Katalonien: Wie nutzt die Linke das Parlament?

17.03.2020, Lesezeit 10 Min.
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In Barcelona wurde Ende Januar von der katalanischen Pro-Unabhängigkeits-Linken CUP eine Konferenz organisiert, um über die Grenzen und Möglichkeiten des Institutionalismus zu diskutieren. Eine spannende Debatte, die auch für die Linke hierzulande einige Fragen aufwerfen kann.

Nach den Ergebnissen der Kommunalwahlen in Barcelona am 26. Mai letzten Jahres, bei denen die CUP – Capgirem Barcelona leer ausging, begann in der antikapitalistischen Linken ein Prozess der internen und externen Debatte mit verschiedenen Gruppen und Aktivist*innen, der im „Procés Vector Barcelona“ gipfelte. Am Samstag, den 25. Januar, wurden die Grenzen und Möglichkeiten des Institutionalismus für den städtischen Wandel diskutiert.

Die letzten Kommunalwahlen hinterließen ein negatives Ergebnis für den CUP – Capgirem Barcelona. Obwohl der Wahlkampf aus der antikapitalistischen Formation heraus positiv bewertet wurde, sprach das erzielte Ergebnis an den Urnen nicht dieselbe Sprache: Sie verlor jegliche Vertretung im Stadtrat der katalanischen Hauptstadt für die nächsten vier Jahre.

Wie sie in einer Erklärung auf ihrer Website zum Ausdruck brachten, wurde nach dem Wahlergebnis ein Prozess der Reflexion und internen Selbstkritik eingeleitet. In diesem Prozess sollten die Aktionen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Stadtrates diskutiert und erörtert werden.

Dieser Prozess der Debatte und Reflexion innerhalb der Militanz hat sich auch auf einen Dialog mit anderen Aktivist*innen, Organisationen und sozialen Bewegungen ausgedehnt. So entstand Procés Vector Barcelona. Das Ziel ist, wie die politische Formation betont, dass Lehren gezogen und zukünftige Handlungslinien in den verschiedenen Bereichen verfolgt werden können, in denen sie tätig sind.

Chancen und Grenzen des Kommunalismus für eine Transformation der Stadt

Am Samstag, dem 25. Januar, fand im Stadtteil Sants von Barcelona ein neuer Tag der Debatte des Procés Vector Barcelona statt. Bei dieser Gelegenheit war der „Vektor“, der den Tag strukturierte, die Grenzen und Möglichkeiten der Beteiligung an den Institutionen für eine radikale Umgestaltung des städtischen Raums.

Die Debatte wurde von Anna Saliente geleitet, die für die CUP-Capgirem Barcelona als Bürgermeisterkandidatin kandidierte. Andrea D’Atri, Anführerin der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS) aus Argentinien und Gründerin der Frauenorganisation Brot und Rosen, sowie Ivan Miró, Soziologe, Genossenschaftler und Experte für soziale Bewegungen, und Iolanda Fresnillo, Soziologin, Aktivistin und Forscherin für Verschuldung und staatliche Politik, nahmen an dem Podium teil.

Die Debatte kreiste um drei Fragen, die die Redner*innen in ihren Beiträgen beantworteten: Welche Bedeutung hat eine Kommunalwahl-Kandidatur für die Transformation der Stadt in antikapitalistischer Perspektive? Welche Möglichkeiten gibt es für soziale Veränderungen und Umwandlungen aus ihnen heraus? Und schließlich: Sorgt der „Kommunalismus des Bruchs“ für eine Befriedung der Straßen oder öffnet er die Türen zur Transformation?

Die erste Intervention machte Andrea D’Atri, die mit den Erfahrungen der Front der Linken und der Arbeiter*innen (FIT) in Argentinien begann. D’Atri wertete die Wahlergebnisse der FIT bei den letzten argentinischen Wahlen von 2019 auf, die im Rahmen einer starken Polarisierung der Mehrheitskräfte (d.h. der scheidenden Regierung Macris und der neuen Regierung von Alberto Fernandez und Cristina Kirchner) eine politische Alternative der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse aufzeigte.

