Wie Kritik an Israel als Antisemitismus diffamiert wird
Gruppen, die gegen die Besatzung Palästinas protestieren, werden oft als Antisemit*innen diffamiert. Doch nicht alle Jüd*innen sind Zionist*innen – nicht alle Zionist*innen sind Jüd*innen. Diese Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus ist reaktionär und muss bekämpft werden. Ein Gastbeitrag von Dror Dayan.
Die US-amerikanische jüdische Zeitschrift „Forward“ zitierte letzte Woche die israelische Parlamentsabgeordnete Anat Barko: Es gebe eine steigende Welle von antisemitischen Vorfällen in den USA. In einem Fall haben pro-palästinensische Student*innen der New York University sogar „Listen von Wohnheimadressen jüdischer Student*innen“ gesammelt, um diese gezielt zu schikanieren. Diese Welle, so Barko, zeige die antisemitische Natur der Boykott-Kampagne gegen Israel.
Kritische Medien wie „Mondoweiss“ brauchten nicht länger als 24 Stunden um herauszufinden, dass der Fall an der NYU nicht nur komplett erfunden war – erfunden war es sogar von der „Forward“-Journalistin selbst, als sie noch an der NYU studierte. Ein solcher Fall kommt heute nicht mehr so selten vor, doch er zeigt, zu welchen Bemühungen die israelische Regierung bereit ist, um antizionistische Arbeit als Antisemitismus zu brandmarken.
Die Tendenz, sich trotz der kolonialen Situation in Palästina immer und in jedem einzelnen Fall als Opfer darzustellen, war immer ein Bestandteil der zionistischen Ideologie. Was seine Wurzeln in der antisemitischen Lebensrealität in Europa zur Jahrhundertwende hatte, und durch den Holocaust seinen schrecklichen Höhepunkt erreichte (in dem nicht nur zionistische Jüd*innen ermordet wurden, sondern auch viele jüdische und auch nicht-jüdische Sozialist*innen, Kommunist*innen, und natürlich LGBTQI*, Roma und Sinti und andere), hat ironischerweise durch die Gründung eines zionistischen Kolonialstaates in Palästina nur zugenommen.
Der mittlerweile verstorbene antizionistische Aktivist der israelischen sozialistischen Organisation „Matzpen“ (Kompass), Akiva Orr, erzählte oft von einem Flugzeug der israelischen Fluggesellschaft, das durch eine Vogelschar geflogen ist und mehrere davon getötet hat. Die Schlagzeilen der israelischen Presse lauteten am nächsten Tag: „Vögel greifen israelisches Flugzeug an“. Die Verdrehung von Täter*innen und Opfer ist ein oft benutztes Mittel der kolonialen Ideologie, das beispielsweise auch in Südafrika verbreitet war, aber eigentlich zum Diskurs jeder unterdrückenden Schicht gehört.
Kampagnen in Deutschland
Diese Verdrehung gehört auch bei den pro-zionistischen Gruppierungen in Deutschland zum Alltag. Die Deutsch-Israelische-Gesellschaft Oldenburg schrieb neulich über „den antisemitischen Sommer 2014“. Während der israelischen Angriffe auf Gaza sind Tausende Menschen in Berlin auf die Straße gegangen. Da waren auch pro-israelische Gruppen mit Kamerapersonen dabei. Eine Gruppe von vielleicht 20 Jugendlichen haben antisemitische Parolen skandiert. Diese eklige Szene wurde aufgenommen und an die Medien weitergeleitet, die sich um den Rest gekümmert haben.
Solche Parolen (“Jude, feiges Schwein”) sind natürlich abzulehnen. Aber sie waren nicht häufig zu hören und stammen von Jugendlichen, die höchstwahrscheinlich nie in ihrem Leben den Unterschied zwischen Judentum und Zionismus gehört haben. Und warum auch? Als ihre Familien 1948 aus Palästina vertrieben wurden, haben sich die zionistischen Milizen selbst als “die Juden” präsentiert, denen ab jetzt das Land gehört.
Für die Medienarbeit pro-israelischer Organisationen sind solche Vorfälle gefundenes Fressen, um sich als Vertreter*innen aller Jud*innen zu präsentieren und vom Massaker abzulenken. Die 2.200 Menschen, die im Gaza in diesem Sommer durch das israelische Militär getötet wurden, werden dann zu einer bloßen nebensächlichen Randerscheinung dieses “antisemitischen Sommers”.
