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Wie in Argentinien der Trotzkismus zu einer Massenbewegung wird

09.11.2019, Lesezeit 15 Min.
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Die FIT existiert seit acht Jahren als Alternative der Arbeiter*innenklasse zu den verschiedenen bürgerlichen Blöcken. Dies ist eine beispiellose Erfahrung in der Geschichte der argentinischen Linken – und in vielerlei Hinsicht auch weltweit. Aus der ersten Ausgabe der neuen Druckzeitung KlasseGegenKlasse.

Foto: Demonstration der FIT, Argentinien. © Kresta Pepe, La Izquierda Diario

Dieser Artikel wurde vor dem Ergebnis der Wahlen in Argentinien am 27. Oktober geschrieben. Er basiert in wesentlichen Teilen auf einer überarbeiteten und gekürzten Übersetzung eines Artikels von Matías Maiello und Octavio Crivaro, der am 18. August in Ideas de Izquierda auf Spanisch veröffentlicht wurde.

Argentinien befindet sich in einer tiefen organischen Krise. Die rechte Regierung von Mauricio Macri stürzte am 11. August bei den Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen spektakulär ab, zugleich verschärfte sich die Wirtschaftskrise des Landes durch eine Währungsabwertung von 25 Prozent und massive Inflation. Im Oktober hat der peronistische Gegenkandidat Alberto Fernández mit fast absoluter Sicherheit die Präsidentschaftswahlen gewinnen, der in der Lage war, praktisch die gesamte „Mitte-Linke“ und die „sozialen Bewegungen“ hinter sich zu bringen.

Umso erstaunlicher ist, dass es in Argentinien eine politische Kraft gibt, die sich dieser Polarisierung zwischen zwei bürgerlichen Blöcken verweigert. Die Front der Linken und der Arbeiter*innen – Einheit (Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad, FIT-Unidad) konnte 700.000 Stimmen erlangen und damit ihre Position als vierte politische Kraft des Landes festigen. Die FIT, eine Koalition trotzkistischer Parteien, stellt einen Pol der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse, des Antikapitalismus und des Sozialismus dar.

Die FIT existiert seit acht Jahren als Alternative der Arbeiter*innenklasse zu den verschiedenen bürgerlichen Blöcken. Dies ist eine beispiellose Erfahrung in der Geschichte der argentinischen Linken – und in vielerlei Hinsicht auch weltweit.

Das historische Pendel der Linken in Argentinien

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts pendelte die argentinische Linke zwischen den beiden großen Polen der nationalen Politik: dem Peronismus und dem republikanischen Liberalismus. In den 1940er Jahren charakterisierten die Sozialistische und die Kommunistische Partei die Politik von Juan Perón als demagogische Verschleierung des Faschismus. Unter dem Banner eines „antifaschistischen“ Kampfes stellten sie sich hinter den gegnerischen bürgerlichen Block. Zu den Anti-Peronist*innen gehörten die Großgrundbesitzer*innen, die Börse und sogar die US-Botschaft. Auf der anderen Seite unterstützte die alte Garde der Gewerkschaftsbewegung Peróns Kandidatur für die Präsidentschaft. Dadurch wurde das Pendel in Bewegung gesetzt, wobei die Linke ständig zwischen Peronismus und Anti-Peronismus schwankte.

Dieses Phänomen betraf nicht nur reformistische Organisationen, sondern übte auch enormen Druck auf die trotzkistische Bewegung in Argentinien aus. Die Gruppe um Nahuel Moreno zum Beispiel ging von einer anti-peronistischen Position zum Entrismus in einer pro-peronistischen Partei über. Andere Bereiche des Trotzkismus gaben ihre Ideen vollständig auf und gründeten eine „nationale Linke“, die auf der Idee basierte, dass der Peronismus ein revolutionärer Faktor sei. Diese Anpassung an den Peronismus sollte die trotzkistische Linke Jahrzehnte begleiten, auch wenn in einzelnen Situationen Vorstöße zum Aufbau einer unabhängigen Alternative der Arbeiter*innen gemacht wurden, wie der Wahlantritt von Morenos Sozialistischer Arbeiterpartei (PST) 1973.

