Woher kommt der Rassismus?

06.05.2020, Lesezeit 6 Min.
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Rassismus ist Teil unseres Alltags. Aber woher kommt er? Liegt er in der Natur des Menschen? Oder hat er sich erst mit dem Kapitalismus entwickelt?

Obwohl die Sklaverei bereits lange vor dem Kapitalismus bestand, können wir nicht von einem Rassismus als immer existierende Ideologie und Praxis sprechen. Das antike Griechenland und Rom beispielsweise basierten auf der Sklavenarbeit. Aber die alte Sklaverei wurde nicht rassisch betrachtet. Sklaven waren meist Kriegsgefangene oder gehörten den eroberten Völkern an. Die Sklaverei galt lange Zeit als eine Methode der Disziplinierung, der Schuldknechtschaft und der Zwangsarbeit, und die verarmten Europäer*innen waren davon nicht befreit.

Um die Entwicklung des Kapitalismus zu verstehen, müssen wir den Prozess der Schaffung eines umfassenden Systems der Kolonialisierung, der Rassenkonstruktion und der Wiedereinführung der Sklaverei verstehen. Dieses System wurde an die Bedürfnisse der Kapitalist*innen angepasst, um Profit zu machen.

Der herausfordernde Charakter des Frühkapitalismus gegenüber dem Feudalismus kommt daher, eine dynamische Produktionsform zu entwickeln, die auf der Lohnarbeit und der Warenproduktion basierte. Dazu gehört auch die Praxis der Ausplünderung indigener Völker und der Rohstoffe in den kolonialisierten Gebieten. Die Sklaverei wurde eingeführt, um den Markt für Plantageprodukte wie Tabak, Kaffee, Zucker und Baumwolle zu verwalten. Die kolonialistische Handelsbourgeoisie nutzte erstmal das System der Zwangsarbeit, um ihre Plantagen zu bewirtschaften. Es waren mehrheitlich „Weiße“ aus Europa, die vorübergehend in die Sklaverei gerieten. Diese Praxis war nicht widerspruchsfrei, da die europäischen Kapitalist*innen gleichzeitig einen politischen Grundsatz der Bürger*innenrechte entwarfen und diese Doktrin im Widerspruch zur Versklavung der Europäer*innen stand.

Rassismus als Folge der Sklaverei

Der trinidadische Historiker Eric Williams meint, dass der Grund für die Schwarzensklaverei ökonomisch war1. Es lag an den „günstigen Bedingungen” für den Plantagenbesitzer, einen afrikanischen Sklaven auf Lebenszeit zu kaufen, wobei er mit dem gleichen Geld einen weißen Diener für nur zehn Jahre hätte kaufen können. Auf diese Weise wurde das System der schwarz-weißen Schuldknechtschaft in ein System der schwarzen lebenslangen Sklaverei verwandelt.

Die Sklavenhändler verschleppten die Afrikaner*innen, um sie auf den Plantagen in Lateinamerika, der Karibik und Nordamerika arbeiten zu lassen. Der Sklavenhandel begann erst nachdem die Europäer*innen Plantagen in der „Neuen Welt“ errichtet hatten. Die Komplizen dieses Sklavenhandels waren die afrikanische Könige und Häuptlinge. Sie bekamen im Gegenzug Textilien, Gewehre, Schießpulver, alkoholische Getränke, Tabak und Glasperlen von den Europäern. Auf den Plantagen waren alle Angehörigen der Sklavenfamilien einem Regime von 18-stündigen Arbeitstagen unterworfen. Die Herren führten extreme Maßnahmen ein, um Sklav*innenrebellionen zu verhindern.