Sie hob hervor, wie die FIT in Argentinien es geschafft hatte, parlamentarische Positionen in den Dienst der Arbeiter*innenklasse und der sozialen Bewegungen zu stellen, im Gegensatz zu den Erfahrungen des Neoreformismus in Griechenland mit Syriza und im Spanischen Staat mit Podemos, wo diese Kräfte ihre Aktionen erst immer mehr dem Parlamentarismus unterordneten und dann schließlich sogar in die Sphären der Exekutivgewalt eintraten.

Die Tätigkeit der FIT orientiert sich an der Gravitationsachse des Klassenkampfes und nicht des Parlamentarismus, sodass die parlamentarischen Positionen für revolutionäre Agitation, für die Anprangerung der Manöver der Gegner*innen und für die Mobilisierung um bestimmte Ideen mit Massencharakter genutzt werden.

Diese Ausnutzung parlamentarischer Positionen wurde von D’Atri an verschiedenen Beispielen veranschaulicht: der Kampf gegen die Reform des Rentengesetzes, die Kämpfe verschiedener Sektoren der Arbeiter*innenbewegung gegen Entlassungen und Betriebsschließungen sowie für bessere Arbeitsbedingungen oder Lohnerhöhungen, die Kämpfe der Frauenbewegung für das Recht auf Abtreibung, die antirepressiven Kämpfe angesichts der Ermordung junger Menschen durch Polizeikräfte wie Santiago Maldonado und andere, oder gegen den Extraktivismus im Bergbau usw.

Ivan Miró konzentrierte sich seinerseits auf drei theoretische Varianten des Kommunalismus und trat in eine direkte Debatte mit der institutionellen Erfahrung der CUP – Capgirem Barcelona. Er bezog sich zunächst auf den liberalen Kommunalismus, der sich auf die Verwaltung der wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Wirtschaftslobbys der Stadt und als Sprungbrett für politische Karrieren konzentriert. Den zweiten Kommunalismus definierte er als „symbolisch“ und brachte ihn mit der Aktion der antikapitalistischen Formation in Verbindung. Und der dritte Kommunalismus, der aufgebaut werden solle, setze darauf, „Volksmacht“ außerhalb der Institutionen zu schaffen.

In Bezug auf den „symbolischen“ Kommunalismus, den der Soziologe der CUP zuschrieb, wies Miró darauf hin, dass die Straße, die Versammlungen und die sozialen Bewegungen zwar dem genossenschaftlichen Modell verpflichtet seien, die institutionellen Positionen jedoch die entgegengesetzte Rolle gespielt hätten, indem sie sich für die Rekommunalisierung der verschiedenen Arbeitssektoren eingesetzt hätten, d.h. ein Prozess der Verstaatlichung, der letztendlich zur Stärkung der Institutionen führe.

In Mirós Worten ist dies ein Widerspruch, der in der CUP lebt und ein Schlüsselfaktor für die Entfremdung eines Teils ihrer Wähler*innen bei den letzten Wahlen sein könnte. Die Alternative zu diesem Widerspruch sieht Miró in der dritten Definition des Kommunalismus, der „aufgebaut werden soll“.

Ein Kommunalismus, der sein Handeln als eine Wiederaneignung des politischen und städtischen Raums versteht, d.h. eine Wiederaneignung des öffentlichen Raums im weiten Sinne. Er müsse in erster Linie dem Aufbau von Gemeinde- und Graswurzelstrukturen Vorrang einräumen. An zweiter Stelle müsse das ein Kommunalismus sein, der die Straße als Raum der Schaffung von Wirtschaftsstrukturen begreift, verstanden als kooperative bzw. genossenschaftliche Beziehungen, die Kollektivierung des Produktionsbereichs, insbesondere der Energie-, Transport- oder Nahrungsversorgung. Und schließlich die Vervielfältigung von Strukturen der Debatte, der territorialen Versammlungen der armen Massen, ohne dass diese den Kandidaturen untergeordnet würden.

