Wie viele tote Zivilist*innen kostet ein Regierungssessel? Oder: Ein Vorschlag an Sozialist*innen in der Linkspartei

07.04.2017, Lesezeit 10 Min.
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Die Bundesregierung trägt an der Ermordung von mindestens 33 Zivilist*innen in Syrien eine Mitschuld. Gleichzeitig erklärt die Linkspartei-Spitze den Austritt aus der NATO zu „keinem Sofortziel“. Warum für die Regierungsleute alles nur Verhandlungssache ist. Und warum Sozialist*innen in der Partei öffentlich darauf reagieren sollten.

In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass die Bundeswehr in Syrien an einem Luftangriff auf eine Schule mit vielen Toten beteiligt war. Mindestens 40 Familien hatten sich im Gebäude aufgehalten. ZEIT Online berichtete: „Kurz vor dem Angriff habe die Bundeswehr Aufnahmen von dem Gebäude an die Anti-IS-Koalition geliefert. Die Tornados-Militärjets der Bundeswehr sind zum Zweck der Aufklärung im Syrien-Konflikt im türkischen Incirlik stationiert. Sie machen hochauflösende Fotos von IS-Stellungen zur Identifizierung von Angriffszielen.“

Am 28. März sprach Regierungssprecher Seibert von einem „Unglück“. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums wollte nicht sagen, ob deutsche Tornados auch über Mossul fliegen. Da man keine Echtzeitbilder anfertige, sei man nicht für etwaige Auswahl ziviler Ziele verantwortlich. „Gegen den IS kämpfen, heißt diese Menschen befreien“, ergänzte Seibert.

Was „Befreiung“ für die Bundesregierung heißt, ist vor allem die Aufstockung des Militärbudgets. Das Magazin Monitor stellt dazu eine bestechend einfache Frage: „Die Bundesregierung will künftig 2 % des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsaufgaben ausgeben. Deutschland würde damit zur größten Militärmacht Europas werden. Wollen wir das?“

Linkspartei-Chef Bernd Riexinger sagte zum Angriff:

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und die Bundesregierung sind für die Toten, darunter Frauen und Kinder, mitverantwortlich. Dieser tragische Verlust von Menschenleben verdeutlicht auf dramatische Weise, dass es keine Beteiligung an Kriegseinsätzen gibt, ohne sich die Hände schmutzig zu machen und das Leben von Zivilisten zu gefährden.

Richtig. Aber wie sieht die Praxis der Linkspartei-Spitze dazu aus?

Verhandlungssachen in der Linke-Parteispitze

Noch vor zwei Jahren verwehrte sich Riexinger gegen die Aufweichung von „Haltelinien“ für RRG. Eine dieser Debatten war die Frage der Öffnung der Linkspartei für Auslandseinsätze der Bundeswehr, wie damals von Gysi gefordert. Gysi ist inzwischen weg, aber die Partei ist voll auf Gysi-Linie – ihre Haltelinien sind längst nur noch Pfände für kommende Verhandlungen mit der SPD; spätestens seit der Schulzzug fährt, werden sie kaum mehr thematisiert.

Im neuen Parteiprogramm ist nur noch von der Opposition gegen „Kampfeinsätze“ die Rede, und die Linken-nahe Zeitung neues deutschland berichtete: „dass etwa der Austritt aus der NATO kein Sofortziel der LINKEN sei, auch eine Koalition an diesem Ziel nicht scheitern werde. Man streite weiterhin für einen Austritt aus der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem in Europa – unter Einbeziehung Russlands, wiederholte Katja Kipping am Montag in Berlin. Aber es handelt sich hier um keine ‚rote Haltelinie‘, mit denen die LINKE ihre Toleranzgrenzen für Regierungsbeteiligungen definiert Als solche ist allein vermerkt: ‚Die LINKE wird sich nicht an einer Regierung beteiligen, die Kriege führt und auf Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland setzt.'“

Ausgerechnet nach Bekanntwerden des Massenmords aus der Luft mit deutscher Unterstützung wiederholte die Parteispitze also ihr Fallenlassen der Haltelinie in der NATO-Frage. Katja Kipping bekräftigte in einem Interview: „Wir streiten weiterhin für einen Austritt aus der Nato. Aber das ist für uns keine rote Haltelinie.“

Im Klartext: Der Austritt aus der NATO ist für die Linkspartei-Spitze Verhandlungsmasse für die Koalition. Gerade als man sich darum bewerben will, „regierungsfähig“ zu sein, wie es im Schröder-Jargon heißt.

