserender Faktor die Situation nochmals grundlegend verändern: Das Eingreifen von aufständischen Massen in den politischen Prozess. Die Auswirkungen des sogenannten Arabischen Frühlings halten bis heute an mit Militäreinsätzen und konterrevolutionären Prozessen. Die Kollaboration von Staaten wie Ägypten und Jordanien mit dem Westen und Israel, der Autoritarismus der Regime, die teils katastrophalen sozialen und ökonomischen Bedingungen können die Wut der Massen entfachen. Nationale Befreiungsbewegungen und chaotische Szenarien von Revolutionen, Konterrevolutionen und Kriegen können sich vermengen. Doch anders als in den 2010er Jahren würde jeder Versuch von ausländischen Interventionen in einem ungleich größeren Spannungsverhältnis der Regional- und Großmächte stattfinden.
5. Strukturkrise und Protektionismus
Angesichts der zunehmenden Spannungen der Großmächte und sich abzeichnender Handelskriege steht der Begriff der De-Globalisieurung vermehrt in der öffentlichen Diskussion. Die Finanzkrise 2007/08 ließ die Illusionen eines ungezügelten kapitalistischen Wachstums in sich zusammenbrechen. Das Wachstum der 1990er Jahre, das auf dem Ausverkauf der ehemaligen Arbeiter:innenstaaten basierte und der Eingliederung von Millionen Menschen in die kapitalistische Ausbeutung, ging einher mit einer nie zuvor gesehenen Öffnung der Finanzmärkte, spekulativen Aktiengeschäften und globalisiertem Handel. Dieses Modell geriet mit dem Finanzcrash 2007/08 an seine Grenzen.
Das Kapital fand im Westen keine profitablen Anlagen mehr, viele Investitionen gingen nach China, das in der Zeit der Krise zur Lokomotive der Weltwirtschaft wurde, worauf es seine heutige Rivalität mit den USA entwickelte. Deutschland geriet bereits in den frühen 2000ern in eine Schwächephase mit niedrigen Wachstums- und hohen Arbeitslosenzahlen, trotz wachsender Exporte aufgrund der Einführung des Euros. Die Schröder-Regierung erhöhte mit der Agenda 2010 (Hartz-Gesetze) den Druck auf die Arbeiter:innenklasse und schuf vorübergehend den größten Niedriglohnsektor Europas (2007 fast ein Viertel der Beschäftigungsverhältnisse). 2007/08 platzten die Spekulationsblasen, die Banken gerieten in ernste Krisen, die Staaten versuchten diese mit Rettungsprogrammen zu stützen. Während dies für Deutschland machbar war, stürzten die Länder der europäischen Peripherie in tiefe Schuldenkrisen. Mit Hilfe der Europäischen Zentralbank, dem Internationalen Währungsfonds und der EU zwang Deutschland die Staaten wie Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Irland zu immensen Spardiktaten und Privatisierungen.
Die deutsche Wirtschaft mit ihren kapitalstarken Konzernen und dem großen Niedriglohnsektor konnte in diesen Jahren einen immensen Leistungsbilanzüberschuss aufbauen. Das bezeichnet die Gewinne aus Exporten sowie Profite durch Auslandsinvestitionen, die die Kosten von Importen und Vermögensabflüssen übersteigen. Die Leistungsbilanz, die während der kompletten 1990er Jahre negativ war, wuchs mit der Einführung des Euros 2000 und dann der Eurokrise um 2010 auf ein Plus von jährlich um die 250 Milliarden Euro in den Jahren um 2015. Bezahlt wurde dies auf Kosten der Abnehmer: Den Wirtschaften Frankreichs und Südeuropas sowie der USA. Der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands baute auf Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Verschuldung in anderen Ländern auf. Die Wahl Trumps 2017 war mitunter eine Reaktion auf die enormen deutschen Exportüberschüsse. Statt deutsche Autos zu kaufen, sollte die amerikanische Industrie wieder hochgezogen werden. Das in den 2010er Jahren bis zur Perfektion entwickelte deutsche „Geschäftsmodell“ beschreibt Winfried Kurtzkie in der Zeitschrift für marxistische Erneuerung folgendermaßen:
Mit dem Import günstiger Konsumgüter und günstiger Energie wurde der Lebensstandard gesichert. Gleichzeitig haben niedrige Energie- und Rohstoffpreise sowie die Einfuhr von industriellen Vorleistungsgütern aus Staaten mit erheblich niedrigerem Lohnniveau die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie gesteigert. Das hat zu den großen Exporterfolgen beigetragen und somit relativ gut bezahlten industrielle Arbeitsplätze gesichert und den exportierenden Konzernen hervorragende Profite beschert. Doch dieses Modell stößt schon seit längerem an seine Grenzen.
Symbolisch markiert der 2015 in die Öffentlichkeit gekommene VW-Abgasskandal die Grenze dieses Modells. Jahrelang hatte Volkswagen gefälschte Daten zu seinen Autos veröffentlicht. Nun zeigte sich: Der Verbrennermotor, das Prestigeprodukt der deutschen Industrie, war doch nicht so fortschrittlich wie behauptet. Seit 2016 ist die Leistungsbilanz rückläufig, die Konkurrenz vor allem der chinesischen Autohersteller wächst. Auf der anderen Seite des Ozeans machte Trump mit seinen Strafzöllen den Schritt von der Globalisierung zum Protektionismus. Die Verhandlungen über Freihandelsabkommen wurden abgebrochen. Auch Joe Biden sollte sie nicht mehr aufnehmen, wie seine Subventionspolitik zeigte.
