Wie konnte die IG Metall den Kampf bei Voith verlieren?

29.05.2020, Lesezeit 15 Min.
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(huGO-ID: 11458921) Streikender am Voith-Standort Sonthofen FOTO IG Metall Allgäu

Der am 23. April begonnene Streik bei Voith in Sonthofen dauerte 33 Tage. Das Ergebnis ist die Schließung des Werkes und ein Sozialtarifvertrag für die Beschäftigten, die eigentlich für den Erhalt ihres Werks kämpfen wollten. Es hätte anders ausgehen können, doch die IG Metall hat auf einen konsequenten Kampf gegen die Unternehmensführung verzichtet.

Der Kampf bei Voith ist vorbei. Der Industriebetrieb in Sonthofen wird nach 500-jähriger Geschichte dicht machen. Am Dienstag stimmten 87,1 Prozent der Streikenden für den Sozialtarifvertrag, der von der IG Metall-Führung und der Geschäftsleitung von Voith ausgehandelt wurde. Johann Horn, der Bezirksleiter der IG Metall Bayern und Verhandlungsführer vor Ort gibt sich mit dem Ergebnis zufrieden: „Die Beschäftigten haben sich diesen Sozialtarifvertrag hart erkämpft und erstreikt. Sie erhalten nun angemessene Abfindungen für den Verlust ihrer Arbeitsplätze.“

Das Abstimmungsergebnis mag recht deutlich aussehen, lässt sich aber damit erklären, dass die Beschäftigten vor eine falsche Wahl gestellt wurden: Sozialtarifvertrag oder gar nichts. Eine Fortsetzung des Kampfs für den Erhalt wurde in der kurzen Zeit zwischen Verhandlung und Abstimmung gar nicht als realistische Option präsentiert. Und das, obwohl eine der wichtigsten Losungen der Streikenden von Anfang an lautete: „Voith kann gehen, wir bleiben hier!“

Die Verantwortlichen der IG Metall Bayern unterstützten das zwar in Worten, führten den Streik aber offiziell von Beginn an nur für den Sozialtarifvertrag. Eine Begründung dafür lautete, dass es rechtlich nicht erlaubt sei, gegen eine Schließung zu streiken. Man wolle damit aber die Kosten für die Schließung soweit in die Höhe treiben, dass Voith es sich anders überlege. Dass das allein nicht ausreichen würde, wurde jedoch schon recht früh deutlich. Das Unternehmen hatte sich ja entschieden, immense Kosten auf sich zu nehmen, um ein profitables Werk zu schließen. Dass die Verhandlungen und auch das spätere Schiedsverfahren am 14. Mai endgültig scheiterten, war also keine Überraschung. Die Voith-Familie wollte sich nicht darauf einlassen, das Werk weiterzuführen oder es an einen Investor zu verkaufen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde unter den Arbeiter*innen die Idee verbreitet, der Erhalt des Betriebs sei unmöglich und der Streik müsse Abfindungen, Transfergesellschaft und Fortbildungsmaßnahmen erkämpfen.

Am vergangenen Montag informierten die Gewerkschaftsfunktionär*innen dann die Beschäftigten von Voith, dass sie einen Sozialtarifvertrag mit der Geschäftsführung ausgehandelt haben. Es wurde nur ein Tag als Bedenkzeit festgelegt, weshalb die Beschäftigten ohne detaillierte Informationen und ohne Zeit für tiefere Diskussionen am Dienstag in die Urabstimmung gegangen sind.

Die Sozialpartnerschaft lässt uns zwischen Pest und Cholera wählen

Die Funktionär*innen der größten und vielleicht mächtigsten Einzelgewerkschaft der Welt mit über 2,2 Millionen Mitgliedern haben in der heißen Phase des Arbeitskampfes keinen ernstzunehmenden Schritt unternommen, um den Erhalt des Betriebs zu garantieren. Der Streik ging über die – durchaus großen – Anstrengungen der Beschäftigten selbst nicht hinaus. Es wurden keinerlei Bemühungen unternommen, die Beschäftigten anderer Werke, die die IG Metall organisiert, von Solidaritätsstreiks zu überzeugen. Die IG Metall Führung in Bayern zeigte keinerlei Initiative, um Druck auf die Landesregierung auszuüben, um den Betrieb zu verstaatlichen. Bundesweite Solidaritätsaufrufe beschränkten sich darauf, die Beschäftigten zu einem stärkeren Kampf für einen Sozialtarifvertrag zu ermutigen, anstatt offensiv für den Erhalt des Werks einzutreten.

