Wirtschaftslockdown statt nur private Kontakt­beschränkung!

02.12.2021, Lesezeit 9 Min.
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Bild: Deliris / Shutterstock.com

Die Corona-Fallzahlen sind ungebrochen hoch, die Intensivbetten füllen sich und das Krankenhauspersonal verzweifelt. Und die Politik? Plant einen Lockdown für Ungeimpfte. Anstatt jedoch einfach nur das Leben von Millionen Menschen einzuschränken, braucht es zuallererst einen Lockdown der nicht-essentiellen Wirtschaft.

Ungebremst rollt die vierte Welle von Südost nach Nordwest über die Republik. Nach langem Zögern sehen sich die Regierungen von Bund und Ländern nun zum Handeln gedrängt. Statt jedoch effektive Maßnahmen umzusetzen, die vor einer Einschränkung der Wirtschaft nicht zurückscheuen, geht aus der heutigen Bund-Länder-Konferenz ein Lockdown für Ungeimpfte hervor. Zudem werden die Rufe nach einer Impfpflicht lauter.

Der Hintergrund, vor dem der Corona-Gipfel stattfand, ist dramatisch: In Bayern, Sachsen und Thüringen, wo die Pandemie derzeit am härtesten wütet, ist die Belastungsgrenze vieler Krankenhäuser schon längst überschritten. In einer Großoperation unter Beteiligung der Bundeswehr wurden am Wochenende 50 Covid-Intensivpatient:innen in Bundesländer verlegt, wo das Infektionsgeschehen noch nicht ganz so heftig ist. Wie lange dies in Anbetracht der anhaltend hohen Infektionszahlen noch möglich sein wird, ist fraglich. Zumal sich die aktuellen Neuinfektionen ja erst in zwei bis drei Wochen als Patient:innen in den Krankenhäusern zeigen. Intensivpflegekräfte aus Bayern und Baden-Württemberg berichten gegenüber Klasse gegen Klasse, dass es bei der aktuellen Entwicklung noch vor Weihnachten zu einer flächendeckenden Triage in Deutschland kommen wird. Es wird also in Ermangelung ausreichender Intensivbetten und Beatmungsgeräten abgewogen werden müssen, welche Patient:innen überhaupt eine – im Zweifelsfall lebensrettende – Behandlung bekommen und welche nicht.

„Unterm Strich betreiben wir bereits täglich Triage“, meint der Direktor der Neurochirurgie im Münchner LMU-Klinikum Jörg-Christian Tonn. „Und zwar bei Patienten ohne Covid-Erkrankung.“ Wie in drei Vierteln der deutschen Krankenhäuser werden auch in München sogenannte „elektive“ Behandlungen verschoben. Unter diese aufschiebbaren Behandlungen fallen beispielsweise Krebsoperationen, deren Verschiebungen nicht zum unmittelbaren Tod führen, jedoch die Chancen einer erfolgreichen Therapie drastisch senken. Eine „weiche Triage“ ist also schon längst Realität bei der Vergabe von Intensivbetten. Wann die dritte Kategorie der Triage, die Sterbebegleitung für Patient:innen mit geringerer Überlebenschance, umfassend angewendet werden muss, ist bei dem derzeit ungebremsten Infektionsgeschehen nur noch eine Frage der Zeit. Davon betroffen sind jedoch nicht nur Covid-Infizierte, sondern auch alle anderen Patient:innen. Im Dezember vergangenen Jahres – während der bisher größten Corona-Welle – lag die durchschnittliche Sterblichkeit 31 Prozent über dem Durchschnittswert der Vorjahre. Doch nach fast zwei Jahren Pandemie sind die Krankenhäuser aufgrund des politischen Versagens wesentlich schlechter aufgestellt als vor der Pandemie. Das Gesundheitssystem wurde nicht gestärkt, sondern geschwächt. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es circa. 4.000 betreibbare Intensivbetten weniger.