Die bereits schwelende Krise, die sich Ende der 2010er Jahre für das deutsche Geschäftsmodell andeutete, machte 2020 mit der Corona-Pandemie einen eklatanten Sprung. Lieferketten brachen zusammen, es kam in der Industrie zu Materialengpässen, die die Verwundbarkeit der europäischen Wirtschaft zeigten. Die Globalisierung mit ihrer weltweit verketteten Just-In-Time-Produktion offenbarte ihre Anfälligkeit. Spätestens mit dem Ukraine-Krieg brachen endgültig die Illusionen einer global vernetzten Wirtschaft. Das Ende der Handelsbeziehungen mit Russland und die umfangreichen Sanktionen zerstörten einen zentralen Pfeiler des deutschen Geschäftsmodells: den der günstigen Energie. Statt Gas und Erdöl aus Russland zu beziehen, kaufte die Bundesregierung nun überteuertes Flüssiggas aus den USA oder Katar. Mittlerweile haben sich die Energiepreise etwas normalisiert, allerdings auf höherem Niveau als vor dem Krieg. Die Versicherungskammer Bayern verglich im Oktober 2023, dass Industriekunden in Deutschland 20,3 Cent pro Kilowattstunde zahlten, im EU-Durchschnitt 19,9 Cent; USA und China hingegen jeweils gerade mal 8,4 Cent. Eine Reihe von energieintensiven Unternehmen verlagerte bereits seine Produktion in die USA oder nach China.
Neben den Strompreisen gibt es weitere Faktoren, die deutsches Kapitals nach USA und China ziehen: Hier wäre die oben genannte Verwundbarkeit der Handelswege zu nennen. Der Trend geht dahin, dass große Konzerne lieber gleich vor Ort produzieren und verkaufen. Dies hängt auch mit den zunehmenden protektionistischen Tendenzen zusammen. Waren, die in Europa hergestellt und dann in die USA oder nach China verschifft werden, drohen gegebenenfalls hohe Schutzzölle. Bei Produktion vor Ort können dafür unter Umständen Subventionen mitgenommen werden. Vom Inflation Reduction Act profitieren entsprechend auch deutsche Firmen, sofern sie genug Arbeitsplätze in den USA schaffen, um die Auflagen zu erfüllen.
Deutsche Firmen investierten 2023 laut Bundesbank 115,9 Milliarden Euro im Ausland, darunter vor allem in Beteiligungen und Finanzgeschäfte in der EU, USA und China. Andersherum investierten ausländische Firmen nur 21,9 Milliarden Euro – der niedrigste Wert seit zehn Jahren. Dies ergibt einen Kapitalabfluss von 94 Milliarden Euro. Hohe Auslandsinvestitionen sind nicht per se ein Problem, im Gegenteil ist dies ein zentrales Kennzeichen eines imperialistischen Landes. Sie werden aber dann zu einem Problem, wenn sie ein Ausdruck fehlender Wettbewerbsfähigkeit sind, weil es zu wenig rentable Anlagemöglichkeiten im Inland gibt und die Auslandsinvestitionen nicht als zusätzliches Geschäft, sondern der Standortverlagerung dienen. So interpretiert es jedenfalls das Institut der deutschen Wirtschaft, das gar vor einer Deindustrialisierung warnt, mit dem Verweis darauf, dass die Produktionszahlen unter dem Wert von vor Corona liegen: „Die Kapazitätsauslastung lag zuletzt [2024] im Verarbeitenden Gewerbe mit 77,5 Prozent um 6 Prozentpunkte unter dem langfristigen Durchschnitt.“
Während Volkswagen jetzt zum Beispiel mit Milliarden Subventionen neue Fabriken und Batterieproduktionen in den USA hochzieht, kündigen sie mit die größten Kürzungsmaßnahmen in Europa in der Firmengeschichte an – in China wollen sie übrigens auch ein Werk schließen. Besonders auf dem chinesischen Markt, der für VW und BMW in den vergangenen Jahren ein Zugpferd darstellte, geraten die deutschen Hersteller immer mehr ins Hintertreffen. Jahrelang war VW der Marktführer, 2023 wurde er von BYD abgelöst, die deutlich günstigere Elektroautos, verbunden mit digitalisiertem Service bieten. Über die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Autoindustrie schreibt Léo Valadim für Révolution Permanente:
China stellt heute nicht weniger als 22 Prozent der in Europa verkauften Elektrofahrzeuge her, gegenüber 8 Prozent vor drei Jahren, und zwar häufig mit Low-Cost-Modellen für das Einstiegssegment. Der chinesische Durchbruch, auf den alle Akteure der Branche mit dem Finger zeigen, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die amerikanische Konkurrenz einen großen Anteil am Druck auf die europäische Industrie hat, insbesondere im Premiumsegment mit Tesla. Allein das multinationale Unternehmen Tesla hat einen Marktanteil von 18,2 Prozent bei neuen Elektroautos in der Europäischen Union.Angesichts dieses Durchbruchs auf dem europäischen Markt hat die EU besondere Zölle auf chinesische Autos eingeführt, während sie ihren Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks schont und sogar die Zölle für in China hergestellte Tesla-Autos erheblich senkt. Diese Maßnahme folgt der Biden-Regierung, die ihrerseits Zölle von 100 Prozent auf chinesische Fahrzeuge verhängt hatte.
Der Versuch der EU, der chinesischen Konkurrenz durch Strafzölle zwischen 17 und 38 Prozent beizukommen, stößt bei den europäischen Autobauern nicht unbedingt auf Gegenliebe. Zum einen sind damit ihre eigenen Produkte betroffen, die sie aus China nach Europa importieren. Zum anderen fürchten sie Gegenmaßnahmen. Deutschland hatte sich gegen die Zölle gestellt, konnte sich jedoch nicht durchsetzen, was eine Schwäche seiner Führungskraft demonstriert. Doch mit oder ohne Zöllen: Die Europäer sind der Konkurrenz technisch gleich um mehrere Jahre hinterher. Gleichzeitig deutet sich bereits eine Übersättigung der Märkte an, bzw. eine geringe Nachfrage: 100.000 E-Autos sollen unverkäuflich in Europa auf Halde stehen.
