„Wir merken nichts von Kürzungen, wir hatten schon vorher nichts“

08.10.2024, Lesezeit 9 Min.
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Hamburger Tunnel in Münster Foto: Waffen der Kritik

Münster: Derzeit leben rund 2.097 Menschen in unserer Stadt ohne eigene Wohnung. Doch trotz dieser alarmierenden Zahl stehen wichtige Hilfsangebote wie das Haus der Wohnungslosen und der Drogenhilfeverein Indro aufgrund von Einsparungen immer wieder auf der Kippe. Um mehr über die Auswirkungen dieser Sparmaßnahmen auf die Klient:innen zu erfahren, sprachen wir mit einem Mitarbeiter des Indro e. V.

Auf einer Demonstration, die von der Drogenhilfeorganisation Indro e.V. am Bremer Platz organisiert wurde, hatten wir die Gelegenheit, mit Maurice, einem der dort tätigen Sozialarbeiter, zu sprechen. Seine Schilderungen waren geprägt von tiefem Frust, aber auch von bemerkenswertem Durchhaltevermögen. 

„Wir merken nichts von Kürzungen, wir hatten schon vorher nichts“, fasste er die Situation der sozialen Einrichtung zusammen, als wir auf die möglichen Sparmaßnahmen im Sozialsektor zu sprechen kamen. 

Unser Gebäude wird von der Stadt  gestellt, unsere Gelder auch. Unser Equipment und Ausstattung ist sehr schlecht aufgestellt. Man sieht es ja überall, in allen Bereichen. Alle klagen, dass es weniger Personal gibt. Dass die Arbeit dadurch mehr wird und die Qualität unserer Arbeit darunter leidet, spüren wir natürlich auch.

Die sozialen Einrichtungen in Münster leiden unter akutem Personalmangel und mangelhafter Ausstattung, die notwendig ist, um wohnungslosen und suchtkranken Menschen die nötige Hilfe bieten zu können. Der Sozialarbeiter beschrieb eindringlich die steigenden Anforderungen, die an Sozialarbeitende gestellt werden – mehr Bürokratie, mehr Druck, während die Unterstützung für die Klienten oft unzureichend bleibt. „Die Hürden werden immer höher“, betonte er, “insbesondere im Hinblick auf die Finanzierung ambulanter Betreuungsangebote”.

Verdrängung statt Lösungen

Ein zentraler Kritikpunkt ist, dass es für Menschen ohne Wohnung kaum Orte gibt, an denen sie bleiben dürfen – seien es Parks oder öffentliche Plätze. Die häufige Vertreibung durch das Ordnungsamt sowie der Mangel an öffentlichen Toiletten und Unterkünften verschärfen die ohnehin prekäre Lebenssituation vieler seiner Klient:innen. Der Sozialarbeiter fordert mehr Dauerschlafplätze, an denen Menschen nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig ein Zuhause finden können.

Bereits am Bremer Platz wurde durch die Neusanierung die Wohnungslosen und Konsumierende auf einen kleinen Bereich zusammengepfercht.

Das waren vorher unterschiedliche Konsumenten ‚Szenen‘, die auf dem Bremer Platz verteilt waren.

Aus Sicht der Stadt scheint es keinen Unterschied zu machen, ob Wohnungslose Teil der Trinker-Szene, heroin- oder crackabhängig sind – Hauptsache, sie sind an einem kleinen Fleck und nicht sichtbar für Investoren wie Hendrick Grau oder Deilmann, welche im Viertel zahlreiche Wohneinheiten besitzen.

Die Wohnungslosen der Stadt haben das Problem, dass sie halt nirgendwo hingehen können. Im Stadtpark werden sie durch das Ordnungsamt vertrieben, weil eben das Zelten nicht erlaubt ist. Die haben keine Möglichkeit irgendwo vernünftig aufs Klo zu gehen, es sei denn, sie bezahlen dafür.

All das während gleichzeitig fast 3.400 Wohnungen der Wohnungen in der Stadt unbewohnt sind. Das verdeutlicht nochmal  ein zentrales Problem der Wohnungspolitik: Wohnraum ist vorhanden, jedoch oft nicht für jene, die ihn am dringendsten benötigen, sondern als Spekulationsobjekte.