Die Sklaverei trug dazu bei, dass die Wirtschaft im 18. Jahrhundert einen Aufstieg erlebte, der die Grundlage für die industrielle Revolution in Europa bildete. In den Worten von Karl Marx:

die direkte Sklaverei ist der Angelpunkt der bürgerlichen Industrie, ebenso wie die Maschinen etc. Ohne Sklaverei keine Baumwolle; ohne Baumwolle keine moderne Industrie. Nur die Sklaverei hat den Kolonien ihren Wert gegeben; die Kolonien haben den Welthandel geschaffen; und der Welthandel ist die Bedingung der Großindustrie. So ist die Sklaverei eine ökonomische Kategorie von der höchsten Wichtigkeit.2

Das „Recht“, Sklav*innen zu besitzen, die außereuropäische Welt auszuplündern und die Schwarzen zu unterwerfen, bedarf einer Ideologie. Schwarze Afrikaner*innen, Indigene und Aborigines wurden als untermenschliche Wilde kategorisiert. Die spezifischen Traditionen ihrer Gesellschaften wurden als Produkte der genetischen Rückständigkeit, der „Wildheit“, angesehen.
Susan Bock-Morrs stellt in ihrem Buch „Hegel und Haiti“ die Forschungen diesbezüglich dar:

Je größer das Volumen der von afrikanischen Sklaven geleisteten Arbeit wurde und je poröser (und damit fiktiver) die Grenze zwischen den Kolonien, in denen Sklavenarbeit weit verbreitet war, und Europa wurde, wo man die Sklaverei ablehnte, desto strengere Gesetze wurden verabschiedet, um das System aufrechtzuerhalten. Und je häufiger die Sklaven ihre Sehnsucht nach Freiheit unter Beweis stellten, indem sie gegen ihre Unterdrückung revoltierten, desto empfänglicher wurden die Europäer für Theorien, die behaupteten, die N. seien von Natur aus für die Sklaverei prädestiniert3.

Die Wurzeln des Rassismus liegen also in der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. In der Beschäftigung mit der kapitalistischen Produktionsweise weist Karl Marx auf ein Verhältnis hin, in dem der Kapitalismus die Schwarzen in die Sklaverei drängt: “Ein N. ist ein N.. In bestimmten Verhältnissen wird er erst zum Sklaven”4.

Eric Williams knüpfte im Jahr 1944 an dieser Linie an, wenn er hervorhebt, dass der Rassismus eine Folge der Sklaverei war und nicht umgekehrt.

Daher erweist sich der Rassismus, wie wir ihn heute kennen, als eine Politik der Grundeigentümer, um Macht über die billigsten Arbeitskräfte auf dem damaligen Markt auszuüben: die versklavten Afrikaner*innen.

Dieser (Rassismus) entstand als eine Ideologie, um eine der größten Schrecken der Menschheitsgeschichte zu rechtfertigen und mit pseudowissenschaftlichem Biologismus “rational” zu begründen. Jede Idee entsteht aus einer materiellen Grundlage der Realität und nicht umgekehrt. Zuerst war die Notwendigkeit von Schwarzarbeit, dann die ideologische Rechtfertigung dafür. Zuerst kam der Kapitalismus, dann der systematische Rassismus.

C.L.R. James stellte mit seinem berühmten Werk über die Haitianische Revolution, „The Black Jacobins“, nicht nur die kapitalistische Grundlage des Sklavensystems auf Haiti dar. Er zeigte auch, wie die bürgerliche Revolution in Europa unvollständig und widerspruchsvoll blieb, da die Sklaverei und rassistische Gesetzgebung nicht aufgehoben wurde. Nicht die ‚Aufklärung‘ hebt den Rassismus auf, sondern die Revolution5. 1848 wurden allerdings die Hoffnungen in eine revolutionäre Bourgeoisie endgültig zerschlagen. Als einzige Klasse, die weltweit den Rassismus auf revolutionärem Weg als Anführerin aller Unterdrückten aufheben kann, bleibt die Arbeiter*innenklasse.

Fußnoten

1. Eric Williams, Capitalism and Slavery.

2. Karl Marx, Das Elend der Philosophiedie Metaphysik der politischen Ökonomie.

3. Susan Bock-Morrs, Hegel und Haiti.

4. Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital.

5. C.L.R. James, The Black Jacobins.

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