Allerdings wäre die Vorstellung zu kurz gegriffen, dass die europäischen Autohersteller die Umstellung von Verbrenner auf E-Autos sowie die Digitalisierung einfach nur verschlafen hätten. Vielmehr findet eine umfangreiche Veränderung der Kapitalzusammensetzung in globalem Maßstab statt. Die neuen Technologien erfordern ein hohes Maß an Investitionen, während der Anteil der menschlichen Arbeitskraft an der Mehrwertschöpfung abnimmt.
In Deutschland findet das Kapital jedoch zu wenige Anlagemöglichkeiten, die tatsächlich lukrativ erscheinen. Eklatant zeigte sich dies mit dem Rückzug von zwei US-amerikanischen Chip-Herstellern (Intel bei Magdeburg, Wolfspeed bei Saarbrücken), die trotz Milliarden-Subventionen ihre Fabriken nun doch nicht bauen. Die Standortschwäche drückt sich in der Stagnation aus, in die die deutsche Wirtschaft seit dem Ukraine-Krieg geraten ist. Nachdem schon 2023 das BIP um 0,3 Prozent zurückging, rechnet die Bundesregierung dieses Jahr mit minus 0,2 Prozent. Für kommendes Jahr ein hauchdünnes Wachstum von 0,8 Prozent. Die Zahlen bedeuten einen der schlechtesten Werte der OECD-Länder. Der Deutsche Aktienindex DAX ist hingegen auf Rekordhoch (Stand 15. Oktober). Dafür sorgen insbesondere Gewinne deutscher Investments in den USA sowie die Aussicht nach sinkenden Leitzinsen infolge der zurückgegangenen Inflation.
Dem Wirtschaftsstandort Deutschland helfen die Profite aus den USA nur bedingt. Die Devisen werden großteils wieder vor Ort angelegt und nicht in die Erneuerung der Produktion in Deutschland gesteckt. Die Frage ist also, wie das Geschäftsmodell Deutschlands künftig aussehen sollte. Im Wesentlichen stehen sich zwei bürgerliche Ansätze im Regime gegenüber: Der Wunsch von SPD und Grünen, mittels schuldenfinanzierten staatlichen Investitionen die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen. Oder der konservativ-liberale Ansatz, über Steuererleichterungen für Unternehmen und Angriffe auf Arbeitsbedingungen, Renten, Sozialleistungen, etc. private Investitionen wieder rentabler zu machen. Im Endeffekt wird es unter einer künftigen Regierung wohl eine Mischform werden. Trotz den Beteuerungen der Union für eine Schuldenbremse könnte sie Ausnahmen einführen für Investitionen und die Aufrüstung der Bundeswehr, die von der „Kriegstüchtigkeit“ noch weit entfernt ist. Daher wird die nächste Regierung sicher auch neue soziale Angriffe durchführen.
6. Tendenzen zu einer Hegemoniekrise des Regimes
Der moderierende Merkelismus hatte unter der sich verändernden geopolitischen Lage (Krieg in Syrien, US-Rückzug aus Afghanistan, Trumpismus, Handelskrieg, Corona, Autokrise) schon vor dem Ukraine-Krieg seine integrative Kraft eingebüßt. Eine Nachfolgeregierung musste neue Wege finden, das deutsche Kapital zu stärken. Die Ampel war entsprechend mit dem Versuch angetreten, ein neues hegemoniales Projekt zu entwickeln, ein Bündnis (a) zur grünen Modernisierung der Großindustrie (b) unter Beteiligung der Arbeiter:innenaristokratie mit integrativen sozialen Maßnahmen zur Stabilisierung des gesellschaftlichen Gefüges und darin besonders des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, (c) bei gleichzeitiger Konsolidierung der Staatsfinanzen nach den gewaltigen Corona-Paketen. Auch ohne Krieg war das Unterfangen aussichtslos, mit der andauernden Krise der geopolitischen Stellung Deutschlands seit dem Ukrainekrieg und der forcierten und dennoch mit unzähligen Problemen behafteten militärischen „Zeitenwende“, die auf dem Rücken der großen Mehrheiten ausgetragen wird, hat sich diese Krise noch verschärft. Die inneren Konflikte der Koalition sind ebenso wie die massive Legitimationskrise der Ampel ein Ausdruck davon. Diese zeigt sich nicht nur in hohen Zustimmungswerten für die AfD, sondern in einem weit verbreiteten Vertrauensverlust insbesondere in die Ampelregierung, die noch nie so unbeliebt war wie heute.
Ihre Ursachen finden sich in der antisozialen Modernisierungspolitik der Grünen (siehe Heizungsgesetz), in dem zunehmenden Verfall von Infrastruktur, Gesundheit, Bildung, etc., in der Krise in der Sozial- und Beschäftigungsstruktur (Fachkräftemangel, Rente), in den Unsicherheiten und der Wut, die die Corona-Maßnahmen hinterlassen haben. Im Krieg, nicht unbedingt als ideologischer Ablehnung von Militarismus, sondern aus der Ablehnung der Konsequenzen (Inflation, Energie, Sparmaßnahmen, Sanktionen, Geflüchtete aus der Ukraine und Nahost etc.). Vor diesem Hintergrund hat sich insbesondere die Migrationsfrage zu einem zentralen Element der Legitimationskrise der Regierung entwickelt. Diese wurde medial geschürt und von den Rechten und den Regierungen selbst gezielt angeheizt und existiert schon seit Jahren in verschiedenen Wellen (u.a. Sarrazin 2010, Syrienkrieg/Pegida 2015, Chemnitz/Seehofer/Maaßen 2018, Gaza 2023, Solingen 2024, etc.). Sie ist jedoch nicht nur ein mediales Phänomen, sondern hat auch materielle Grundlagen: Einerseits in der Gewalt, die in die imperialistischen Zentren zurückschlägt – durch Kriege und Zerstörung, die massive Geflüchtetenströme verursachen, die hierzulande entrechtet, deklassiert und rassistisch angefeindet werden; andererseits in Form von islamistischen Anschlägen, die, wenn auch im Vergleich zum rechten Terror weiterhin marginal, den Krieg „asymmetrisch“ in die Metropolen tragen. Gleichzeitig zeigt sich dies auch in der Notwendigkeit (und Schwierigkeit) des deutschen Kapitals, den Fachkräftemangel durch ausländische Arbeitskräfte zu mindern. Dadurch konfiguriert sich ein doppeltes Migrationsregime, in dem einerseits insbesondere (wenn auch nicht nur) geflüchtete Bevölkerungsteile durch rassistische Diskriminierung, Ausbeutung als Billigarbeitskräfte und unzureichende Möglichkeiten von Bildung, sozialem Aufstieg, etc. abgesondert werden, und andererseits hochqualifizierte Arbeitskräfte durch Gesetzeserleichterungen, vereinfachter Staatsbürger:innenschaft etc. angeworben werden sollen, was der Regierung aber kaum gelingt.
