Wie können neurodivergente Menschen frei leben?
Ein autistisches Mitglied der Denver Communists erklärt, warum die Befreiung neurodivergenter Menschen mit dem Kampf für die Abschaffung der Polizei und den Aufbau eines sozialistischen Systems verbunden ist.
Das Folgende ist der Text einer Rede, die auf einem von Denver Communists und International Socialists (NL) organisierten Podium gehalten wurde. Diese Rede und die anderen Reden des Podiums können hier angesehen werden. Ein übersetzter Gastbeitrag von Robin Forrester, Redakteur von Left Voice.
In den Augen der herrschenden Klasse sind die Arbeiter:innen ihrer Menschlichkeit beraubt und werden auf Maschinen reduziert, die Profit produzieren. Unsere menschlichen Grundbedürfnisse sind hinter einer Bezahlschranke weggeschlossen, die uns vor die Wahl stellt, zu verhungern oder unser Recht zu erwerben, einen weiteren Tag zu überleben.
Da wir kein Eigentum oder sonstiges Kapital besitzen, bleiben uns nur unsere Körper und unser Geist, die wir als Arbeitskraft an die Bourgeoisie verkaufen können, um unsere Überlebenschancen zu erhöhen. Sollte unsere Arbeitsfähigkeit ihren Anforderungen nicht genügen, werfen sie uns ohne zu zögern auf die Straße, hinter Gitter oder ins Grab.
Für diejenigen von uns, die neurodivergent sind, ist der Verkauf unserer Arbeitskraft aus vielen Gründen eine unverhältnismäßig schwierige Aufgabe. Unsere Gehirne sind anders verdrahtet, was dazu führt, dass wir uns anders verhalten, kommunizieren und Informationen anders verarbeiten als diejenigen, die neurotypisch sind und sich leichter an die sozialen Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft anpassen können. Aufgrund unserer Unterschiede sind wir häufiger von Arbeitslosigkeit, Begegnungen mit der Strafverfolgung, Inhaftierung und Mord betroffen. Um eine Welt zu schaffen, in der neurodivergente Menschen einbezogen, ernährt und befreit werden, ist es notwendig, die Polizei, die Gefängnisse und alle Unterdrückungsinstrumente abzuschaffen, über die die Kapitalist:innen verfügen.
Die Existenz von Polizei und anderen „Sondereinheiten bewaffneter Menschen“ ist notwendig, um den Willen der herrschenden Klasse durchzusetzen. Im Kapitalismus dienen sie dazu, das Privateigentum zu schützen und der Arbeiter:innenklasse und den unterdrückten Völkern Angst einzujagen, wenn sie den Idealen der Bourgeoisie zuwiderhandeln.
Inwiefern zielen die Strafverfolgungsbehörden unverhältnismäßig stark auf das Leben der Neurodivergenten ab?
Laut einer Studie aus dem Jahr 2017 werden 20 Prozent der Autist:innen und neurodivergente Menschen in den USA vor dem 21. Lebensjahr von der Polizei kontrolliert. Fünf Prozent von ihnen werden bei diesen Begegnungen verhaftet. Da unsere Gehirne anders funktionieren und wir Informationen auf eine Weise verarbeiten und darauf reagieren, die nicht der Norm entspricht, werden wir eher als Bedrohung angesehen und müssen mit Brutalität und Verhaftung rechnen. Die Hälfte der Opfer von Polizeimorden in den USA sind neurodivergent oder behindert.
Die Strafverfolgungsbehörden erteilen Bürger:innen, die aus eigenem Antrieb neurodivergente Menschen verletzen, eher einen Freifahrtschein. Anfang dieses Monats wurde in New York Jordan Neeley von dem Ex-Marine Daniel Penny in einer U-Bahn ermordet, wobei ihm zwei weitere Personen halfen. Keiner von ihnen wurde angeklagt, bis es nach mehr als einer Woche zu Protesten kam. Neeley war schwarz, autistisch und schizophren. Er war obdachlos und unterernährt und schrie, dass er hungrig sei, bevor seine Mörder ihn als „öffentliche Störung“ betrachteten und ermordeten. Penny wurde schließlich angeklagt, aber bald darauf gegen Kaution freigelassen und verlor nur seinen Reisepass und die Möglichkeit, den Staat New York zu verlassen. Er kann sich immer noch frei im Staat bewegen und jederzeit einen anderen unschuldigen Menschen ins Visier nehmen.
