Wo ist das Mahnmal für die Opfer des Kapitalismus?
Der Bundestag beschließt ein “Mahnmal für die Opfer des Kommunismus”. Unsere Autorin Anja Bethaven findet das aus verschiedenen Gründen ziemlich daneben.
„Monument to the victims of Communism“ by MGSpiller is licensed under CC BY-SA 2.0.
Der Bundestag hat am 13.12. beschlossen, ein “Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft” zu errichten und 2020 ein Konzept dafür zu erarbeiten.
„Zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus herrscht allmählich eine umfassende Erinnerungskultur, es ist mehr als überfällig, auch einen Gedenkort, ein Mahnmal für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Deutschland im Herzen von Berlin zu errichten“, so die SPD-Bundestagsabgeordnete Katrin Budde.
Das ist gleich auf zwei Ebenen ziemlich übel. Nicht nur stellt diese Aussage wieder einmal eine menschenverachtende, inhärent mörderische Ideologie wie den Faschismus auf eine Stufe mit dem Kampf für eine klassenlose, befreite Gesellschaft – ein typisches Werkzeug von Antikommunist*innen. Nein, sie behauptet auch, in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus sei ein Punkt erreicht, an dem man sich auf dem Geschafften ausruhen könnte. Das stimmt einfach nicht. Die Abrechnung steht noch aus.
Die Toten des Kommunismus
Versteht mich nicht falsch, es gab Gewalttaten, die im Namen des Kommunismus verübt wurden, viele davon bis heute selbst unter Kommunist*innen nicht unumstritten. Als einige Beispiele seien die Romanow-Kinder, Kinder des abgesetzten Zaren, genannt, die nach viel hin und her letztendlich von den Bolschewiki ermordet wurden, oder die Toten des Kronstädter Matrosenaufstands, der im Rahmen der bolschewistischen Revolution niedergeschlagen wurde.
Vor allem jedoch sind die „Toten des Kommunismus“ die Opfer der Verbrechen der bürokratisierten und degenerierten Parteiapparate, viele davon selbst Kommunist*innen. Diese stalinistischen Säuberungen oder die Ermordung von Intellektuellen während des Kulturrevolution in China sind nicht das Werk „des Kommunismus“, sondern gerade derer, die die Fahne des internationalen Sozalismus mit Blut beschmierten und die internationale Revolution ein ums andere Mal abwürgten. Diese Prozesse waren Teil einer fortschreitenden Bürokratisierung der Sowjetunion und keine Auswuchs kommunistischer Ideologie, eher im Gegenteil.
Es gab auch Tote, die dem Versuch, einen Sozialismus aufzubauen, zum Opfer fielen, wie die über 4 Millionen Menschen, die 1932 und 1933 in der Ukraine in Folge aufgezwungener, bürokratisch schlecht geplanter Agrarpläne und den damit verbundenen Ausfällen in der Nahrungsmittelproduktion, verhungerten.
Nicht zu vergessen auch die unzähligen toten Kommunist*innen im Zuge anti-kommunistischer Gewalt (als bekannte Beispiele seien exemplarisch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht genannt), aber auch in deutlich größerem Ausmaß beim Niederschlagen von Aufständen, Arbeitskämpfen und während Konterrevolutionen (über 3000 Tote bei der Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik; 500 000 Tote im Spanischen Bürgerkrieg, davon allein 1700 bei der Niederschlagung des asturischen Bergarbeiter*innenstreiks 1934; 3197 gesicherte Todesopfer während des Pinochet-Diktatur in Chile; … Diese Liste lässt sich beliebig fortführen, bis in die heutige Zeit).
Eine von den bürgerlichen Medien gerne verwendete Referenz ist das Schwarzbuch des Kommunismus, das den 25 Millionen Opfern des Nationalsozialismus angeblich 100 Millionen „Tote des Kommunismus“ entgegen stellt. Das Buch wurde nicht gerade von Freund*innen des Kommunismus geschrieben, und nach seinem Erscheinen Ende der 1990er wurde teils sehr heftige Kritik geübt, auch an der Methodik des Buches.
Zum Weiterlesen
30 Jahre Mauerfall: Warum brauchen wir heute umso mehr den Sozialismus? von Stefan Schneider.
Lasst uns über die DDR sprechen – aber ehrlich. Von Marius Rabe.