Kurz vor Ende der argentinischen Diktatur gründete Moreno 1982 die Bewegung für den Sozialismus (MAS), die bis Ende der 1980er Jahre fast 10.000 Mitglieder organisieren konnte. Die MAS hatte einen gewissen Einfluss auf die Arbeiter*innen- und Studierendenbewegung mit Vertretung im Parlament. 1985 schloss sie jedoch ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei und Sektoren des Peronismus, genannt „Front des Volkes“ (Frente del Pueblo, FrePu), mit einem rein demokratischen Programm, das an den argentinischen Stalinismus angepasst war. 1987 brach die Kommunistische Partei mit der FrePu, aber die MAS startete das Bündnis 1989 wieder – gerade während der Stalinismus international zusammenbrach! Die daraus resultierende Front hieß Vereinte Linke (IU) und ihr Hauptkandidat war ein Christdemokrat, der das MAS-Mitglied Luis Zamora in offenen Vorwahlen besiegt hatte.

Der Konflikt mit den Kapitalist*innen auf dem Land

Die FIT wurde nicht aus dem Nichts geboren, sondern ist das Ergebnis früherer politischer Kämpfe, in denen die Partei der Sozialistischen Arbeiter*innen (PTS) eine wichtige Rolle spielte.

Ein Wendepunkt in der Geschichte des Landes war der Agrarkonflikt von 2008, den wir den „Konflikt mit den Kapitalist*innen auf dem Land“ nennen können. Dies war die erste große Krise des Kirchnerismus (d.h. die aufeinanderfolgenden Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner zwischen 2003 und 2015, die aus dem linken Flügel der peronistischen Bewegung kamen). Die Kirchner-Regierung behauptete, dass erhöhte Steuern auf Agrarexporte für eine Umverteilung des Vermögens verwendet würden. Die Kommunistische Partei und andere linke Sektoren schlossen sich im Wesentlichen der kirchneristischen Bewegung an – ungeachtet der Tatsache, dass die Regierung das neue Geld trotzdem zur Finanzierung von Geschäftspartner*innen und privatisierten Unternehmen verwendete. Die selbstbeschriebene „unabhängige Linke“ ihrerseits begann eine schrittweise Assimilation in den Kirchnerismus. Sie prägte den Satz „Unterstützen wir das Gute und kritisieren wir das Schlechte“ – das wurde schließlich zu „Unterstützen wir alles, kritisieren wir nichts, und lösen wir uns auf“. Heute haben alle diese Kräfte Kandidat*innen in Kirchners „Front Aller“ (Frente de Todos, FdT) neben Vertreter*innen der Bergbaugesellschaft Barrick Gold, Gegner*innen des Rechts auf Abtreibung und Gewerkschaftsbürokrat*innen aller Art.

Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich die sogenannte „Agropower“ unter der Führung der Großgrundbesitzer*innen der „Agrargesellschaft“ und unterstützt vom Medienkonzern Clarín. Dieser Flügel der Bourgeoisie schaffte es, sich als „Kleinbauern“ zu tarnen und gewann einen Teil der Mittelschicht und der Linken für seine Position.

Das historische Pendel der argentinischen Linken stand kurz davor, sich zu wiederholen – diesmal eindeutig als Farce – mit verschiedenen Sektoren der Linken, die hinter verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie stehen. Aber es kam anders: Auf Initiative der PTS und anschließend der PO entstand ein unabhängiger linker Pol mit Unterstützung eines Sektors von Intellektuellen. In diesem Moment extremer Polarisierung kämpfte die PTS von Anfang an um eine unabhängige Klassenposition. Wir haben weder die Agrarbosse noch die Regierung unterstützt, die nur einen anderen Sektor der herrschenden Klasse unterstützen wollte. Wir haben diese Position in Arbeiter*innen- und Studierendenversammlungen und in unseren eigenen Veranstaltungen verteidigt. Obwohl wir eine kleine Minderheit blieben, würden wir heute, wenn es diesen Pol nicht gegeben hätte, wahrscheinlich nicht über die FIT als eine reale politische Alternative sprechen, die auf der Unabhängkeit der Arbeiter*innenklasse basiert.