Jetzt ist ein guter Zeitpunkt um anzuerkennen, dass die Unterdrückung von Neurodivergenten unverhältnismäßig viele Schwarze und Braune betrifft. Im Kampf für die Abschaffung der Gefängnisse ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir Solidarität zeigen und die antifaschistischen und antirassistischen Kämpfe sowie die Kämpfe gegen alle Formen von Scheinheiligkeit miteinander verknüpfen.
Der Einsatz von Gefängnissen schadet auch unverhältnismäßig vielen neurodivergente Menschen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2016 sind etwa 66 Prozent der in den USA inhaftierten Häftlinge behindert. Die meisten dieser Behinderungen sind kognitiver Natur, wobei Insassen viermal häufiger angeben, eine kognitive Behinderung zu haben als nicht.
Diejenigen, die inhaftiert sind, sehen sich feindseligen Lebensbedingungen ausgesetzt. Zu denen gehört auch, dass ihnen der Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung und psychischen Diensten verwehrt wird. Infolgedessen verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand oft während der Haft.
Ein weiteres erschreckendes Nebenprodukt der Verweigerung von medizinischer Versorgung für neurodivergente Inhaftierte ist die Einzelhaft. Neurodivergente Patient:innen sind häufiger von Einzelhaft betroffen. Diese wird oft mit dem Argument „zu ihrem eigenen Schutz“ gerechtfertigt. Selbst kurze Aufenthalte in Einzelhaft können für Menschen mit kognitiven Behinderungen schwerwiegende Langzeitfolgen haben. Diese Bestrafung trägt in keiner Weise zu ihrem Wohlbefinden bei. Neben dem Einsatz von Polizei und Gefängnissen möchte ich ein weiteres Instrument der Unterdrückung erörtern, das vor allem bei neurodivergente Menschen eingesetzt wird. Das ist die Anwendung der angewandten Verhaltensanalyse und aller damit verbundenen Behandlungen, die darauf abzielen, autistische und andere neurodivergente Menschen so zu konditionieren, dass sie sich akzeptabel gegenüber dem bürgerlichen Status quo verhalten.
Viele autistische Selbstvertreter:innen befürworten die Umbenennung von ABA (Anmerkung der Redaktion: Applied Behavior Analysis / angewandte Verhaltensanalyse) und verwandten Therapien in „Autistische Konversionstherapie“, und ich werde sie zukünftig auch so bezeichnen. Diese wird bei jungen, hauptsächlich autistischen neurodivergenten Menschen eingesetzt, um ihnen neue Fähigkeiten auf eine Weise beizubringen, die als sozial akzeptabel gilt. Die Unterrichtsmethoden sind jedoch schädlich und oft traumatisch für die Betroffenen.
Autist:innen reagieren oft sehr empfindlich auf laute Geräusche und andere Sinnesreize. Bei der Konversionstherapie haben sie keine Kontrolle über ihre Umgebung. Oft wird allein von den Therapeut:innen und den Eltern entschieden, was in der Behandlung erreicht werden soll. Bei der Vermittlung der gewünschten Verhaltensweisen wird davon ausgegangen, dass die betroffene Person diese Verhaltensweisen nur erlernen kann, wenn diese einen Anreiz erhält. Sie wird belohnt, wenn die Person sie zeigt, und erhält negative Konsequenzen, wenn sie die vorgegebenen Verhaltensweisen nicht zeigt. Der Gedanke, dass diese Verhaltensweisen ihnen schaden könnten, wird nicht in Betracht gezogen, und die Unterstützung ihrer sensorischen Bedürfnisse wird ihnen in diesem Prozess verweigert.
Wenn solche Einwände überhaupt erlaubt sind, werden sie oft als Belohnung für die Ausführung akzeptabler Verhaltensweisen und nur für eine begrenzte Zeit gewährt. Die sensorischen Bedürfnisse von neurodivergenten Menschen sind real, und wenn ihnen diese Unterstützung verweigert wird, verursacht dies echte Schmerzen, was wiederum ihre Stressreaktion aktiviert und zu einem Trauma führen kann. Obwohl Bestrafungen in der autistischen Konversionstherapie nicht mehr eingesetzt werden oder zumindest nicht eingesetzt werden sollen, wenn andere Methoden versagt haben, ist die Behandlung immer noch missbräuchlich und traumatisierend, da sie den Opfern jegliche Autonomie nimmt und ihre sensorischen Bedürfnisse verleugnet. Das übergeordnete Ziel ist der Versuch, neurodivergente Menschen so zu formen, dass sie sich in einer für die kapitalistische Gesellschaft akzeptablen Weise verhalten, anstatt ihre abweichenden Verhaltensweisen bei der Einordnung in die Gesellschaft zu berücksichtigen.