All dies wurde übersprungen – aber nicht ohne Grund: Dafür hätte die Bürokratie über ihren eigenen Schatten springen, die Zusammenarbeit mit den Bossen und der Regierung aufgeben und in eine wirkliche Konfrontation mit der Geschäftsführung gehen müssen. Stattdessen ließ sie im Schnellverfahren den Sozialtarifvertrag abstimmen. Sie rühmt sich gar damit, einen „erfolgreichen Streik“ geführt zu haben, als ob der Verlust von hunderten Arbeitsplätzen eine Erfolgsmeldung wäre.

Der Sozialtarifvertrag verhindert zwar, dass die Arbeiter*innen von heute auf morgen in die finanzielle Not der Arbeitslosigkeit geworfen werden. Doch für viele der Beschäftigten werden die Perspektiven nach Ablauf der bezahlten Weiterbildungsmaßnahmen unklar sein. Insbesondere verliert Sonthofen eine 500-jährige Tradition und sichere Arbeitsplätze für die folgenden Generationen. Leben und Arbeit einer ganzen Region werden nicht etwa von den Beschäftigten selbst bestimmt, sondern in klassischer Manier der Industriellen des 19. Jahrhunderts von einer Familie von Multimilliardär*innen.

Im Sinne der Sozialpartnerschaft verzichtet die Führung der IG Metall Bayern darauf, mit den Beschäftigten selbst die Arbeitsplätze zu gestalten, sondern kriecht lieber vor der Geschäftsführung in Heidenheim. Entsprechend missmutig wird das Ergebnis von vielen Beschäftigten aufgenommen: „Es waren viele große Sprüche und Reden dabei, wie man es Heidenheim zeigen wolle, doch am Ende steht nun doch die Schließung. Für uns ist das eine große Enttäuschung.“

Der Streik hätte gewonnen werden können!

Auch wenn es in Deutschland keine starke Tradition von erfolgreichen Kämpfen gegen Werksschließungen gibt, war die Ausgangslage für die Beschäftigten in Sonthofen außerordentlich gut: Sie starteten mit 98-prozentiger Zustimmung für den Streik und hielten fast durchgehend eine entsprechend hohe Streikbeteiligung aufrecht. Allein in den fünf Wochen des Ausstands dürfte sich der Schaden für das Unternehmen in Millionenhöhe bewegt haben. Gleichzeitig war es nicht schwer, die Öffentlichkeit vom Anliegen der Streikenden zu überzeugen: Das Unternehmen wollte schließlich ein gut funktionierendes und fest in der Region verankertes Werk mit langer Tradition schließen, nur um für eine superreiche Familie noch höhere Profite herauszuschlagen. Selten war es so offenkundig, wie hier, dass die Zukunft von hunderten Beschäftigten und ihren Familien für eine Unternehmensbilanz geopfert wird.

Und damit stand das Werk ganz und gar nicht alleine da: auch in Zschopau und in Mühlheim sollen Betriebe von Voith geschlossen werden. Und auch für alle anderen Voith-Standorte stellen solche Pläne eine latente Bedrohung da. Sie alle hätten für einen gemeinsamen Streik mobilisiert werden können. Dazu kommt, dass die IG Metall auch in anderen Betrieben der Metallbranche zu Solidaritätsstreiks hätte aufrufen können. Schließlich ist Voith auch ein Präzedenzfall für die kommenden Monate, wenn nicht Jahre. Denn Sonthofen ist Teil einer Entlassungswelle in Bayern und der erste Großbetrieb, in dem während der Corona-Krise um die Schließung gerungen wurde. Am Ergebnis dieses Kampfes entscheidet sich, wie weit Unternehmer*innen in ihren nächsten Angriffen gehen werden.

Mit den 500 Streikenden und den Ressourcen der IG Metall wäre eine große Kampagne möglich gewesen, die einerseits andere Betriebe zu Solidaritätsaktionen bis hin zu Streiks aufruft und andererseits Druck auf die Politik macht, nicht nur warme Worte sondern echte Maßnahmen im Interesse der Streikenden aufzubringen. So hätte von Anfang an die Perspektive der Wiederverstaatlichung des Werks in den Vordergrund gestellt werden können.