Iolanda Fresnillo ihrerseits konzentrierte sich darauf, hervorzuheben, wie die Kommunalkandidat*innen, wenn sie einmal in den Institutionen sind, sowohl die Entwicklung von Organisationsstrukturen der Massen begünstigen als auch Bedrohungen wie der extremen Rechten begegnen.

Fresnillo wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass die letzten Jahren die Grenzen der Institutionalität für die Transformation aufgezeigt hätten, gleichzeitig aber auch Spalten geöffnet hätten, die die Umsetzung von Mindestforderungen ermöglicht hätten.

In diesem Sinne wies die Soziologin auch auf das Risiko hin, sich in dieser Möglichkeit, in diesen kleinen Siegen, auszuruhen. Schließlich betonte sie die Notwendigkeit, die Institutionen und ihre Prozesse zu demokratisieren, so dass sie eine größere Durchlässigkeit zwischen sozialen Bewegungen und politischen Parteien mit institutioneller Vertretung ermöglichen.

Die Illusion der Demokratisierung der bürgerlichen Institutionen

Da ich bei der Debatte anwesend war, möchte ich in diesem Artikel einige Denkanstöße geben.

Während der Debatte drückte Fresnillo die Notwendigkeit aus, die Institutionen zu demokratisieren, damit sie mehr Verbindungen zu sozialen Bewegungen oder irgendeiner Art von Organisationen der Massen haben würden.

Wie sich jedoch im Laufe der Jahre gezeigt hat, sind die Möglichkeiten einer Demokratisierung der bürgerlichen Institutionen durch die evolutionäre Einführung von mehr demokratisierenden Aspekten gleich Null.

Der Staatsapparat in seinen verschiedenen Ebenen, vom Stadtrat bis zum Regierungspräsidium, ist ein Apparat der Klassenherrschaft, der hinter Aspekten der formalen Demokratie – die, wenn sie es für notwendig hält, schnell gekürzt werden – stets Repression und Bürokratie versteckt.

Sich eine friedliche Veränderung dieser Struktur in Städten wie Barcelona vorzustellen, in denen die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Bourgeoisie konzentriert sind, ist ein Trugschluß. Keine Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens ist ohne eine radikale Konfrontation mit den wirklichen Mächten, den Machthaber*innen hinter den Kulissen, möglich.

Die Erfahrungen mit Projekten wie Barcelona en Comú haben in der letzten Zeit deutlich gezeigt, dass einer radikalen Umwandlung in einem transformativen und antikapitalistischen Sinne unüberwindbare Hürden gesetzt sind, wenn sich die Strategie ausschließlich auf die Erlangung institutioneller Positionen konzentriert.

Sie haben dies bewiesen, indem sie sich im Konflikt um Unterbeschäftigung auf die Seite des multinationalen Konzerns Movistar geschlagen haben, oder auf der Seite der Handelskapitalist*innen, indem sie die Manteros (Straßenverkäufer) verfolgt und unterdrückt haben, oder indem sie das System der Auslagerung öffentlicher Dienstleistungen an multinationale Dienstleister aufrechterhalten.

Genossenschaftstum und Massenmacht ohne politischen Kampf

Die andere Debatte, die den Tag bestimmte, konzentrierte sich, wie Miró sagte, darauf, die kommunalistische Strategie ihrer Rolle in den Institutionen zu berauben und diese Beteiligung darauf zu beschränken, lediglich eine Vermittlung für die Entwicklung einer zur institutionellen Macht alternativen Massenmacht zu sein und die Entwicklung des Genossenschaftswesens zu fördern.

Aber das Modell des Genossenschaftswesens vorzuschlagen, ohne jeden Kampf gegen die materiellen Grundlagen des Kapitalismus, d.h. das Privateigentum an den Produktionsmitteln, ist eine Utopie. In einem immer räuberischer werdenden kapitalistischen Markt, der zu Monopolen tendiert, wo große kapitalistische Unternehmen fallen und verschwinden, während andere stärker werden, scheint es weltfremd zu glauben, dass Genossenschaften über die Fähigkeit zum Überleben verfügen. Maßnahmen zur Selbst-Prekarisierung sind in vielen Fällen nicht der Mechanismus zum Lebenserhalt, sondern eher der Schritt vor ihrem Verschwinden.