Auch marx21-Politikerin Christine Buchholz musste vor dem geballten Regierungswillen kapitulieren: „Ich hatte mich im Vorfeld mit anderen dafür eingesetzt, schärfere Haltelinien zu formulieren. Wir haben uns jetzt auf die Haltelinien im Erfurter Programm geeinigt.“

Währenddessen ließ Riexinger uns wissen, das Thema soziale Gerechtigkeit sei ein größeres Hindernis für eine Koalition mit der SPD als Auslandseinsätze. Das heißt nichts anderes als: Man ist bereit, die Opposition gegen Auslandseinsätze zu opfern.

Wir bleiben dabei, dass die Nato überflüssig ist und durch ein anderes Konzept der Sicherheitspartnerschaft ersetzt werden muss. Voraussetzung für einen Regierungseintritt ist, dass es keine Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland gibt. Das ist für uns eine nicht verhandelbare Haltelinie. Das weiß auch die SPD.

Aber was sind „Kampfeinsätze“? Sind die Aufklärungs-Tornados über Syrien im „Kampf“? Die Militärberater*innen in Afrika und im Nahen Osten? Die Besatzungstruppen in Kosova und in Afghanistan?

Uneindeutigkeit als Grundsatz

Eine Zeitlang ging das Wagenknecht’sche Gespenst des „Verteidigungsbündnisses mit Russland“ als angebliche Alternative zur NATO umher. Gegen diese bürgerliche Taktik haben wir bereits  als Bilanz auf die Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz eine Polemik veröffentlicht. Es könnte aber nun doch die NATO sein, aller prorussischen Rhetorik zum Trotz. Eben Verhandlungssache.

Bereits 2014 stimmten einige Linkspartei-Abgeordnete für die Stationierung von Bundeswehreinheiten im Mittelmeer zur Zerstörung syrischer Chemiewaffen. Bis auf die Opposition des SDS München dagegen, die schließlich zur Trennung von der Partei führte, gab es keine nennenswerten Konsequenzen. Und letztes Jahr erst wurde der Ex-NATO-General Harald Kujat von der Fraktionsspitze Wagenknecht/Bartsch zum Gespräch eingeladen, weil er im Namen der Stärke des deutschen Imperialismus prorussische Töne spuckte. Der Auftritt des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr war in der Fraktion umstritten, aber Konsequenzen gab es keine.

Uneindeutigkeit ist also ein ständiger Begleiter der Linkspartei-„Friedenspolitik“, die auf bürgerlich-pazifistischem Weg Wähler*innen gewinnen, aber auch den eigenen Weg in den Staatsapparat nicht verbauen soll.

Die sozialistische Position müsste demgegenüber die Ablehnung aller imperialistischen Kriege und einen antikapitalistischer Kampf dagegen enthalten, außerdem die Ablehnung einer bürgerlichen Regierung, die in einer imperialistischen Nation immer auch Kriege führen muss. Dazu gehört auch der strategischen Fokus auf die Arbeiter*innenklasse als kämpfendes Subjekt.

Regierungsleute sind keine „Genoss*innen“

Viele Mitglieder der Linkspartei kämpfen gegen Krieg, Aufrüstung und Abschiebung. Sie werden nichts bekommen, wenn RRG kommt und Riexinger und Kipping in der Bundesregierung den Imperialismus mitverwalten. Höchstens werden sie, ihre Familien und Freund*innen die Bomben des Terrors bekommen, der auf die imperialistischen Länder zurückschlägt.

Unterdessen werden die „Genoss*innen“ in den Parteispitzen Millionen machen – knapp 200.000 Euro bekommen Bundesminister*innen allein als jährliches Salär. Ganz zu schweigen von den lukrativen Angeboten der Wirtschaft, die danach für „Vorträge“ winken. Schröder und Fischer, einst angetreten mit den Hoffnungen von Millionen von Linken und Arbeiter*innen, können davon ein Liedchen singen. Sie enttäuschten deren Hoffnungen durch Hartz IV und Kriegseinsätze schwer. Ihre Freund*innen in der Energiewirtschaft bezahlen sie noch heute gut dafür.

Der wichtigste Grund für den Regierungskurs ist allerdings nicht persönliches Interesse, sondern eine rein auf Wahlen gerichtete reformistische Strategie, die notwendig in die Anpassung führt. Posten sind in dieser Logik die tatsächlichen Errungenschaften, nicht die Hebung des Bewusstseins der Arbeiter*innenklasse oder Stützpunkte in Kämpfen, die zu sozialen Reformen führen würden.

