Wir brauchen revolutionäre Abgeordnete im Parlament – wie in Argentinien

22.09.2021, Lesezeit 10 Min.
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Im Bild: Nicolás Del Caño, Abgeordneter der FIT im argentinischen Parlament. Foto von Laizquierdadiario.com

Zu den Wahlen an diesem Sonntag dominiert in der Linken die Position für Rot-Rot-Grün zu stimmen - ein revolutionäres Programm für die Wahlen aufzustellen, sei doch unrealistisch. In Argentinien zeigt allerdings die Front der Linken (FIT) auf, wie eine revolutionäre Alternative aussehen kann.

Während Deutschland über mögliche Koalitionsoptionen debattiert, läuft in linken und antikapitalistischen Kreisen eine wichtige Diskussion über die Wahlen. Große Teile der Linken unterstützen die Bildung einer rot-rot-grünen Regierung nach den Wahlen, in der Hoffnung, dadurch eine CDU-geführte Regierung und noch größere Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse zu verhindern.

Viele hoffen auch auf die Umsetzung bestimmter Wahlversprechen von RRG, die konkrete Verbesserungen für die Lebensgrundlage der Arbeiter:innenklasse bedeuten könnten: die Erhöhung des Mindestlohns, eine Grundrente, Kindergrundsicherung sowie eine bessere Klimapolitik.

Es kann kaum überraschen, dass SPD, Grüne und Linkspartei vor den Wahlen viele Versprechen für Verbesserungen machen. Doch werden Sie diese tatsächlich umsetzen? SPD und Grüne haben sogar als rot-grüne Bundesregierung Anfang der 2000er Jahre den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen und Hartz IV eingeführt, wodurch Millionen von Menschen zur Altersarmut verdammt wurden. Und auch die Linkspartei ist in Landesregierungen wie in Berlin, Bremen und Thüringen mit dafür verantwortlich, Krankenhausprivatisierungen mitzuverwalten, Abschiebungen fortzusetzen und die Polizei auszubauen.

Warum nun der vorgebliche Sinneswandel? Der Grund ist weniger, dass sie zur „Vernunft“ gekommen sind, sondern viel mehr, dass die Sektoren der Arbeiter:innenklasse und der Jugend nach (und während) einer tiefen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise einen Druck auf diese Parteien, auf ihre aktuellen Führungen ausüben, sodass sie sich gezwungen sehen, trotz ihrer aktuellen und bisherigen Politik große Versprechen zu machen. Dieser Druck wurde durch große Streikbewegungen im öffentlichen Sektor, in Krankenhäusern, aber auch im Kampf gegen Entlassungen im Metallsektor nur verstärkt.

Warum wir diesen Versprechen kein Vertrauen schenken können und gegen eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei kämpfen müssen, warum eine Stimme für die rot-rot-grünen Parteien keine Stimme gegen rechts ist und was für ein Programm die Arbeiter:innenklasse und Jugend heute angesichts der Krise braucht, haben wir versucht, in den verlinkten Artikeln darzulegen.

Revolutionärer Parlamentarismus

Eine Absage an Rot-rot-grün und an die Strategie der Linkspartei, soziale Kämpfe in das Parlament zu kanalisieren und somit in das Regime zu integrieren, ist jedoch keinerlei Absage an eine Arbeit im bürgerlichen Parlament an sich. Im Gegenteil vertreten wir die Ansicht, dass wir im Bundestag und in allen Parlamenten auf allen Ebenen revolutionäre Abgeordnete brauchen, die ein Sprachrohr der Kämpfe sind und ihre Stellung im Parlament zur Unterstützung eben dieser Klassenkämpfe nutzen.