Was ist also für die Befreiung von neurodivergenten Menschen erforderlich?
Eine Gesellschaft, in der neurodivergente Menschen völlig befreit sind, ist in erster Linie eine Gesellschaft, in der alle Formen ihrer Unterdrückung vollständig abgebaut sind.
Es braucht eine Gesellschaft, in der alle ihre Grundbedürfnisse bedingungslos erfüllt werden, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Nahrung, Wohnung, Transport, Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Interaktion. Darüber hinaus gewährt eine solche Gesellschaft neurodivergenten Menschen das Recht, ihren Leidenschaften und Wünschen nachzugehen, und zwar mit gleichem Zugang wie ihre neurotypischen Altersgenoss:innen. Neben der Sicherstellung ihrer Grundbedürfnisse wird dies durch die vollständige Berücksichtigung ihrer anderen Bedürfnisse, ob sensorisch, kommunikativ, mobil usw., erreicht.
Kapitalistische Sprachrohre sagen uns, dass eine solche Gesellschaft eine unmögliche Utopie ist. Aber die Befreiung der neurodivergenten Menschen und aller unterdrückten Völker ist tatsächlich möglich. Die moderne kapitalistische Gesellschaft produziert Lebensmittel, Wohnungen und andere lebenswichtige Güter, um sich selbst davon zu nähren, weigert sich aber, alle Menschen zu versorgen. Stattdessen produziert sie Knappheit, weil es nicht profitabel wäre und das System unbrauchbar machen würde, wenn alle Menschen mit dem Nötigsten versorgt würden.
Für Probleme, von denen wir nicht wissen, wie sie vollständig gelöst werden können, haben wir Mittel und die Technologie, um Lösungen in immer schnellerem Tempo zu erforschen, zu entwickeln und umzusetzen. Aber die herrschende Klasse im Kapitalismus widmet den Anstrengungen der Gesellschaft den Instrumenten der Unterdrückung und allen Mitteln, um den unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems zu verzögern.
Da eine solche Gesellschaft möglich ist – wie können wir sie aufbauen?
Bevor eine vollständig befreite kommunistische Gesellschaft erreicht werden kann, muss die gegenwärtige Ordnung des globalen Kapitalismus abgebaut werden. Unsere Befreiung muss durch eine sozialistische Revolution von unten kommen, um den kapitalistischen Staat zu stürzen und zu zerstören. Sie muss von der Arbeiter:innenklasse angeführt werden, denn sie ist die Klasse, deren Arbeit die Kapitalist:innen über Wasser hält und die sie untergehen lassen kann, indem sie ihnen ihre Arbeit vorenthält.
Sobald die Arbeiter:innenklasse die Macht ergriffen hat, muss sie den kapitalistischen Staat abschaffen und an seiner Stelle einen demokratisch kontrollierten Arbeiter:innenstaat errichten, der auch als Diktatur des Proletariats bekannt ist. Selbst nachdem die Arbeiter:innenklasse die Macht übernommen hat, wird die kapitalistische Unterdrückung nicht sofort verschwinden.
Nur durch einen proletarischen Arbeiter:innenstaat können wir den gewaltsamen Widerstand der Kapitalist:innen erfolgreich bekämpfen und beenden. Nur so können wir zu einer wirklich demokratischen Gesellschaft übergehen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen und der Umwelt orientiert. Wir müssen eine solche Gesellschaft aufbauen, um die Befreiung der Neurodivergenten und die Befreiung aller Völker von den Fesseln der kapitalistischen Unterdrückung zu erreichen. Sie wird den neurodivergenten Menschen und uns allen eine Stimme geben, damit wir uns an unseren Arbeitsplätzen und in allen Institutionen, an denen wir beteiligt sind, für uns einsetzen können.
Neurodivergente Befreiung ist die Befreiung aller Menschen, denn all unsere Unterdrückung ist in der Aufrechterhaltung des globalen Kapitalismus verwurzelt. Nur durch seine Zerstörung können wir die wahrhaft demokratische, schöne Welt aufbauen, nach der wir uns alle sehnen.