All diese Elemente machen eines deutlich: Der Kampf um Sonthofen hätte gewonnen werden können! Das ist auch eine der wichtigsten Lehren für alle Betriebe, die in der kommenden Zeit von Schließung bedroht werden.

Doch wie konnte die IG Metall diesen Kampf trotzdem verlieren? Und wieso möchte sie das auch noch als Erfolg verkaufen? Beides hat mit ihrer gesellschaftlichen Rolle als Vermittlerin zwischen Kapital und Arbeit zu tun.

Die hauptamtlichen Funktionär*innen wollten den Arbeitskampf lieber in einer einvernehmlichen Lösung mit dem Unternehmen zu Ende bringen, als die nötige Eskalation zuzulassen, um das Werk tatsächlich zu erhalten – immerhin ging es dabei ja auch nicht um ihre eigenen Jobs. Der Grund, weshalb die Gewerkschaftsbürokratie lieber auf den Sozialtarifvertrag setzt, ist die klassenversöhnlerische Ideologie der Sozialpartnerschaft. Sie besagt, dass die Arbeiter*innen und Kapitalist*innen überschneidende Interessen hätten und gemeinsame Kompromisse finden könnten. Allerdings brauche es dafür eine Vermittlungsinstanz – in diesem Fall den gewerkschaftlichen Apparat, der in einer materiell besseren Situation ist, als die Mitglieder. Die Bürokrat*innen, wie der IG Metall Vorstand oder auch seine Vertreter*innen auf unteren Ebenen, werden dafür bezahlt, mit den Bossen zu verhandeln. Deshalb haben sie kein materielles Interesse daran, dass die Betriebe unter Kontrolle von Arbeiter*innen geraten. Dann wäre ihre Vermittlung nicht mehr nötig. Diese Schicht von Expert*innen legt, wie im Falle des Voith-Streiks, die Grenzen eines Arbeitskampfes fest. Eine Streikdemokratie, die offene Versammlungen und die volle Entscheidungsgewalt der streikenden Arbeiter*innen über den Verlauf des Streiks voraussetzt, taucht in dieser Konzeption nicht auf.

Die Beschäftigten haben gezeigt, dass sie kämpferisch sind: Sie haben bei hohem gewerkschaftlichem Organisationsgrad bis zum letzten Tag bei nahezu voller Beteiligung gestreikt und auch weitergehende Methoden angewandt wie die zeitweise Blockade des Werkstors. Doch was gefehlt hat, um sich von der Gewerkschaftsführung nicht den Schneid abkaufen zu lassen, war eine Selbstorganisierung der Basis. Es wäre nötig gewesen, in Streikversammlungen einen Kampfplan für eine Ausweitung des Streiks, Mobilisierungen und einer bundesweiten Solidaritätskampagne als Alternative zur Verhandlungstaktik vorzuschlagen und auch gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie durchzusetzen.

Eine klassenkämpferische Selbstorganisierung der Basis entsteht allerdings nicht spontan von heute auf morgen. Nach Jahrzehnten der sozialpartnerschaftlichen Betriebsarbeit, die in Deutschland vorherrscht, gab es keinerlei Ansatzpunkte und Kampftradition, an welche die Beschäftigten hätten anknüpfen können. So blieb das durchschnittliche Bewusstsein auf sozialpartnerschaftlicher Ebene. Letztlich wurden die Arbeiter*innen von Voith im Kampf gegen die Bosse von der Gewerkschaftsführung betrogen, weil diese den Boden der Sozialpartnerschaft nicht verlassen will.

Eine klassenkämpferische und antibürokratische Strömung in den Gewerkschaften aufzubauen ist heute für die Arbeiter*innenbewegung in ganz Deutschland und auch international von entscheidender Bedeutung, um Antworten auf die kommenden Krisen zu geben. Es drohen bereits Massenentlassungen in anderen Bereichen: Galeria Karstadt Kaufhof, TUI, Lufthansa, um nur die aktuellsten Beispiele zu nennen. In der Industrie werden in den kommenden Jahren hunderttausende Arbeitsplätze durch Umstrukturierungen gefährdet sein.