Die Debatte um den Charakter des bürgerlichen Parlaments und die Rolle, die Revolutionär:innen in ihnen spielen können, ist so alt wie die Arbeiter:innenbewegung und das bürgerliche Parlament selbst. Schon vor über 100 Jahren legte beispielsweise Rosa Luxemburg dar, dass Revolutionär:innen selbstverständlich die parlamentarische Bühne nutzen müssen, um mit den Massen zu reden und ihre Kämpfe zu unterstützen; nicht jedoch, um die Massen an den bürgerlichen Staat zu binden und die Illusion in seine Reformierbarkeit zu schüren. Im Gegenteil bezeichnete sie die Fokussierung auf die parlamentarische Arena anstelle der Intervention in den Klassenkampf in einer scharfen Polemik gegen Karl Kautsky als „Nichtsalsparlamentarismus […], im Gegensatz zur […] Massenaktion des Proletariats zur Erringung und Ausübung politischer Rechte.“

Die Politik der LINKEN im Parlament ähnelt im großen und ganzen diesem “Nichtsalsparlamentarismus”, von dem Luxemburg spricht. Anstatt auf größere Mobilisierungen und Streiks der Arbeiter:innenklasse und der Massen zu setzen, fokussiert sich die Führung der Linkspartei darauf, sich an der Regierung eines imperialistischen Staates zu beteiligen. In vielen der Kämpfen, besonders in Bundesländern, wo die Linkspartei an der Regierung ist, spielt sie die bremsende Rolle, die den Wut und Frust der Massen in rein parlamentarische und reformistische Wege kanalisiert. Das sehen wir in den Aussagen von Dietmar Barsch, dass die Streiks im öffentlichen Sektor “verhindert” werden sollen oder, dass die Linkspartei als Teil des Berliner Rot-Rot-Grünen Senats auf Schlichtungen setzte, um Streikbewegungen wie im Charité-Krankenhaus zu stoppen.

Front der Linken und Arbeiter:innen (FIT) in Argentinien

Ein Beispiel für revolutionären Parlamentarismus lässt sich heute in der argentinischen FIT finden – eine Wahlfront aus vier Parteien trotzkistischen Ursprungs, die bei den gerade stattgefundenen Vorwahlen zum Parlament fast 1,5 Millionen Stimmen erlangt hat – und im nordargentinischen Jujuy sogar mit dem sozialistischen Müllwerker Alejandro Vilca fast 24 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Die FIT erreichte ihre politische Stellung, die sie zur drittstärksten politischen Kraft Argentiniens machte, aber nicht dadurch, dass sie seichte Reformen verspricht oder programmatische Kompromisse macht, um keine Wähler:innen “abzuschrecken”. Im Gegenteil ist das Programm der FIT von dem Grundsatz geprägt, dass die Arbeiter:innenklasse und die armen Massen ein sozialistisches Übergangsprogramm brauchen, welches einen Weg der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse von allen Varianten der Bourgeoisie, allen staatlichen Institutionen und allen Bürokratien aufzeigt.

Das aktuelle Wahlprogramm der FIT beinhaltet deshalb radikale Forderungen wie ein Verbot von Entlassungen, die Enteignung und Verstaatlichung unter Arbeiter:innenkontrolle aller Unternehmen, die geschlossen werden, die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und die Verteilung der Arbeit auf alle Schultern, einen Bruch mit dem Internationalen Währungsfonds und die Nichtzahlung aller Auslandsschulden, die entschädigungslose Verstaatlichung der Banken und des Außenhandels, die sofortige Abschaffung aller Patente auf Impfstoffe und Medikamente, oder die ebenfalls entschädigungslose Verstaatlichung aller Labore unter Arbeiter:innenkontrolle. Dafür treibt die Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS) als Teil der FIT, die Selbstorganisierung der Arbeiter:innen gegen die Bürokratien der Gewerkschaften voran und unterstützt die Massenaufstände gegen die kapitalistischen und pro-imperialistischen Regierungen.

Die Abgeordneten der FIT wie Nicolás del Caño oder Myriam Bregman sind als Akteur:innen sozialer Kämpfe bekannt. Bei Streiks und Demonstrationen stehen sie regelmäßig in der ersten Reihe gegen die Repression der Polizei. Der schon erwähnte Alejandro Vilca ist seit vielen Jahren Anführer von Arbeitskämpfen prekärer Arbeiter:innen. Und während die Bundestagsabgeordneten der Linkspartei über 10.000 Euro verdienen, behalten die Abgeordneten der FIT von ihren Diäten nur einen durchschnittlichen Arbeiter:innenlohn und spenden den Rest an Arbeitskämpfe und soziale Bewegungen.