Im Januar dieses Jahres hat die AJC, das American Jewish Committee, einen Mitarbeiter mit einem Videoteam in die Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof geschickt, um nach Antisemitismus bei den Geflüchteten zu suchen. Ein junger Refugee aus Syrien, der Palästina als „Palästina“ bezeichnet hat, galt dann als Beweis für die ungeheuere These: Jüd*innen in Deutschland seien durch die ankommenden Geflüchteten bedroht, und vielleicht solle man deswegen weniger aufnehmen. Mit ähnlichen Vorwürfen wurden auch das „Karneval der Geflüchteten“, das „Festival gegen Rassismus“ und die revolutionäre 1. Mai Demo in Berlin diffamiert.
So trägt die Antisemitismusdebatte in Deutschland dazu, dass die Besatzung in Palästina allein aus deutscher Perspektive betrachtet wird. Palästinenser*innen stehen von vornherein unter Verdacht, Antisemit*innen zu sein, und deswegen wird ihre Stimme komplett negiert. Der Zionismus wird dann nur im Kontext des Genozids des deutschen Faschismus an den Jüd*innen gesehen. Der Zionismus als eine Kolonialbewegung, die bis heute Millionen von Menschen unter Besatzung oder im Exil hält, wird verschleiert.
Was ist Antizionismus?
Das politische Ziel von antizionistischen Aktivist*innen – egal ob jüdisch, palästinensisch oder andere – ist es, Palästina durch die Abschaffung des zionistischen Besatzungsstaates zu entkolonialisieren. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der Jüdinnen, Palästinenser*innen und andere gemeinsam und in Frieden zusammenleben können. Unter Antizionist*innen gibt es natürlich viele Debatten über diese „Einstaatenlösung“. Aber oft täuschen diese Debatten auch: „Ein einziger Staat“ ist keine Zukunftsvision sondern jetzt die Realität. Heute steht das ganze Land unter verschiedenen Stufen von israelischer Kontrolle. „Ein einziger Staat“ ist schon da – es gilt nur, diesen Staat zu entkolonialisieren.
Diese Sicht wird oft mit dem Argument des „Schutzraumes“ erwidert. Diesem Argument zufolge können Jüd*innen nirgendwo auf der Welt geschützt leben, brauchen deshalb einen eigenen staatlichen „Schutzraum“ in Palästina. Nicht nur, dass diese Theorie suggeriert, Jüd*innen können nicht unter und mit anderen Bevölkerungen leben. Diesem Argument zufolge müssen auch die Palästinenser*innen den Preis für den deutschen Faschismus tragen, indem sie auf ewig unter Besatzung leben.
Warum soll ein bürgerlicher Nationalstaat die einzige Lösung für Rassismus und Unterdrückung von ethnischen Minderheiten sein? In Wirklichkeit schützt ein kapitalistischer Staat nur die Bourgeoisie. Auch für junge Israelis aus den arbeitenden Klassen bedeutet dieser „Schutz“, dass sie drei Jahre lang Militärdienst auf besetztem Gebiet leisten müssen – wenn sie sich weigern, werden sie eingesperrt. Wie immer, zählt das Proletariat den Preis für die Kriegstreiberei der Bourgeoisie.
Kritiker*innen der Idee des „Schutzraums“ wird dann vorgeworfen, die Vernichtung aller Jüd*innen zu beabsichtigen. Als Linke müssen wir für eine sozialistische internationalistische Revolution plädieren, die zu der Befreiung und Gleichberechtigung aller ethnischen Gruppen, Arbeiter*innen und Geschlechter führt, und nicht für weitere kapitalistischen Staaten.
Die Unterstützung vieler Deutscher für diese „Schutzraum-Theorie“ ist aber normalerweise keine analytische und theoretische, sondern eher mit subjektivem Empfinden und der deutschen Geschichte beladen – selbst bei manchen Linken. Dazu ist diese Position auch mit den leider weit verbreiteten reaktionären und pro-imperialistischen Tendenzen und Strömungen innerhalb der deutschen Linke stark verbunden.
Aber anstatt zu beklagen, dass die Palästina-Frage die Linke spaltet, sollen wir vielleicht froh sein, dass sie uns oft einen zuverlässigen Lackmustest für die politischen Sichtweisen von Aktivist*innen und Gruppen anbietet. Denn oft sind die Strömungen innerhalb der Linken, die Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzen, auch die, die imperialistische Interventionen unterstützen und antikommunistische Politik betreiben, selbst wenn sie sich dabei marxistischen Begrifflichkeiten bedienen.