Immer an der Seite der Arbeiter*innen

Die FIT konnte nur deshalb entstehen, weil die Linke seit mehr als einem Jahrzehnt mit der Avantgarde der Arbeiter*innenbewegung verbunden ist. Die PTS war in dieser Frage immer an vorderster Front und hat von innen in viele wichtige Kämpfe der Arbeiter*innenklasse eingegriffen.

Bereits 2004/05 wurden die ersten Anzeichen einer neuen Arbeiter*innenbewegung sichtbar. In den folgenden Jahren gab es sehr harte und heroische Kämpfe gegen prekäre Arbeitsbedingungen und Streiks von Fabrikarbeiter*innen, die mit brutaler Repression endeten, die in der Verantwortung der Kirchner-Regierung lag. 2009 gab es den Streik in der Fabrik des US-amerikanischen multinationalen Konzerns Kraft Foods. Die Arbeiter*innen wurden von der Kirchner-Regierung, der US-Botschaft und der Gewerkschaftsbürokratie angegriffen. Im Jahr 2010 kämpften ausgelagerte Arbeiter*innen auf der Roca-Bahnstrecke für die Eingliederung in die Stammbelegschaft. Die Bürokratie dieser Gewerkschaft, die mit den Kirchners befreundet war, ermordete den jungen PO-Aktivisten Mariano Ferreyra. Die Liste geht weiter… Es gab Streiks in zahlreichen multinationalen Konzernen, wo sich die Arbeiter*innen verteidigten, indem sie Autobahnen blockierten. Sie wurden mit heftiger Repression konfrontiert. Es gab auch Fälle, in denen Arbeiter*innen ihre Fabriken besetzten und unter Arbeiter*innenkontrolle zu produzieren begannen, wie in der Druckerei Donnelley (heute MadyGraf) oder der Keramikfabrik Zanon – mit Genoss*innen der PTS an vorderster Front.
Die Linke war Teil all dieser Arbeiter*innenkämpfe, stand in der ersten Reihe und konfrontierte das Bündnis zwischen den Bossen, der peronistischen Gewerkschaftsbürokratie und der Kirchner-Regierung. Sie hat diese Position angesichts der Angriffe der rechten Regierung von Mauricio Macri beibehalten. Dasselbe gilt für die Proteste im Dezember 2017: Als der Kongress die Renten kürzen wollte, gab es vor dem Parlament einen großen Protest, mit der Linken an der Spitze. Das Gleiche gilt für die Frauenbewegung und die Bewegung der Studierenden – in Kämpfen, die sich sowohl unter Kirchner als auch unter Macri entwickelten.

Das Experiment der Front der Linken

Lange vor der Gründung der FIT schlug die PTS vor, dass die Kämpfe dieser Arbeiter*innen einen politischen Ausdruck in Form einer Front für die Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse brauchen. Aus diesem Grund haben wir in den Jahren 2007 und 2009 mit Izquierda Socialista (IS) und der Neuen MAS politische Fronten gebildet. Schließlich sind wir 2011 in der politischen Diskussion vorangekommen und haben die PO vom Beitritt überzeugt. Seitdem ist die FIT ein prinzipientreues Wahlbündnis mit einem klaren Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse, des Antiimperialismus und des Kampfes für eine Arbeiter*innenregierung.

Wie es in einer Front aus verschiedenen Parteien zu erwarten ist, gab es Momente, in denen erhebliche Differenzen auftraten, unter anderem in Bezug auf die politische Entwicklung in Venezuela oder Brasilien. Auch unter den Parteien der FIT gab es öffentliche Debatten über die Arbeit in den Gewerkschaften, die Organisation von Arbeitslosen oder den Betrieb von Studierendenzentren. Aber diese Unterschiede haben die FIT nicht daran gehindert, kohärente politische Positionen zu den Hauptthemen des politischen Lebens einzunehmen.