Was es braucht…

Der scheidende Gesundheitsminister Spahn meint zynisch, dass bis zum Ende des Winters wohl jeder geimpft, genesen oder gestorben sein wird. Die politische Verantwortung wird wieder einmal auf die Schultern der Einzelnen abgeladen: Seit Wochen wird eine heiße Debatte über eine Impfpflicht geführt, während die Impf-Infrastruktur nun kaum ausreicht, um die Nachfrage zu bedienen. Statt einer Priorisierung nach Risikogruppen wurde die Booster-Impfung nach fünf Monaten für alle freigegeben. Bei den momentanen Kapazitäten ist das unmöglich realisierbar, denn aus Kostengründen wurden die meisten Impfzentren geschlossen und müssen erst wieder aufgebaut werden. Bei der Terminvergabe für Erstimpfungen ist die Situation derzeit noch viel katastrophaler als bei den Booster-Impfungen. An den Impfzentren in Berlin gibt es beispielsweise keine freien Termine für Erstimpfungen vor Ende Januar. Statt einer Impfpflicht braucht es eine Impfkampagne, die den Schutz von vulnerablen Gruppen in den Vordergrund stellt und durch individuelle Überzeugungsarbeit daran arbeitet, die Quote der Erstimpfungen zu erhöhen.

Aktuell braucht es jedoch unmittelbar wirksame Maßnahmen, um das ungebremste exponentielle Wachstum der Corona-Fälle aufzuhalten, damit die Ausbreitung der Pandemie so schnell wie möglich gestoppt werden kann: Dies geht nur mit einem Lockdown, der die Gesundheit der Bevölkerung – sowohl den Schutz vor Infektion als auch das psychische Wohlbefinden – und nicht die Profite der Konzerne in den Vordergrund stellt.

Die momentanen Fallzahlen sind zu hoch und ihr Wachstum zu stark, als dass tiefgreifende Maßnahmen noch vermieden werden könnten. Doch damit Kontaktbeschränkungen wirklich wirksam sind und sich nicht auf Kosten unserer Gesundheit monatelang hinziehen, ist ein Herunterfahren der nicht-essentiellen Wirtschaft notwendig. Und die ersten Lockerungen nach einem erfolgreichen Lockdown dürften nicht zuerst der Wirtschaft zu Gute kommen, sondern vor allem dem Bildungssystem und den persönlichen Bedürfnissen der Bevölkerung. Also: Schulen und Universitäten unter verstärkten Hygienemaßnahmen wieder öffnen, bevor weiter Autos produziert werden.

…und was der Corona-Gipfel beschlossen hat

Stattdessen wollen die Parteien der Ampel-Koalition die unzureichende Politik ihrer Vorgänger:innen fortsetzen. Sie warten ab, nur um dann, wenn es eigentlich schon zu spät ist, die Bevölkerung zu einer massiven Einschränkung ihres Privatlebens zu zwingen. Auf der Bund-Länder-Konferenz wurde heute parteiübergreifend beschlossen, was der Noch-Gesundheitsminister Spahn bereits selbst einen „Lockdown für Ungeimpfte“ genannt hat. So soll im Einzelhandel auch in Regionen mit niedrigerer Inzidenz fortan die 2G-Regel greifen, lediglich Geschäfte des täglichen Bedarfs sind davon ausgenommen. Für Ungeimpfte soll zudem eine scharfe Kontaktbeschränkung gelten. Treffen im Privaten, an denen ungeimpfte bzw. nicht-genesene Personen teilnehmen, sollen demnach auf einen Haushalt sowie maximal zwei Personen eines weiteren Haushalts beschränkt werden. Diese Vorschrift soll nur dann nicht gelten, wenn ausschließlich Geimpfte oder Genesene zusammenkommen. Also: 2G auch im Privaten.

Der Druck, sich impfen zu lassen, soll auf diese Weise wohl weiter steigen. Darauf vertrauen wollen uns Bund und Länder jedoch nicht. So war auch die Diskussion über eine Impfpflicht Bestandteil des Gipfeltreffens. Sie könnte bereits Ende Februar kommen. Um sofort eine Wende im Infektionsgeschehen herbeizuführen, sind jedoch weder Impfpflicht noch Lockdown für Ungeimpfte geeignet – denn im Beruf laufen die Ansteckungen weiter und ausreichend Impfangebote fehlen noch immer.