Die Zeitenwende hat die wohl umfangreichste Neukonfiguration im deutschen Parteiensystem nach den Anfangsjahren der BRD ausgelöst. Rechtsruck sämtlicher Parteien, Zerstörung der Linkspartei, Aufstieg der AfD zur Massenpartei, Gründung von BSW, Krise des Liberalismus (Grüne, FDP). Die Legitimationskrise der politischen Mitte – insbesondere in Ostdeutschland – bedeutet zudem auch, dass zwar die CDU konjunkturell (neben der AfD) von der Schwäche der Regierung profitieren kann, aber auch sie wird von einem immer größeren Teil der Bevölkerung als „Altpartei“ abgelehnt; es ist alles andere als ausgemacht, dass eine mögliche künftige CDU-Regierung auf eine grundsätzlich stabilere Zustimmung setzen könnte.
Wie können wir diese Krisentendenzen genauer fassen? Dafür können wir auf die Ausführungen des italienischen Revolutionärs Antonio Gramsci zurückgreifen. Gramsci geht davon aus, dass die Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft durch eine – je nach gesellschaftlicher Situation verschiedene – Kombination aus Konsens (also Zustimmung der Beherrschten zur Politik der Herrschenden) und Zwang (also die Durchsetzung der Interessen der Herrschenden durch verschiedene Abstufungen von Gewalt) organisiert ist. Zugleich sind kapitalistische Gesellschaften inhärent krisenförmig. Die bloße Existenz von Krisen reicht nicht aus, um die bürgerliche Herrschaft grundlegend zu destabilisieren. Um die Krisenprozesse in ihrer Unterschiedlichkeit zu erfassen, unterscheidet Gramsci zwischen „konjunkturellen oder gelegenheitsbedingten“ und „organischen“ Krisen. Erstere sind „nicht von großer historischer Reichweite“, deren Bewältigung keine strukturellen Veränderungen nach sich zu ziehen. Organische Krisen hingegen lassen sich innerhalb der etablierten Herrschaftsweise nicht ausreichend bearbeiten, sondern in einer „organischen Krise“ treten „unheilbare Widersprüche“ in der Struktur der Gesellschaft auf (Gramsci (1991): Gefängnishefte, S. 1557). Natürlich sind diese Unterscheidungen nicht absolut, es kann Übergangsformen und Tendenzen geben, eine konjunkturelle Krise kann sich je nach Verlauf in eine organische Krise verwandeln. Klar ist für Gramsci: Wenn die Krise „strukturell und nicht konjunkturell ist“, kann sie „nur durch den Aufbau einer neuen Struktur überwunden werden“ (Ebd., S. 1680). Was wir zu beschreiben versucht haben, ist dass wir es nicht nur mit einer konjunkturellen Krise zu tun haben, sondern eben mit einer grundlegenden Strukturkrise des deutschen Imperialismus.
Zu dieser strukturellen Dimension kommt jedoch auch noch eine subjektive Komponente: Eine organische Krise – die Gramsci auch „Hegemoniekrise“ nennt – kommt dann zustande, wenn die „Krise von oben“ – Krise des ökonomischen und politischen Projekts der herrschenden Klasse, tiefgreifende Konflikte zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse – sich mit einer „Krise von unten“ kombiniert, in der der Konsens der Beherrschten in Frage steht. „An einem bestimmten Punkt ihres geschichtlichen Lebens lösen sich die gesellschaftlichen Gruppen von ihren traditionellen Parteien, das heißt, […] [sie] werden von ihrer Klasse oder Klassenfraktion nicht mehr als ihr Ausdruck anerkannt.“ (Ebd., S. 1577 f.) „Die großen Massen [haben] sich von den traditionellen Ideologien entfernt“ und glauben nicht mehr an das, „woran sie zuvor glaubten“ (Ebd., S. 354). Die Frage, ob sich in Zeiten organischer Krise eine für die bürgerliche Herrschaft tatsächlich gefährliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ergibt, ist dabei, inwiefern und welche neuen Kräfte entstehen, um den bisherigen Herrschenden ihre Herrschaft streitig zu machen. Für Gramsci ist eine Hegemoniekrise dann gegeben, wenn die herrschende Klasse mit einem großen politischen Projekt gescheitert ist, obwohl sie mit Zwang und Gewalt gegenüber den Regierten versucht hat, einen Konsens zu erreichen oder weil „breite Massen“ ihre Passivität verlassen und aktiv Forderungen stellen, die einer Revolution gleichkommen. „Man spricht von ´Autoritätskrise´, und das eben ist die Hegemoniekrise oder Krise des Staates in seiner Gesamtheit“ (Ebd., S. 1578). Das heißt, nicht nur eine Krise der gegenwärtigen Regierung, sondern der Institutionen der bürgerlichen Demokratie in ihrer Gesamtheit.