Außerdem verzichten wir an dieser Stelle, uns zum “Hufeisenschema” zu äußern, das politische Einstellungen nicht auf einem Strahl (von links nach rechts) anordnet, sondern davon ausgeht, dass die sich beide Einstellungen in ihren Extremen annähern, und eine Einteilung in “gemäßgt” und “extrem” mehr Sinn macht als in “links” und “rechts”. Dieses Schema wird in der Praxis in erster Linie für anti-linke und insbesondere anti-revolutionäre Agitation benutzt, denn man kann wunderbar aus ihr Ableiten, dass “Linksextremisten” genauso schlimm sind wie Rechtsextremisten. Dass diese Theorie nicht nur Unsinn, sondern ausgesprochen gefährlich ist, ist inzwischen sogar in den bürgerlichen Medien angekommen. Dazu aber an anderer Stelle mehr.
Die Toten des Kapitalismus
In dieser Gegenüberstellung von Faschismus und Kommunismus und dem Vergleichen von Verbrechen wird ein Akteur meistens ignoriert: der Kapitalismus.
Und der bringt die Anzahl der Toten, die ein Gesellschaftssystem zu verantworten hat, auf eine völlig neue Ebene:
In einer Welt, in der genug für alle da wäre, sterben jedes Jahr 9 Millionen Menschen an Hunger, davon über 3 Millionen Kinder (wir erinnern uns an den Slogan der Welthungerhilfe: “Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger.”).
Jeder 9. Mensch hungert, wie viele durch Hunger geschwächt an Krankheiten oder anderen Strapazen sterben, kann man nur schätzen.
Laut WHO sterben jedes Jahr 1,5 Millionen Menschen an Krankheiten, die durch eine gute Impfabdeckung verhindert werden könnten, davon die meisten in ärmeren Ländern.
Hinzu kommen Krankheiten, die zwar nicht verhindert, aber durch ausreichende Infrastruktur (insbesondere sauberes Wasser, Infrastruktur zum Handhaben der Krankheitstoten und medizinische Versorgung) deutlich abgeschwächt werden können. Eine Versorgung, die in unserer Welt rein materiell ohne Probleme möglich wäre: Epidemien, Krankheiten, die längst ausgestorben sein sollten, wie Typhus, Cholera, Diphtherie, Tuberkulose, aber auch Krankheiten, die für Menschen mit ausreichender medizinischer Versorgung ernsthaft, aber meistens nicht tödlich sind, wie Lungenentzündungen.
Im Jahr 2000 schätzten Wissenschaftler*innen die Anzahl der “Toten durch Armut”, also Menschen, die aufgrund von durch Armut ausgelösten sozialen Faktoren umkamen. Sie kamen auf 712.000 Tote, nur in den USA und nur für das Jahr 2000. Das sind etwa 0,2% der gesamten Bevölkerung der Vereinigten Staaten.
Insgesamt haben viele der sogenannten “Vermeidbaren Todesursachen”, wie schmutziges Wasser, Luftverschmutzung oder sexuell übertragbare Krankheiten, bzw. ihre fehlende Behandlung, für ihr Fortbestehen nur einen Grund: Es lohnt sich für die Kapitalist*innen einfach finanziell nicht.
Auch eine Vielzahl der 380.000 Toten und 340 Millionen Verletzten durch Arbeitsunfälle jedes Jahr wären vermeidbar, würden Unternehmen im Kapitalismus nicht mehr auf ihre Profitrate als auf das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter*innen schauen.
Und das sind nur die Dinge, die gerade aktuell passieren. Es gibt auch viel, das nicht passiert und Menschenleben kostet. Es gibt z.B. nach kapitalistischer Logik keinen Grund, eine Heilung für Krebs zu erforschen. Eine stetige, möglichst teure Behandlung reicht vollkommen aus.
Außerdem steuern wir – dem Kapitalismus sei Dank – auf eine Klimakatastrophe zu, die unzählige Menschenleben kosten wird. Unser Wasser wird dank profitoptimierter Land- und Abwasserwirtschaft immer dreckiger, während unsere Landwirschaft Dank einseitig optimiertem Saatgut immer wackeliger wird. Diese Prozesse werden – vielleicht noch nicht morgen, aber irgendwann ganz sicher – dazu führen, dass wir weltweite Hungersnöte bekommen und Kriege um Trinkwasser führen werden.
Lasst uns deshalb an dieser Stelle die Frage stellen: Anstelle eines Denkmals für die Opfer „des Kommunismus“, wäre es nicht vor allem angebracht, eines für die Opfer des Kapitalismus zu errichten?
Wem der Artikel zu lang ist – ein Schweizer Genosse berechnet in diesem Video die Toten des Kapitalismus (11:45, deutsch)