Wenn man keine Haltelinien zum Krieg zieht, wird man ihn auch weiter bezahlen müssen. Wie soll eine angebliche Abrüstung um ein Drittel aussehen, die die Linkspartei im Programm vorschlägt, wenn man in der NATO bleibt? Wie ein Sozialprogramm mit zwei Prozent BIP-Ausgaben für Rüstung? Gerade in einer Zeit, in der sich das deutsche Kapital stärker selbst bewaffnen wird, da Trump sich aus Europa mehr und mehr zurückziehen will? Das wird nicht gehen.

Nie bezahlen die bürgerlichen Politiker*innen oder die Kapitalist*innen, in deren Dienst sie arbeiten, ihre Kriege selbst. Im Inneren werden die kommenden Kriege einer „linken Regierung“ also weiterhin von der Arbeiter*innenklasse bezahlt – nicht von Kipping, nicht von Riexinger, auch nicht von Wagenknecht, deren Pro-Russland-Bündnisvorschlag nur eine kapitalistische Taktik ist, die die Ursachen imperialistischer Krise im Kapitalismus gar nicht angeht.

Ein Vorschlag an linke Aktivist*innen in der Linkspartei

Wer möchte, dass die andauernde kapitalistische Krise und die kapitalistische Produktionsweise schlechthin, die schließlich Triebkraft von Kriegen ist, vom Kapital selbst bezahlt wird, muss jetzt dafür kämpfen. Gerade auch innerhalb der Linken, damit „links“ in den Augen der Arbeiter*innenklasse nicht bedeutet: „lässt sich ihre*seine Prinzipien etwas kosten.“ Der langfristige Kampf um größere Teile der Arbeiter*innenklasse kann schließlich nur mit einem glaubwürdigen sozialistischen Angebot erfolgreich sein.

Wer in der Linkspartei ist, der*dem schlagen wir vor, auch dort den Kampf zu suchen. Gegen die Parteibosse, die in einer Koalition sozial aufsteigen wollen – gegen die Prinzipienlosigkeit in der Frage des imperialistischen Kriegs und in vielen anderen Fragen – für eine unabhängige und internationalistische Position der weltweiten Arbeiter*innenklasse und aller Unterdrückten – für eine Strategie, die nicht auf kapitalistische Wahlen und Ämter, sondern auf Mobilisierung unserer Klasse setzt. Die Machenschaften der Kapitalist*innen und ihrer Regierungen können von keiner „linken“ kapitalistischen Regierung gestoppt werden, sondern nur von der Aktivität der Arbeiter*innenklasse, zusammen mit Sozialist*innen aus allen Strömungen.

Zu unserem Vorschlag an linke Aktivist*innen in der Linkspartei gehört schließlich auch eine öffentliche Opposition gegen alle Abschiebungen. Sie sind Folgen imperialistischer Kriege, weltweiter Ausbeutung und Kooperation mit diktatorischen Regimes. Auch die „linken Regierungen“ in Berlin, Brandenburg und Thüringen schieben ab, obwohl ein Teil ihrer Basis seit Jahren gegen Abschiebungen kämpft – die von ihnen Abgeschobenen, unsere Klassengeschwister, zahlen ebenfalls den Preis für den Opportunismus „linker“ Regierungsleute, teils mit ihrem Leben. Die Kippings, Riexingers und Ramelows stehen nicht auf der gleichen Seite wie die antirassistischen und klassenkämpferischen Aktivist*innen in der Partei. Das sollte auch öffentlich Ausdruck finden.

Nach Frankreich schauen

Soll man deshalb die Beteiligung an Parlamenten völlig sein lassen? Auf keinen Fall – parlamentarische Positionen können eine wichtige Bühne sein, wenn man sie für den realen Kampf einsetzt anstatt als Selbstzweck!

Philippe Poutou, Präsidentschafts-Kandidat der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) und selbst Arbeiter, macht in Frankreich vor, wie es geht. Im letzten Fernsehduell war der der einzige, der sowohl den korrupten Fillon als auch die ebenso korrupte rechtsradikale Le Pen angreifen konnte und eine Perspektive der Arbeiter*innenklasse zeigte. Er sprach sich für die Entwaffnung der Polizei aus und machte das Spiel der bürgerlichen Kandidat*innen nicht mit. Im Schlusswort wandte sich Poutou nicht etwa, wie üblich, an „die Franzos*innen“, sondern an die Arbeiter*innenklasse und die Menschen ohne französischen Pass.

Ein Kurs, der auf die eigene Aktivität der Klasse setzt statt auf Wahl-Deals nach kapitalistischen Regeln, kann auch zu echten Verbesserungen beitragen. Solche Kandidat*innen brauchen wir in Deutschland für Wahlen!

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