Geld ist da: Für Investoren-Träume.

Auch die geplante Umgestaltung des Hamburger Tunnels in Münster steht exemplarisch für die Verdrängung von Wohnungslosen und Konsument:innen. Die dank ihres starken Urin-Geruchs stadtbekannte Passage soll aufwendig für 3,9 Millionen Euro erneuert werden. Allerdings würde dieses Projekt die Wohnungslosen aus dem Bahnhofsviertel noch stärker verdrängen. Defensive Architektur findet immer wieder neue kreative  Möglichkeiten, den ärmsten selbst die prekärsten Rastmöglichkeiten unerträglich zu machen. Im Tunnel soll Vogelgezwitscher über Lautsprecher abgespielt werden. Das sind also die Antworten der Stadt auf ein akutes Problem – ein Zeichen dafür, dass die eigentlichen Bedürfnisse der Menschen nicht ernst genommen werden. Die Stadt setzt offenbar mehr auf das Wohl von Investor:innen als auf die Bedürfnisse der Bedürftigen.

Dieses Vorgehen spiegelt eine Stadtpolitik wider, die im Interesse von Investor:innen und Immobilienbesitzer:innen handelt. Gleichzeitig verschärfen sich soziale Probleme wie steigende Mieten und Wohnungslosigkeit weiter. Die Unterbringung von Erstsemester Studierenden in einer Turnhalle verdeutlicht die angespannte Wohnsituation in Münster. Der Einsatz öffentlicher Gelder für elitäre Projekte wie dem Musik Campus ist unverantwortlich. Diese Mittel könnten sinnvoller in den Ausbau der sozialen Daseinsvorsorge und die Bereitstellung öffentlichen Wohnraums investiert werden. Ein oft übersehenes Problem ist die Stigmatisierung von Wohnungslosen und Drogenabhängigen. Viele tragen die Last jahrelanger Verelendung und psychischen Leids. Ein großer Teil dieser Menschen hat den Wunsch, wieder in ein „normales Leben“ zurückzukehren. Doch nach Jahren auf der Straße fehlt oft die Orientierung. „Auf dem Sofa sitzen und fernsehen“ sei für viele bereits ein Traum, so der Mitarbeiter vom Drogenhilfeverein Indro.

Öffentliche Ordnung vor Menschenwürde

Die Herausforderungen, vor denen Wohnungslosen stehen, sind systemischer Natur. Wohnungslosigkeit ist kein individuelles Versagen, sondern das Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Versäumnisse. Es bedarf langfristiger, bedürfnisorientierter Wohnkonzepte, die auf das Wohlergehen und die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sind. Dazu gehören nicht nur bezahlbarer Wohnraum, sondern auch die Entstigmatisierung von Wohnungslosigkeit und Sucht sowie vor allem die Bekämpfung von Armut. Weiterhin ist Unterstützung für Menschen erforderlich, die durch das Raster fallen, überfordert sind mit Anträgen oder sich im Behörden-Dschungel nicht zurechtfinden können. Auch der Ausbau von Suchthilfen, eine Diamorphin-Ambulanz sowie die Nutzung von Leerständen zur Unterbringung sind wichtige Maßnahmen.

Die vorhandenen Notunterkünfte sind oft überfüllt und können den Bedürfnissen der Obdachlosen nicht gerecht werden. Die Einrichtungen sind häufig unterbesetzt, und es fehlt an qualifiziertem Personal, das die notwendige soziale und psychologische Betreuung leisten kann. Statt menschenwürdige Lösungen zu bieten, sind die Hilfsangebote in Münster oft auf kurzfristige Maßnahmen beschränkt. 