Mit diesen Begriffen können wir in Bezug auf die Situation in Deutschland heute davon sprechen, dass es Tendenzen zu einer organischen Krise oder Tendenzen zu einer Hegemoniekrise gibt. Das alte Projekt des deutschen Imperialismus ist gescheitert, während die herrschende Klasse noch kein neues Projekt etablieren konnte (allen Tendenzen der „Zeitenwende“ zum Trotz). Die Legitimation der herrschenden Parteien befindet sich auf einem Tiefpunkt, und es steigen neue Kräfte wie die AfD auf, die das Regime von rechts neu strukturieren wollen. Es gibt auch erste Abnutzungserscheinungen anderer Institutionen, wie die Infragestellung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die AfD, aber in der Masse weiterhin ein hohes Vertrauen in diese Institutionen (das zeigt zum Beispiel auch die gestiegene Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen im Osten). Trotz einiger Klassenkampfelemente, gibt es vor allem keine Überwindung der Passivität der breiten Massen. Zwar wird die „Krise von oben“ in weitaus größerem Maße als in den vergangenen Jahrzehnten von Elementen einer „Krise von unten“ begleitet, doch reicht dies nicht aus, um das Regime in seiner Gesamtheit unregierbar zu machen.
In den ostdeutschen Bundesländern zeigen sich erste Anzeichen einer zunehmenden Unregierbarkeit. Dies ist das Ergebnis der Unfähigkeit der Bourgeoisie – bedingt durch ihre historische Kurzsichtigkeit und Profitgier – die Klassenverhältnisse in ein stabiles Gleichgewicht zu bringen. Sie hat zugelassen, dass überaus prekäre und abgehängte Bevölkerungsschichten entstanden sind, die sie vom neoliberalen Konsens ausgeschlossen hat, was mit einer „harmonischen“ Entwicklung der Gesellschaft in Konflikt gerät. Schwierige bis unmögliche Koalitionsbildungen, schwache Minderheitsregierungen oder sogar „technokratische“ und überparteiliche Kabinette könnten die bisherige Stärke des BRD-Regimes schwächen. Diese lag im extremen Föderalismus, der mit seinen integrativen Tendenzen eine stärkere Bonapartisierung entgegenstand. Ein Problem wäre vor allem gegeben, wenn die Instabilität in einigen Bundesländern und die Schwächung der traditionellen Parteien auf die Bundesebene übergreifen.
Insbesondere vor dem Hintergrund der sich weiter verschärfenden internationalen Tendenzen, die die Legitimationskrise hervorgerufen haben, ist klar: Solange die Klassenbeziehungen noch kein neues Gleichgewicht gefunden haben, werden auch die Instabilitäten im Regime und Parteiensystem anhalten.
Der Rechtsruck ist der Versuch, die aus den Fugen geratenen Klassenverhältnisse durch Disziplinierungsmaßnahmen wieder zu ordnen und die Gesellschaft in ein Gleichgewicht zu überführen. Die verblassenden neoliberalen Versprechen des individuellen Erfolgs und Konsums werden ergänzt durch autoritäre Maßnahmen und reaktionäre Ideen von Nationalismus, Rassismus, Antifeminismus etc.. Zugleich ist der Rechtsruck eine Doppelbewegung: Einerseits von „oben“, also von der Regierung und den Institutionen des Regimes, die wir als Tendenzen zur Bonapartisierung fassen können, also der größeren Durchsetzung durch mehr Mittel des Zwangs und mehr Mittel der Herrschaft, die sich aufgrund des schwindenden Konsenses der Massen über die gewöhnlichen Regeln der parlamentarischen Demokratie und der Gesetze hinwegsetzen. Wir beobachten dies vor allem mit der Kriminalisierung der Palästina-Bewegung und der Migration, hinzu kommen aber auch weitere Angriffe, die unter einer künftigen Regierung intensiviert werden dürften: Angriffe auf das Streikrecht, Sozialsysteme, Renten, Arbeitszeiten. Kürzungen im öffentlichen Dienst. Privatisierungen etwa bei der Bahn. Flexibilisierung am Arbeitsmarkt. Ausbau von Polizei, Militär, Grenzregime. Angriffe auf geisteswissenschaftlich und „kritische“ Studiengänge. Angriffe auf Meinungs-, Versammlungs-, und Pressefreiheit. Schwächung von Parlament und Föderalismus zugunsten zentralisierten Regierens. Aggressivere Durchsetzung deutscher Interessen in der EU und weltweit. Eine umfangreiche Umsetzung solcher Maßnahmen bedeutet notwendigerweise, dass sich einzelne Fraktionen von Kapital und Staatsapparat über die Interessen anderer Fraktionen hinwegsetzen. Gleichzeitig müssen wir die Tendenzen zum autoritären Staatsumbau eben als genau das betrachten: Tendenzen. Davon, dass der deutsche Staat bereits zu einem bonapartistischen Regime geworden wäre, kann nicht die Rede sein. Die Institutionen der parlamentarischen Demokratie und des Justizsystems weisen trotz gewissen Momenten der Schwächung immer noch eine relative Stabilität auf, auch im Vergleich zu anderen zentralen imperialistischen Ländern wie den USA oder Frankreich.
Der Rechtsruck hat als zentrale Komponente des Erstarkens der AfD und anderer extrem rechter Kräfte, die sowohl komplementär zur Rechtsentwicklung des Regimes ist als auch gleichzeitig gegen das Regime gerichtet (das heißt, es gibt eine Dialektik der Integration ins Regime vs. Kampf gegen das Regime innerhalb der AfD). Noch ist nicht klar, welche dieser Tendenzen sich durchsetzen wird – stärkere Integration der AfD à la FPÖ oder Meloni, oder Radikalisierung der faschistischen Tendenzen in der AfD inklusive rechten Mobilisierungen und Vernetzungen mit dem Rechtsterrorismus. Die größte Hürde für ersteres ist momentan die Haltung gegenüber Russland. Im Sinne der multipolaren Weltordnung will die AfD eine unabhängigere Position Deutschlands im Konzert der Mächte und dabei auch Beziehungen zu Russland, China, Indien, während sie die Westbindung in Frage stellt. Sie betrachtet die USA als „raumfremde Macht“ (nach Carl Schmitt). BSW hat in dieser Frage ähnliche Haltungen, wenn auch aus anderen Traditionen heraus, denen der alten friedenspolitischen Bewegung. Ist es möglich, dass einige Kapitalsektoren die Westbindung aufgeben und eine unabhängige deutsche Orientierung in der multipolaren Weltordnung anstreben? Solange dies nicht gegeben ist, scheint eine vollständige Integration von AfD (und unter anderen Vorzeichen BSW) in das politische Regime unmöglich. Dennoch wird es vermehrt partielle Übereinkünfte geben. Der Osten ist ohne die Mithilfe von BSW kaum regierbar, so wie früher mit Hilfe der Linkspartei. Sie könnten nicht nur eine ähnliche politische Rolle spielen, sondern weisen teilweise auch personelle Kontinuitäten für dieselbe Aufgabe auf, aber auf einer weit rechter stehenden programmatischen Grundlage.