Deshalb hält die Strategie des Genossenschaftstums, für einen „selbstverwalteten Raum außerhalb des Kapitalismus“ zu kämpfen, in der Realität nicht stand. Sie beraubt der Arbeiter*innenklasse auch die Perspektive, eine vollständigere und fortschrittlichere Organisation der Produktion zu verwirklichen. Ivan Miró definiert das Genossenschaftswesen in vielen seiner Artikel als ein „Werkzeug der hinteren Reihen“, aber in Wirklichkeit ist selbst dieser „defensive“ Aspekt im Kontext des harten kapitalistischen Wettbewerbs nur schwer zu erfüllen. Wir brauchen uns nur die große Zahl von Genossenschaften anzuschauen, die im Dienstleistungssektor tätig sind und die sehr hohe Raten der Verelendung und Ausbeutung ihrer Beschäftigten (Genossenschaftsmitglieder und noch mehr Angestellte) aufweisen.

Gegen diese Vorstellung stellt der Kampf für die Verstaatlichung (oder in diesem Fall die Kommunalisierung) unter Arbeiter*innenkontrolle und der Verwaltung der Produktion eine viel expansivere und fortschrittlichere Alternative für die Arbeiter*innenklasse dar. Diese Alternative aufzuwerfen bedeutet, für die Enteignung der Produktionsmittel von den Kapitalist*innen zu kämpfen, ohne Entschädigungen zu tätigen oder Schulden zu übernehmen. Maßnahmen, die von Anfang an verhindern, dass die Arbeiter*innen unter dem Druck der „Selbstausbeutung“ geraten.

Institutionen, Klassenkampf und revolutionärer Parlamentarismus

Die Dialektik, die an dem Tag der Debatte des Procés Vector Barcelona zwischen einer Teilnahme an den Institutionen und der Beziehung zum Klassenkampf aufgeworfen wurde, ist eine Debatte, die den revolutionären Marxismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchläuft, seit Lenin und Rosa Luxemburg den Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Frankreichs, Alexandre Millerand, dafür kritisiert hatten, dass er sich der Regierung von René Waldeck-Rousseau als Minister für Handel, Industrie und Arbeit anschloss.

Angesichts dieser zentralen Frage nahmen und nehmen revolutionäre Marxist*innen an bürgerlichen Parlamenten teil, aber an keinerlei Regierungen und ohne jegliche Verantwortung, wobei sie einen grundlegenden Unterschied zwischen der legislativen und der exekutiven Gewalt etablieren.

Das Parlament wird in allgemeinen Wahlen gewählt (ohne an dieser Stelle der Debatte auf die Beschränkungen aller Art einzugehen, die die bürgerliche formale Demokratie auferlegt) und ist daher relativ repräsentativ für den Willen der Arbeiter*innenklasse, auch wenn die bürgerliche Demokratie selbst verhindert, dass dieser Wille mit allen Mitteln wirksam wird. Im Gegensatz dazu ist die Regierung – die Exekutive – dafür verantwortlich, die Gesetze durchzusetzen und die kapitalistische Politik zu verwalten, die die Ungleichheit verewigt und das Leben von Millionen von Arbeiter*innen immer prekärer macht.

Die parlamentarische Tätigkeit von Revolutionär*innen muss der außerparlamentarischen Aktion von Massensektoren untergeordnet sein, wobei der Schwerpunkt auf dem Klassenkampf und nicht auf der parlamentarischen Tätigkeit liegen muss, wo die Mechanismen der Klassenherrschaft jede Art von tiefer und wirklicher Transformation verhindern.

Nur unter dieser Perspektive kann die Intervention in die Institutionen eine wirklich transformierende Rolle spielen, indem sie die agitatorische und propagandistische Rolle des revolutionären, antikapitalistischen und sozialistischen Programms mit der Perspektive einer Regierungn der Arbeiter*innen und der Massen erfüllt, die ohne Wenn und Aber mit den Kapitalist*innen bricht.

Dieser Artikel erschien zuerst am 26. Januar 2020 auf Spanisch bei IzquierdaDiario.Es.

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