Wo ist Santiago Maldonado? Verschwinden eines jungen Manns löst Krise des argentinischen Staats aus
Seit über 40 Tagen ist der 28-jährige verschwunden. Zeug*innen belegen jetzt die Beteiligung der Polizei bei seinem Verschwinden - was Regierung und bürgerliche Presse bisher leugneten. Die Straße macht das Regime verantwortlich.
Der Stabschef der argentinischen Sicherheitsministerin Patricia Bullrich ist Pablo Noceti. Er war zuvor bekannt geworden, weil er als Anwalt einiger Massenmörder der Militärdiktatur Jorge Rafael Videlas (1976-1983) fungierte. Nun steht er symbolisch für die direkte Verantwortlichkeit der Regierung im Falle Maldonado.
Am 1. August, wo man Santiago Maldonado zuletzt auf einer Demonstration der Mapuche-Gemeinde im Kanton Cushamen sah, reiste Noceti extra aus Buenos Aires an. Die Ministerin meinte, er habe das getan, um „die Polizisten zu begrüßen“. Doch wie üblich ist es, dass ein Regierungsfunktionär für ein Grußwort fast 2.000 Kilometer weit reist? Sowohl Zeug*innen aus der Gemeinde als auch der Polizeichef der Provinz Chubut, Diego Balari, ja sogar Noceti selbst, widersprechen dieser Aussage. Er traf sich mit Funktionär*innen vor und nach dem Vorfall, um die Einsatzleitung zu besprechen, sowie diese „auf der Grundlage präziser Anweisungen des Sicherheitsministeriums und des Gerichts durchzuführen“, so Balari.
Die zwei größten Zeitungen des Landes, La Nación und Clarín, verstricken sich wie die Ministerin in Widersprüche. Einerseits wird behauptet, Santiago sei am 1. August nicht anwesend gewesen, andererseits, dass ihm die Flucht gelungen und er an darauffolgenden Tagen gesehen worden sei. Evaristo Jones, ein Wächter einer Farm, die dem italienischen Konzern Benetton gehört, behauptete, einige Mapuche und Sympathisanten mit einem Messer angegriffen zu haben. Die offizielle Geschichte lautete nun, Santiago sei verletzt worden habe daher nicht zur Demonstration gehen können. Dies wurde jedoch mit DNA-Proben am Messer widerlegt.
Fast 200 Personen behaupteten, Santiago nach dem Vorfall gesehen zu haben. Hierbei muss jedoch erwähnt werden, dass die Regierung eine Belohnung von zwei Millionen Pesos für sich als richtig herausstellende Informationen ausgesetzt hat.
Mitglieder der Gemeinde der Mapuche, die am Tag der Repression anwesend waren, bestätigen jedoch, dass Santiago erstens auf der Demonstration anwesend war und zweitens beim Fluchtversuch von der Polizei geschlagen und in einen Truck gezerrt wurde.
Nach 40 Tagen der Lügen und Diffamierung seitens bürgerlicher Medien und Regierung, wo unter anderem behauptet wurde, Santiago sei nach Uruguay geflohen, die Mapuche seien Anarchist*innen, hätten Verbindungen zur kurdischen Bewegung und den kolumbianischen FARC, oder sie seien Brandstifter*innen, gehen ihnen die Ausreden aus. Nun behauptet auch schon Claudio Avruj, Sekretär für Menschenrechte der Regierung, die „stärksten Hypothesen deuten auf die Polizei“.
Die Mobilisierung
Eine verschwundene Person ist in solch einem politischen Kontext in Argentinien ein Faktor, der Hunderttausende mobilisiert. Schon während der Militärdiktatur, in der 30.000 Linke und Gewerkschafter*innen ermordet wurden, begannen die Madres de Plaza de Mayo („Mütter des Platzes der Mairevolution“), Mütter und Großmütter der Verschwundeten, für ihre Wiederauffindung zu demonstrieren. Demokratische und revolutionäre Kräfte haben es zu einem ihrer wichtigsten Kämpfe gemacht, gegen staatliche Gewalt und Repression zu kämpfen und die Bestrafung der Schuldigen zu fordern.
Am 1. September, einen Monat nach der Entführung von Santiago, demonstrierten in Buenos Aires 250.000 Menschen, zudem gab es Kundgebungen in mehreren Städten des Landes. Als es nach der Demonstration zu Ausschreitungen kam, nutzte die Regierung diese, um den Protest zu delegitimieren. Später stellte sich jedoch heraus, und wurde mit Fotos bewiesen, dass infiltrierte Zivilpolizist*innen die Repression provoziert hatten.