In den kommenden Arbeitskämpfen wird sich notwendigerweise immer wieder die Frage stellen, wie die Beschäftigten einen Kampfplan aufstellen und gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie durchsetzen können. Die Schließung bei Voith hat gezeigt, dass die Bosse Forderungen wie den Erhalt eines Werks vollkommen ignorieren können. Die Arbeiter*innen müssen eine Alternative aufzeigen, mit der sie in die gesellschaftliche Diskussion eingreifen und Einfluss auf die Politik nehmen können. In diesem Sinne ist die Forderung der entschädigungslosen Enteignung und Verstaatlichung unter Kontrolle der Beschäftigten zu verstehen. Eine Forderung, die von der Geschäftsführung, der Gewerkschaftsbürokratie oder den bürgerlichen und selbst den linken Parteien niemals akzeptiert wird. Daher braucht es eine eigene Partei der Arbeiter*innen, die sich die revolutionären Traditionen der internationalen Arbeiter*innenbewegung aneignet und in sämtlichen Arbeitskämpfen ein unabhängiges Programm vorstellt, das eine Alternative zum Reformismus mit seiner Sozialpartnerschaft darstellt, der immer wieder in Niederlagen endet.

Die Zeitung als unabhängige Stimme der Arbeiter*innenklasse

In Deutschland hat die Arbeiter*innenklasse kein unabhängiges politisches Profil, weil sie sich unter Führung des Reformismus befindet. Die Gewerkschaftsbürokratie, die SPD und die Linkspartei sind sowohl ideologisch als auch materiell mit den Interessen des deutschen Staates verschmolzen. Das ist der Grund, weshalb die Zahl an Streiks so gering ist und die trotzdem stattfindenden Arbeitskämpfe nicht über ökonomische Minimalforderungen hinauswachsen. Der Reformismus impft den Arbeiter*innen die Gedanken ein, dass ihre Zukunft erst dann gesichert sei, wenn die deutschen Konzerne ihre Stellung auf dem nationalen und internationalen Markt verbessern und vom Staat Wirtschaftshilfen erhalten. Die wahren Interessen der Arbeiter*innen, dass sie weder Bosse noch bürokratische Vermittlungsinstanzen brauchen, werden als Dystopie dargestellt.

Wir wollen mit unserer Zeitung Klasse Gegen Klasse dazu beitragen, Schritte zum Aufbau einer sozialistischen Partei zu gehen, die den Arbeiter*innen ermöglicht, unabhängig vom kapitalistischen Staat, Konzernen und Bürokratien für ihre Interessen einzutreten. Außerdem soll sie die gesamte Klasse darauf vorbereiten, nicht nur in einem Betrieb, sondern in der ganzen Gesellschaft die Kontrolle zu übernehmen. Das ist ein langer Weg und die Zeitung dient dabei als Instrument, damit Arbeiter*innen in gemeinsame Diskussions- und Erfahrungsprozesse kommen.

Mit dieser Überzeugung haben wir den gesamten Streik begleitet. Wir wollten uns mit den Kolleg*innen über ein Alternativprogramm austauschen, damit sie die erzwungene Wahl zwischen dem Sozialtarifvertrag oder der bedingungslosen Kapitulation nicht akzeptieren. Wir haben versucht, die klassenkämpferischen Perspektive aufzuzeigen, dass der Streik um die Forderung nach der entschädigungslosen Verstaatlichung unter Arbeiter*innenkontrolle geführt werden kann. Diese Forderung scheint in Deutschland der breiten Masse fremd zu sein, auch weil keine Zeitung darüber berichtet. Anhand internationaler Beispiele haben wir die reale Möglichkeit eines solchen Auswegs betont.

Wir haben im Laufe des Streiks internationale Solidaritäts-Botschaften gesammelt, um die Kampfmoral der Streikenden zu erhöhen und die Verbindung zu anderen Kämpfen aufzuzeigen. Mit einem eigenen Dossier haben wir zeitweise fast täglich wichtige Informationen über den Stand und die Bedeutung des Streiks veröffentlicht.

Der Kampf bei Voith ist zu Ende. Doch er steht nicht für sich selbst allein. In Deutschland steht eine Periode der Schließungen, Entlassungen und Kürzungen bevor. Umso wichtiger ist es, dass Arbeiter*innen ihre Stellungen gegen die Angriffe verteidigen. Wir laden dazu ein, die Zeitung als ihr Instrument zu nutzen, um ihre Stimme hörbar zu machen und gegen die Zustände der Ausbeutung und der Unterdrückung zu kämpfen.

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