„Wir hätten den Streik nicht aussetzen sollen“

18.03.2016, Lesezeit 6 Min.
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Pflegekräfte der Charité unzufrieden wegen Personalnot. Kritik am Kurs ihrer Gewerkschaft. Ein Interview mit Robert Piermann (Name geändert), Krankenpfleger am Berliner Universitätsklinikum Charité und Mitglied der Gewerkschaft ver.di.

Anfang März hat die Leitung der Berliner Uniklinik Charité die Tarifverhandlungen mit ver.di über eine Mindestbesetzung an den Stationen gesprengt. Wie konnte es dazu kommen?

Letzten Sommer haben wir zehn Tage lang gestreikt. Einige von uns waren von der Aussetzung des Streiks im Juli überrascht – der Kampf wurde sehr überstürzt abgebrochen. Ver.di hatte ein Eckpunktepapier mit der Charité vereinbart und wollte in Verhandlungen die Details klären. Aber es war klar, dass man bei langen Verhandlungen, ohne Druck von der Basis, in Probleme geraten kann. Nun ist genau das passiert.

Wie liefen die weiteren Gespräche nach Beendigung des Streiks?

Die Verhandlungen dauerten mit Unterbrechungen acht Monate. Mit dem Streik hatten wir einen festen Personalschlüssel für die Stationen gefordert, zum Beispiel eine Pflegekraft pro fünf Patient*innen auf den normalen Stationen, eine Pflegekraft pro zwei Patient*innen auf den Intensivstationen, und es sollte keine Pflegekraft allein in der Nachtschicht arbeiten.

Aber jetzt soll sich der Vertrag wohl an einem veralteten System orientieren, der Pflegepersonalregelung (PPR). Die Charité hatte bisher den PPR-Schlüssel zu 80% erfüllt, jetzt soll sie dies zu 90% umsetzen. Zusätzlich sollen sich Stellen aus einem Katalog von sogenannten Sondertatbeständen ergeben.

Das wäre vielleicht eine Verbesserung, bleibt aber weit hinter unseren Forderungen zurück. Man weiß nicht wirklich, was das auf der eigenen Station konkret bedeuten würde. In der Belegschaft gibt es jetzt eine große Unruhe. Viele Kolleg*innen sagen, dass die Personalsituation seit dem Streik schlimmer geworden ist.

An der Charité haben „Tarifberater*innen“ von den Stationen die Verhandlungen begleitet. Wie lief das?

Rund 100 Kolleg*innen trafen sich zu den Sitzungen. Das ist auf jeden Fall eine große Weiterentwicklung im Vergleich zu anderen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, wo es ganz viel Bürokratie gibt. Mit den Tarifberater*innen wollte die ver.di-Betriebsgruppe eine bessere Verankerung in den Stationen aufbauen. Doch am Ende entscheidet trotzdem die Tarifkommission – von den Tarifberater*innen wird nur eine unverbindliche Meinung geholt.

Wie lief die Arbeit der Berater*innen?

Ver.di erklärte, der Tarifvertrag hätte kurz vor der Unterschrift gestanden, als die Charité die Verhandlungen sprengte. Die Tarifberater*innen kennen aber nicht alle Teile des Vertrags – außerhalb der Tarifkommission weiß niemand, was genau drin steht. Es ist auch nicht klar, wie geregelt werden soll, wenn ein bestimmter Personalschlüssel ausgehandelt wird, und die Charité sich einfach nicht dran hält.

Wäre eine Alternative möglich gewesen?

Wir hätten im Juli den Streik nicht aussetzen sollen. Hätten wir den Streik aufrechterhalten, wären bessere Eckpunkte möglich gewesen, und die Tarifkommission hätten nicht acht Monate verhandeln müssen.

Die Vorgeschichte ist ja älter. Seit 2013 kämpfen wir für Mindestpersonalbesetzungen. Im Jahr 2014 hat die Charité mittels Tarifvertrag 80 neue Stellen bewilligt – aber feste Zahlen dieser Art sind einfach nicht kontrollierbar. Die Charité ist ein Moloch und niemand hat den Überblick. Sie sagen, dass 80 neue Kolleg*innen eingestellt wurden – aber wie viele sind in der gleichen Zeit gegangen? Man weiß, dass in der Laufzeit dieses kurzen Tarifvertrages die Zahl der Pflegekräfte abgenommen hat. Deswegen forderten wir 2015 Pauschalbesetzungen für jede Station.

Im Juli wurden uns die Eckpunkte vorgestellt. Je nach Campus gab es bei den Versammlungen unterschiedlich viel Diskussion. Eine Mehrheit war für die Annahme, soweit ich weiß. Aber manche Kolleg*innen hielten das Ergebnis für zu wenig. Und nicht wenige haben mehr Zeit zur Diskussion gefordert. Die Sekretärin der Gewerkschaft hat vehement gefordert, das Papier sofort anzunehmen. Ich fand diese Eile überraschend.

In der Belegschaft haben wir noch nicht so eine Diskussionskultur. Und es herrscht bei ver.di anscheinend die Idee vor, dass es ab einem gewissen Punkt nur auf das Verhandlungsgeschick der „Profis“ ankommt. In Wirklichkeit zählt der Streik selber.

Wie geht es jetzt weiter?

Damals hat die Tarifkommission gesagt, wir verhandeln „unter Streikbedingungen“, das heißt wir können jederzeit wieder raus. Aber jetzt heißt es, wir seien wegen der Eckpunkte in der Friedenspflicht. Deswegen gibt es einen großen Unmut.

Am 18. März ist eine Demo vor dem Aufsichtsrat der Charité. Ver.di hat gute und harte Arbeit geleistet. Aber es ist eine komische Einstellung, dass sie „politischen Einfluss“ wichtiger finden als Streiks. ver.di sagt, sie wollen keine Streiks und warten lieber auf die Abgeordnetenhauswahlen – aber was soll da bitte kommen?

Ob die Kollegen nochmal streiken würden? Sie sind auf jeden Fall echt sauer. Wir sehen das erst, wenn wir es probieren. Vor dem Sommer wussten wir auch nicht, ob das klappen würde. Wir könnten jetzt eine Niederlage einfahren – aber das passiert wohl auch, wenn wir keinen Streik probieren.

Die Charité bezeichnet sich gern als einen Leuchtturm der Wissenschaft. Aber wir erleben jetzt, dass die Erkenntnisse der Pflegewissenschaft sie gar nicht interessieren. Sie wollen „Servicekräfte“ ohne Pflegeausbildung statt qualifiziertem Personal einstellen. Wir freuen uns über Unterstützung, aber das Austeilen von Essen im Krankenhaus ist nicht das Gleiche wie im Hotel. Man muss ja auch sehen können: Was haben die Patient*innen gegessen? Haben sie die Medikamente eingenommen? Wie sehen sie danach aus? Aufgrund der Personalnot werden die Servicekräfte immer mehr gezwungen, auch Tätigkeiten auszuführen, für die sie nicht qualifiziert sind. Dies geht zu Lasten der Patienten und der Kollegen im Service!

Kundgebung der ver.di-Betriebsgruppe vor der Aufsichtsratssitzung der Charité: heute, 18. März, 15:45 Uhr, Charité Campus Mitte, Berlin

Dieses Interview in der jungen Welt

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