Die Stadt hat zwar in der Vergangenheit versucht, einige Hilfsangebote aufrechtzuerhalten, doch stehen diese aufgrund von Einsparungen und Haushaltspriorisierungen von Prestige-Projekten, immer wieder auf der Kippe. In vielen Fällen wird den obdachlosen Menschen nur eine Unterkunft angeboten, die alles andere als ein sicheres und stabiles Zuhause ist. Viele meiden aus Angst vor Diebstahl oder sexuellen Übergriffen das Haus der Wohnungslosen und bevorzugen auf der Straße zu schlafen. Die Folge ist, dass viele Obdachlose sich gezwungen sehen, in den öffentlichen Raum auszuweichen, wo sie der ständigen Gefahr von Vertreibungen und Schikanen durch die Ordnungskräfte ausgesetzt sind. Münster scheint in ihrer Politik den Fokus mehr auf die Wahrung der „öffentlichen Ordnung“ zu legen, anstatt nachhaltige Lösungen für die Bedürfnisse der Betroffenen zu entwickeln.

Um eine echte Verbesserung für obdachlose Menschen und Suchtkranke in Münster zu erreichen, bedarf es einer grundlegenden Reform der Finanzierung sozialer Einrichtungen, die den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht wird und deren Lebensqualität nachhaltig verbessert. Sozialarbeiter:innen, die tagtäglich mit diesen prekären Lebenslagen konfrontiert sind, spielen in diesem Kampf eine entscheidende Rolle. Und auch Sie sind sehr häufig überlastet mit ihrer Arbeit:

Auch die eigene Erholung kommt zu kurz. Wir haben auch Viele Praktikanten und Praktikantinnen, nicht nur einzelne Personen, sondern gleich mehrere, die dann über Ohrensausen oder Kopfschmerzen klagen, weil es einfach zu viel ist, in zu kurzer Zeit.

Das Problem lösen wir nur selbst!

Es ist zentral, die soziale Misere, die Wohnungslosigkeit und Armut hervorbringt, als das zu begreifen, was sie ist: ein systemisches Problem, das nicht durch kurzfristige Maßnahmen, sondern nur durch uns selbst gelöst werden kann. Die derzeitige Situation zeigt immer deutlicher, dass im Kapitalismus Menschenwürde keine Priorität hat. Was zählt sind Kapitalinteressen. Während enorme Summen in Aufrüstung und Krieg oder sich auf kommunaler Ebene in elitäre Bauvorhaben und Defensive Architektur fließen, werden Bereiche, die essentielle soziale Hilfsangebote bereitstellen könnten schon seit Jahren vernachlässigt. Das Problem ist, dass die soziale Arbeit selten laut wird und sich häufig Abspeisen lässt mit leeren Versprechungen von Seiten der Politik. Die Prioritätensetzung im Kapitalismus wird immer zugunsten der Schaffung und Stabilisierung der eigenen Absatzmärkte sein, statt in Soziales. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn wir die Ausgaben für militärische Aufrüstung in diesem Kontext als Beispiel nehmen. Denn anhand dessen kann man sehr praktisch greifbar machen, wofür plötzlich Sondervermögen locker gemacht werden können. Mit dem Geld, das in Rüstungsprojekte fließt, könnte die finanzielle Misere jedes einzelnen Obdachlosen in diesem Land gelöst werden oder die soziale Arbeit als wichtige Anlaufstelle ausreichend durchfinanziert werden.

Um die drängenden Probleme und Missstände im Sozialsektor wirksam anzugehen, dürfen wir uns nicht  auf leere Versprechungen vonseiten der politischen Eliten wie dem Oberbürgermeister Markus Lewe oder den Ratsfraktionen verlassen. Der Kampf um Menschenwürde und soziale Sicherheit ist ein gemeinsames Unterfangen, das wir nur durch koordinierte Aktionen und solidarisches Handeln gegen diesen Staat führen können. Es ist unabdingbar, Unterstützungskomitees zu bilden, die aus Beschäftigten der Hilfseinrichtungen, Anwohner:innen und auch Klient:innen bestehen. Der Druck, den wir gemeinsam aufbauen, wird entscheidend sein, um die nötigen Veränderungen zu erzwingen und eigenständig unsere Forderungen umzusetzen. Es ist ein Kampf um gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten der Einrichtungen, für Würde und für die Rechte der Klient:innen, für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und für eine gerechte Gesellschaft, die niemanden zurücklässt!

Berichte von deinen Erfahrungen!

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