Die Veränderung des Parteiensystems kann, wie schon erwähnt, neue Phänomene hervorbringen: Minderheitsregierungen, technokratische Regierungen, wechselnde Mehrheiten, Verbotsverfahren, parlamentarische Tricksereien, Politik am Parlament vorbei oder das Parlament vor vollendete Tatsachen stellen (siehe z.B. Verpflichtungsermächtigung für Bundeswehr), oder Durchsetzung und Blockaden von Maßnahmen durch Verfassungsgerichte, etc. Die Mittel, die die AfD gerne verwendet, wie Sabotage der parlamentarischen Debatte, könnten stärker Einzug auch in die Politik der anderen Parteien halten, wenn sie dies als nützlich erachten, siehe zum Beispiel den parlamentarischen Putsch von Kemmerich (FDP) in Thüringen 2020, der sich mit seiner Fünf-Prozent-Partei mit CDU und AfD-Stimmen kurzzeitig zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Gleichzeitig gibt es auch eine partielle Integration und Zusammenarbeit mit der AfD.
Eine künftige Regierung (ggf. unter Merz) hätte wahrscheinlich eine dünnere soziale Basis als unter Merkel, die einen breiten Kompromiss aller Kapitalfraktionen und der Gewerkschaften herstellte. Ja selbst dünner als die heutige Regierung, die sich auf die Jugend, die städtischen Mittelschichten, Kleinbürger:innen und „grüne“ Kapitalfraktionen stützte – die aber das Vertrauen dieser Schichten auch teils verloren hat. Merz könnte eine viel direktere Regierung von Finanzkapital und Großkonzernen bedeuten. Er gilt als extremer Transatlantiker. Wie weit sich dies umsetzt, muss aber die Entwicklung der Beziehungen zu den USA nach den Wahlen noch zeigen. Wir sollten aber auch trotz des deutlichen Vorsprungs, den die Union derzeit in Umfragen hat, eine CDU-Regierung keineswegs für gesichert annehmen. Die Etappe bringt eben größere Zerwürfnisse im Parteiensystem und Tendenzen zu einer Hegemoniekrise, von der sich auch die Union nicht ausnehmen kann. Die Probleme, die sich mit den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg ergeben haben, nämlich die Schwierigkeit, sichere Mehrheiten zu organisieren, kann sich in weniger scharfer Form auch im Bund fortsetzen. Das Problem sind nicht nur BSW und AfD, sondern auch, dass die Parteien der Mitte sich nicht einig werden. Der Grund, weshalb Merz und Söder nicht mit den Grünen koalieren wollen, ist nicht nur Stammtischparole, sondern dahinter stehen unterschiedliche Kapitalinteressen der grünen und stärker fossil ausgerichteten Wirtschaft. Merz will den Verbrennungsmotor erhalten. Dieser Gegensatz ist nicht absolut und unversöhnlich, aber das große Problem, unter dem eben die Ampel leidet und das sie blockiert, ist der Kompromiss verschiedener Vorstellungen der Wirtschaftspolitik, die sich nicht miteinander vereinen lassen. Eine neue Kompromissmaschine etwa mit einer Schwarz-rot-grünen Koalition würde Stillstand bedeuten: Als Problem der Regierung, tatsächlich Initiativen und Gesetze umzusetzen, z.B. weil sich die Koalitionsparteien gegenseitig blockieren. Die Alternative wäre wohl eine Regierung, die versuchen würde, ihre geringere soziale Basis mit einem kompromissloseren Stil zu kompensieren.
7. Möglichkeiten neuer Massenphänomene
Wir sehen eine Krise des politischen Systems, die sich in der Orientierungslosigkeit des Regimes ausdrückt und in einer Unzufriedenheit in Teilen der Arbeiter:innenklasse und Massen, die das Wachstum von AfD und BSW befördert hat. Dies bedeutet aber noch nicht eine aktive Infragestellung des Regimes mit dynamischen Phänomenen auf der Straße. Für eine ausgewachsene Hegemoniekrise müssen die Krisen von oben und von unten zusammenkommen, was noch nicht der Fall ist. Aber die Situation dafür ist eröffnet und erlaubt verschiedene Übergangsszenarien.
Wir haben seit den Abwehrkämpfen gegen die Inflation eine Belebung des Klassenkampfes gesehen. Es gibt eine Unruhe in den schweren Sektoren (Industrie, Häfen, Bahn), die sich in großen Streiks umsetzen, allerdings unter bürokratischer Kontrolle und mit schwachen Verhandlungsergebnissen. Die Metall- und Elektro-Tarifrunde 2022 schloss unter der Inflationsrate ab. In der aktuellen Tarifrunde fordert die IG Metall sieben Prozent für ein Jahr, was aber angesichts der Krise in der Autobranche schwer umsetzbar sein dürfte.