An mehreren Universitäten fanden Aktionen statt, allen voran die Fakultät für Philosophie der Universität von Buenos Aires, wo Studierende, Dozent*innen und Arbeiter*innen die Fakultät für ein paar Stunden lahm legten und sich zu hunderten im Hof versammelten. An mehreren Schulen, die aufgrund einer Bildungsreform besetzt wurden, an unzähligen Betrieben und Arbeitsplätzen fordern tausende das gleiche: das lebendige Wiederauftauchen von Santiago.
Es ist sowohl für die Regierung als auch für die Opposition von enormer Bedeutung, einen Umgang in dieser Frage zu finden. Zum einen, weil das Thema die Gesellschaft polarisiert und der Fall viel Sympathie erzeugt, zum anderen, weil im Oktober Parlamentswahlen stattfinden.
Opportunismus und heuchlerische Opposition
Nun, wo die Expräsidentin Cristina Fernández de Kirchner seit ihrer Niederlage in den Präsidentschaftswahlen 2015 die Opposition anführt, präsentiert sie sich als eine der Referent*innen für die Rechte Santiagos und der vom Staate „Verschwundenen“. Jedoch hat ihre Regierung keine weiße Weste in Sachen Menschenrechten.
Als 2006 Jorge Julio López entführt wurde, weil er als ehemaliger Verschwundener gegen einen der Verantwortlichen aussagen wollte, gingen Tausende auf die Straße. López war somit der erste Verschwundene in der Regierungszeit der Kirchners (2003 bis 2015) und steht symbolisch für die Inkonsequenz des Kirchnerismus, der sich zwar als links und „volksnah“ präsentierte, jedoch nicht mit den Verbliebenen der Militärdiktatur aufräumte und sogar einige in ihren Sicherheitsstab aufnahm. Während ihrer Regierungszeit verschwanden auch viele andere Menschen, unter anderem Luciano Arruga, ein 16-jähriger, der 2009 von der Polizei entführt und ermordet wurde.
In puncto Menschenrechte gibt der Kirchnerismus ein falsches Bild von „Opposition“. Fernández beschwört, vor allem in den heißen Wahlkampfphasen, eine Polarisierung unter dem Banner der nationalen Einheit, in der sie sich als einzige Alternative gegen Macri präsentiert.
Linken Kräften, allen voran der Front der Linken und der Arbeiter*innen (Frente de Izquierda y de los Trabajadores, FIT) wird vorgeworfen, am Wahlsieg Macris die Schuld zu haben, weil sie bei der Stichwahl der Präsidentschaftswahlen 2015 zwischen Macri und Fernández‘ Nachfolger Scioli zum ungültig wählen aufriefen. Was jedoch von ihrer Seite unerwähnt bleibt, ist, dass der Kirchnerismus, mit Mehrheit im Parlament und Senat, für alle 71 arbeiter*innenfeindlichen Gesetzte Macris stimmte und die Gewerkschaften dazu aufruft, keine Generalstreiks zu verkünden.
Die nationale Frage
Der Grund, dass Santiago Opfer von Polizeigewalt wurde, liegt aber noch viel tiefer als die Fehler der letzten Regierungen: Es ist die Gründung des argentinischen Staates an sich und die damit einhergehende Unterdrückung und Auslöschung der indigenen Völker und ihr Widerstand dagegen. Keine bisherige Regierung vermochte es oder hatte die Absicht, die systematische Unterdrückung zu bekämpfen und den Mapuche und den anderen indigenen Nationen ihr Recht auf Selbstbestimmung zu erteilen.
Im Gegenteil wird seit jeher von staatlicher Seite aus versucht, den Widerstand, der sich unter anderem in Besetzungen und isolierten Aktionen zeigt, als Terrorismus darzustellen. Die Interessen des Staates sind deckungsgleich mit denen der Großgrundbesitzer*innen, meist englischer Abstammung, denen riesige Ländereien Ende des 19. Jahrhunderts geschenkt wurden, um mit der Erschließung breiter Landstriche für eine ursprüngliche Akkumulation zu sorgen. Der Grund, warum Kirchner, Macri und alle anderen bürgerlichen Politiker*innen entweder schweigen, oder die Mapuche dämonisieren, ist, dass die Lösung der Frage der Mapuche nur durch die Zerstörung des Staates erfolgen kann, den jene verteidigen, und dafür sogar über Leichen gehen.