Doch nicht nur das aktuelle Wahlprogramm der FIT oder die Präsenz der FIT-Abgeordneten bei sozialen Kämpfen unterscheidet sie von der Linkspartei, sondern ihre gesamte Strategie. Die Strategie der Linkspartei basiert darauf, eine “linke” Regierungskoalition mit der SPD und den Grünen zu bilden, um bestimmte Verbesserungen für die Massen durchzusetzen. Dieser Weg ist jedoch eine Sackgasse, denn in etlichen Landesregierungen sehen wir, dass Rot-rot-grün die Prekarisierung und die Verarmung der Massen weiter vorangetrieben hat. Und das nicht nur, weil die Linkspartei eine Koalition mit SPD und Grünen bildete. Selbst, wenn die Linkspartei alleine die Regierung bilden würde, existiert eine objektive Grenze für linke Regierungen an der Spitze kapitalistischer Staaten. Denken wir an Syriza in Griechenland, die durch sehr gute Wahlergebnisse und mit dem Versprechen sich gegen die Kürzungspolitik der EU zu richten, an die Regierung gekommen war. Am Ende war sie jedoch selbst die Kraft, die noch schärfere Maßnahmen durchgesetzt hat. Im Gegensatz dazu nutzt die FIT als revolutionäre Wahlfront zwar das Parlament als Bühne, setzt jedoch auf den Bruch mit Kapital und Staat mittels Generalstreiks und Massenmobilisierung – in der Perspektive einer Arbeiter:innenregierung, die das Kapital enteignet und für den Sozialismus kämpft.

Für eine revolutionäre Wahlfront der Linken und Arbeiter:innen in Deutschland!

Angesichts der innerhalb der Linkspartei fast vollständig geteilten Perspektive einer rot-rot-grünen Regierungsbeteiligung, sehen wir die dringende Notwendigkeit, dass die Revolutionär:innen Schritte in Richtung einer politischen Unabhängigkeit und eines Bruchs mit der Linkspartei gehen. Ansonsten werden diejenigen Organisationen, die Teil der Linkspartei bleiben, sich der Komplizenschaft für soziale Angriffe, Kriegseinsätze und ähnliche Verbrechen schuldig machen.

Damit wir nicht ewig vor der Wahl des „geringeren Übels“ stehen werden, müssen wir heute beginnen, eine unabhängige revolutionäre Kraft zu schaffen. Wir nehmen uns vor, gemeinsam mit all jenen, die eine solche Perspektive erkämpfen wollen, Schritte in Richtung einer Einheit der revolutionären Linken zu gehen, die mit der reformistischen Linken bricht, die sich nur den staatlichen Institutionen und den Bürokratien unterordnet. Wir wollen eine revolutionäre Alternative aufbauen, die auch das Parlament zu einer Bühne der Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten machen kann.

In Deutschland existiert zudem ein Wahlrecht, welches es den Revolutionär:innen viel leichter als in anderen Ländern ermöglicht, unabhängige zu Wahlen anzutreten. Man braucht gerade mal 200 Unterschriften um bei einer Kreiswahl zu kandidieren. Es ist also auf keinen Fall eine Notwendigkeit in Listen der Linkspartei zu kandidieren, sondern eine politische Entscheidung.

Mit unserer Website KlasseGegenKlasse kämpfen wir von RIO für die Bildung einer solchen revolutionären Wahlfront der Arbeiter:innen und Linken in Deutschland, die eine klare Absage an Regierungsbeteiligungen erteilt, konsequent gegen den deutschen Imperialismus und die NATO kämpft, sowie das Parlament als eine Bühne für den Klassenkampf auf der Straße und in den Betrieben verwendet.

Kämpfen wir dafür, bei den nächsten Wahlen auch eigene unabhängige, revolutionäre Kandidaturen für den Bundestag oder die Landtage durchzusetzen, die auf der Grundlage eines von der Bourgeoisie und des Reformismus unabhängigen Programms antreten. Wir rufen alle linken Organisationen, die sich der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse verschreiben, dazu auf, mit uns darüber zu diskutieren und zugleich in den aktuellen und kommenden Kämpfen gemeinsame Erfahrungen zu machen. Machen wir eine Front der Linken und der Arbeiter:innen auch in Deutschland zur Realität!

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