Bei VW könnte es erstmals in der Geschichte des Konzerns zu Werksschließungen kommen, verbunden mit der Entlassung von tausenden Beschäftigten. Schon in den letzten Jahren gab es Einsparungen, aber noch ohne Entlassungen. Je nachdem, wie umfangreich sie ausfallen, kann dies die etablierten Mechanismen der Sozialpartnerschaft wie Co-Management und Sozialpläne überfordern. Es liegt durchaus im eigenen Interesse der Bürokratie, die Jobs bei VW zu erhalten. Die Kernbelegschaften der Autoindustrie und die damit verbundenen Betriebs- und Aufsichtsratsposten sind ihre materielle Stütze. 35 Prozent der Mitgliedschaft der IG Metall kommen aus den Wertschöpfungsketten der Autoindustrie.
Und so hat der VW Betriebsrat eine „historische Reaktion“ angekündigt. Es ist durchaus möglich, dass es bei VW zu wochenlangen Streiks kommen kann. Die Bürokratie wird aber auf keinen Fall eine Radikalisierung zulassen, durch die sie die Kontrolle über den Kampf verlieren könnte. Egal wie kämpferisch sie sich gibt, dürfte sie letztlich nach Kompromissen suchen, bei der sie einen Teil der Belegschaft mit Abfindungen und Sozialtarifverträgen abspeist, einen anderen Teil opfert und abspaltet.
Der Konflikt zeigt zwei strategische Probleme der Arbeiter:innenbewegung in den industriellen Sektoren. Das eine ist programmatisch, weil die Bürokratie keine Antworten formulieren kann, die über defensive Forderungen zum Erhalt der Jobs hinausgehen. Ihr Versuch des Co-Managements über Betriebsräte bei der Ausrichtung der Konzerne mitzudiskutieren, hat enge Grenzen in der Phase der Krise. Ihre Vorschläge beschränken sich auf Investitionen in ökologische Technologien zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit auf den E-Auto-Märkten. Aber diese Frage geht an dem Kern der Problematik vorbei: Die Unmöglichkeit, das deutsche Geschäftsmodell zu retten. Der einzig fortschrittliche Ausweg wäre die Verstaatlichung der Produktionsmittel unter Kontrolle der Beschäftigten und eine sozialistische Planwirtschaft mit Rätestrukturen, die eine ökologische Umstrukturierung des Mobilitätssektors, der Infrastruktur, Energiewirtschaft, Schwerindustrie, etc. durchführen. Doch die Bürokratie ordnet sich der Politik des Kapitals unter, bis hin zur imperialistischen Außenpolitik zur Erschließung von Märkten.
Das zweite strategische Problem ist die fehlende Kampferfahrung. Zwar sind die Streikbewegungen in der Metallindustrie die massivsten des Landes, aber dafür so vollständig unter Kontrolle der Bürokratie, wie kein anderer Sektor. Es fehlen vollständig die Instrumente der Radikalisierung von Kämpfen mit einem weitergehenden Programm und Taktiken, um tatsächlich zu siegen – allerhöchstens gibt es einen Einfluss von MLPD oder stalinistischen Organisationen, deren Perspektive jedoch nichts mit dem Aufbau einer antibürokratischen Opposition gemein hat. Solche Erfahrungen müssen auch von außen importiert werden, in der Verbindung mit Sektoren, die in den letzten Jahren schon in Kämpfen waren (z.B. der Krankenhausbewegung, aber auch den Häfen, obwohl auch diese große Schranken besitzen).
In den letzten Jahren waren besonders die Krankenhausbewegungen in Berlin und NRW in der ersten Reihe des Klassenkampfes. Diese Dynamik hat sich abgeflacht, einerseits weil die Bürokratie aktiv eine Fortführung der Bewegung bremst. Andererseits hat auch der Personalmangel im sozialen Sektor Auswirkungen auf die Kampfkraft: er erhöht zwar die Verhandlungsmacht, weshalb wir durchaus harte Lohnkämpfe sehen könnten, mit offensiven Forderungen wie im TVÖD nach acht Prozent mehr Lohn und Arbeitszeitverkürzung. Doch die strukturelle Forderungen nach mehr Personal oder einem Ende der Zentralisierung von Krankenhäusern lassen sich umso schwerer umsetzen. Auch im Gesundheitswesen kann es mehr Sympathien für BSW und AfD bringen mit ihren reaktionären Lösungen von Fachkräftemangel und Migration.
Das Fehlen einer jeglichen sozialistischen Perspektive auf Massenebene lässt die rechten Antworten als einzigen Ausweg erscheinen. Die Diskussion um den Erhalt des Verbrennermotors ist wieder stark. Die Diskussion um den ökologischen Umbau der Industrie wird hingegen von vielen Beschäftigten als Bedrohung wahrgenommen und mit den verhassten Grünen assoziiert. Selbst wenn es zu großen Streiks kommen sollte, bedeutet dies nicht, dass sie sich links artikulieren. BSW oder AfD könnten durchaus Profiteure sein, wenn es zu Entlassungen und Schließungen kommt, ja selbst wenn es größere Kampfphänomene gibt.
Ein Blick nach Frankreich macht dies plastisch – auch wenn wir nicht damit rechnen, dass in Deutschland ähnliche Klassenkampfphänomene in nächster Zeit auftreten: Während der Rentenreform standen die Hafenbeschäftigten von Le Havre mit an der Spitze der Proteste. Einen der fortschrittlichsten Momente erlebte das Land, als sie ihre Streikposten militant gegen die Polizei verteidigten und diese zum Rückzug zwangen. Trotzdem hat der ultrarechte Rassemblement National in Le Havre eine Wähler:innenschaft von um die 30 Prozent. Was für Le Havre besonders gilt, lässt sich auch im Rest des Landes sehen: einerseits eine jahrelange Periode härterer Klassenkämpfe, andererseits eine starke extreme Rechte. Es ist keineswegs so, dass dies zwei gegensätzliche Pole wären, sondern sich die Infragestellung des Regimes von unten im Klassenkampf verworren in die politische Ebene übersetzt. Beispiel hierfür waren auch die Gelbwesten-Proteste 2018, die einerseits einen harten Kampf gegen das Regime führten mit teils antikapitalistischen Inhalten. Gleichzeitig aber auch die extreme Rechte anzogen.