Noch während des Wahlkampfes gab es zwischen allen Parteien in puncto Lockdown eine ziemlich einheitliche Meinung: Es werde ihn nicht mehr geben. Einige Parteien machten dies sogar zu einem ihrer Wahlversprechen. Mittlerweile werden aber auch wieder in der Politik Stimmen laut, die einen umfassenden Lockdown fordern. In einigen Bundesländern wie Bayern gibt es bereits starke Einschränkungen. Und der Niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) forderte in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung neben einer Impfpflicht auch „für die letzte Dezember- und die erste Januarwoche im wahrsten Sinne des Wortes für alle eine Atempause“. Also einen harten Lockdown über die Feiertage. Wie vergangenes Jahr schon, soll das Weihnachtsgeschäft noch kräftig boomen, und die Menschen über die Feiertage dann alleine zuhause eingeschlossen werden. Ein Lockdown, der vor allem das persönliche Leben einschränkt, damit die Wirtschaft weiter brummt. Ein Lockdown, der viel zu spät eintreffen würde und somit im wahrsten Sinne des Wortes billigend in Kauf nimmt, dass tausende weitere Menschen ersticken – und die Beschäftigten der Krankenhäuser sich kaputt arbeiten.

Menschenleben über Profite

Dass Menschenleben offenbar weniger wichtig als Profite sind, sieht man auch am Beispiel von VW. Der Konzern produziert wie viele Großunternehmen traditionell über Weihnachten ohnehin nicht und würde kaum wirtschaftlichen Schaden von einem Ferien-Lockdown nehmen. Im letzten Jahr wurde der Autobauer aus Niedersachsen aber, neben anderen Subventionen, mit 700 Millionen Euro Steuergeldern für Kurzarbeiter:innengeld unterstützt. Trotzdem schüttete VW für das Geschäftsjahr 2020 insgesamt 2,4 Milliarden Euro Dividende an die Aktionär:innen aus. Und nun soll bis zu den Weihnachtsferien weitergearbeitet werden? Im Wissen, dass dies zu einem Kollaps der Krankenhäuser über die Feiertage führen wird?

Auch für das Gesundheitssystem braucht es ein Sofortprogramm. Es muss mit mehr Personal und besserer finanzieller Ausstattung gegen die Notsituation gearbeitet werden. Zehn Euro mehr pro Stunde für alle Krankenhausbeschäftigten, um die unvorstellbare Schinderei wenigstens angemessen zu honorieren und damit eventuell auch Pflegekräfte, die in den letzten Jahren den Beruf verlassen haben, für eine erneute Arbeit am Krankenhaus motivieren. Schwache Lohnerhöhungen bei hoher Inflation, wie sie Ver.di gerade für die Beschäftigten an den Universitätskliniken ausgehandelt hat, sind dafür zu wenig.

Statt es bei solchen faulen Kompromissen zu belassen, müssen die Gewerkschaften und organisierten Beschäftigten notfalls mit Streiks das Herunterfahren der Wirtschaft und eine schnelle Verbesserung der Situation an den Krankenhäusern erzwingen – da die Regierung allein offensichtlich nicht willens ist, diesen notwendigen Schritt zu gehen. Ob die Produktion in einzelnen Betrieben ganz oder teilweise heruntergefahren werden muss oder ob unter entsprechend umfangreichen Hygienemaßnahmen weitergearbeitet werden kann, können die Beschäftigten am besten beurteilen. Deshalb sollten sie in Komitees oder vertreten durch ihre Betriebsräte darüber entscheiden, wie lange welche Teile eines Betriebs stillstehen müssen, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Selbstverständlich muss während der Produktionspause weiterhin der volle Lohn an die Beschäftigten ausgezahlt werden, um keinen falschen Druck zur schnellen Wiederaufnahme zu erzeugen.

Nur mit einem solchen konsequenten Wirtschaftslockdown kann die vierte Welle gebrochen werden, ohne die psychischen und ökonomischen Kosten in erster Linie allen Arbeiter:innen und Jugendlichen aufzubürden. Wenn das nicht geschieht, die Impfkampagne nicht weiter gestärkt wird und nicht ernsthaft gegen die prekären Arbeitssituationen in den Krankenhäusern angekämpft wird, laufen wir Gefahr, das Gesundheitssystem und mit ihm seine Beschäftigten zu zerbrechen.

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