Angesichts dessen, dass die Bürokratien der Gewerkschaften und des Reformismus versuchen, jede Entwicklung nach links zu verbinden, müssen wir auch für Deutschland mit der Möglichkeit rechnen, dass Klassenkampfphänomene sich nicht auf „direktem“ Weg mit linken Inhalten ausdrücken. Sie können auch sehr widersprüchlich und populistisch auftreten. Ein Beispiel hierfür waren bereits die Corona-Proteste, die teils soziale Forderungen aufstellten. Doch schnell dominierten extrem rechte Ansätze und Verschwörungsideologien. Tatsächlich waren die Corona-Proteste und die damit verbundene Ablehnung des Regimes bei gleichzeitiger Suche nach rechten Lösungen einer der Beschleuniger für den Aufstieg der AfD, der auch Teile der Jugend mitgenommen hat.
Seit Corona sehen wir einen Anstieg von psychischen Erkrankungen, unter denen die Jugend besonders leidet, die sich auch danach durch Zukunftsängste um sozialen Unsicherheit, Klimakatastrophe und Krieg vertieft haben. Laut Shell-Jugendstudie blickt die Jugend wieder etwas optimistischer in die Zukunft. Diese Aussage muss mit Vorsicht betrachtet werden, auch allein schon, weil laut ebendieser Studie 81 Prozent Sorgen vor Krieg und 67 Prozent Sorge vor der wirtschaftlichen Lage haben. Dennoch sieht die Jugend, dass sie aufgrund des Fachkräftemangels durchaus in einer guten Situation für die Jobsuche sind. Sie ist laut Shell politisch interessierter als vor einigen Jahren, wenngleich wir (eigene Interpretation) davon ausgehen können, dass Skepsis gegenüber der Parteipolitik besteht. Demnach wird Politik (auch und gerade bei Arbeiter:innen) als etwas betrachtet, das eben Funktionäre machen, aber mit dem sie nichts zu tun haben. Viele denken, dass politisches Engagement eh nichts bringt – die völlige Ignoranz, mit der die Bourgeoisie den Forderungen der Klimabewegung gegenübergetreten ist, hat dies teils ja auch bestätigt. Die Jugend war zu Beginn der Ampel-Regierung ihre soziale Basis, vor allem in städtischen und akademischen Milieus. Doch in den letzten Jahren hat sich ein spürbarer Wandel vollzogen: Immer mehr junge Menschen wenden sich rechten Parteien wie der AfD und der CDU zu. Besonders auffällig ist diese Entwicklung bei jungen Männern aus ländlichen Gebieten und im Osten.
Während die Jugend jahrelang eher links der Mitte stand, hat sich eine lang nicht gesehene Polarisierung aufgetan, ein Kulturkampf. Konservative Familienideen, der Wunsch nach Rückkehr zu alten Verhältnisse, reaktionäre Frauenbilder und Queerfeindlichkeit. Zudem Rassismus angesichts einer Migrationspolitik, die nach neoliberalen Nützlichkeitskriterien selektiert, und wo der diskursive Antirassismus teils als Politik der Bosse und des Regimes wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite eine postneoliberale Jugend, die sich für Klimaschutz und queere Rechte einsetzt mit einer Sensibilität für Unterdrückung und Solidarität für Palästina.
Die Palästina-Bewegung stellt hier trotz aller Widersprüche, wie der Skepsis gegenüber der Arbeiter:innenbewegung, eine Gegentendenz zum pessimistischen Common Sense dar. Auch wenn sie das Phänomen einer kleinen Avantgarde an den Unis und der migrantischen Jugend der Großstädte geblieben ist, lässt sich ihre qualitative Bedeutung kaum hoch genug einschätzen. Sie ist die erste Bewegung seit vielen Jahren, die objektiv gesehen in Feindschaft zum Imperialismus steht. Die Mehrheitsströmungen sind zwar von einer Hoffnung in das humanitäre Völkerrecht und unkritischen Bündnissen mit kleinbürgerlich-nationalistischen Führungen getragen. Doch die deutsche Außenpolitik muss trotz ihres humanitären Dialogs als vollkommen heuchlerisch wahrgenommen werden. Die massive Repression gegen die Bewegung untergräbt wiederum das Vertrauen in den Staat. Für eine ausführliche Analyse der Palästina-Bewegung verweisen wir auf unseren Artikel zu Bilanz und Perspektiven.
Über die konjunkturellen Aussichten der Bewegung hinaus bleibt vor allem festzuhalten, dass sich eine Jugendavantgarde etabliert hat, die sich vom Imperialismus abgestoßen fühlt. Dazu zählen auch radikalisierte Teile der Bewegung für Klimagerechtigkeit. Die Auseinandersetzung mit dem Staat ist eine Erfahrung, die diesen Teilen der Jugend niemand mehr nehmen wird und die auch den Kern für neue Phänomene bilden wird. Die Möglichkeit existiert, dass sich ein Teil von ihnen revolutionären Ideen zuwendet und die Verbindung zu anderen Kämpfen sucht. Umso mehr wollen wir unsere Hypothese bekräftigen, dass die Radikalität der Jugend mit einer antiimperialistischen Haltung ein zentraler Faktor sein wird, den Konservatismus in der Arbeiter:innenbewegung herauszufordern und die Gewerkschaftsbürokratien zu konfrontieren.
Wir denken, dass sich der Trotzkismus nur in Konfrontation zu den bestehenden Führungen wieder als lebendige Kraft etablieren kann. Die Palästina-Bewegung bietet hier eine wichtige Erfahrung, die uns auch erlaubt, mit ihren fortschrittlichsten Teilen in Diskussion zu treten, um die Ausweitung auf andere Sektoren zu suchen, den Kampf gegen Krieg, Rechtsruck und Kürzungen zu verallgemeinern und Schritte für die Wiederbelebung einer revolutionären Tradition zu gehen.