In sieben aufeinander folgenden Wahlen war die FIT (und jetzt die FIT-Unidad) ein Bezugspunkt für einen Sektor von mehreren hunderttausend Menschen – bei Parlamentswahlen über eine Million. Die FIT hat Sitze im Nationalkongress, in mehreren Provinzparlamenten und in Gemeinderäten erhalten – insgesamt 40 Sitze im ganzen Land.

Im Gegensatz zu einem Großteil der Geschichte der argentinischen Linken hat es die FIT geschafft, in verschiedenen Momenten der politischen Krise sowie in jeder Schlacht im Klassenkampf einen Pol der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse aufzubauen. Die FIT verdankt ihren Einfluss der Tatsache, dass ihre Vertreter*innen, wie Nicolás del Caño (PTS), in den härtesten Kämpfen immer an der Seite der Arbeiter*innen stehen.

Angesichts der aktuellen Krise hat sich die FIT erweitert, die MST aufgenommen und die FIT-Unidad gebildet. Diese Politik hat sich als erfolgreich erwiesen, da es der Linken gelungen ist, ihren politischen Einfluss gegen den Versuch der Polarisierung zwischen zwei bürgerlichen Blöcken (Peronismus und Macrismus) zu verteidigen. Die FIT konnte sich gegen die Vorstellung wehren, dass es notwendig ist, für ein „kleineres Übel“ als einzige Alternative zu stimmen.

Eine strategische Hypothese

Die aktuelle Krise erschüttert die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen des Landes. Macris Rückhalt bricht zusammen und der Peronismus, vertreten durch die „Front Aller“, präsentiert sich als besserer Verwalter der Krise. Wie sein Kandidat Alberto Fernández deutlich gemacht hat, ist er für die Währungsabwertung, die einen Angriff auf die Lebensbedingungen der Werktätigen darstellt. Unterstützt wird dies durch die Bürokratien der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen, aber auch durch den Papst.

Die Front der Linken und der Arbeiter*innen – Einheit tritt als konsolidierter Pol der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse in diese neue Phase der historischen Krise ein. Sie ist natürlich eine Minderheit. Aber sie ist nicht marginal: Sie hat ein gewisses Gewicht in Arbeiter*innenorganisationen, Schulen und Universitäten, der Frauenbewegung usw. erreicht. Nachdem sie eine unnachgiebige Position gegen den Kirchnerismus verteidigt hat, hat sie Anerkennung gefunden, die weit über ihre eigene Wähler*innenbasis hinaus geht. Dies ist ein Ergebnis ihrer konsequenten Haltung in jedem einzelnen Kampf und der politischen Kohärenz der FIT. Der „Dialog“ mit den Massensektoren zeigt sich auch in den Medien: La Izquierda Diario, die von der PTS gegründete Online-Zeitung, erhält drei Millionen Besuche pro Monat, sodass sie von weit mehr Menschen gelesen wird als sich mit der FIT identifizieren.

Natürlich ist die FIT ein lebendiges Bündnis. Sie ist eine Front zwischen verschiedenen Parteien, und jede Mitgliedspartei hat ihre eigene Dynamik, wie die aktuelle Krise der PO zeigt. Es gibt keinen „Impfstoff“, der verhindern würde, dass die Kräfte den beiden Tendenzen nachgeben, die wir in diesem Artikel zu beschreiben versucht haben: Unterordnung unter den Peronismus oder Verschmelzung mit der rechten Opposition. Diese Tendenzen stellen einen ständigen Druck des Regimes dar. Es ist jedoch sehr positiv, dass die Linke, vielleicht wie nie zuvor, zu Beginn einer Krise als konsolidierter Pol der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse existiert.

Wie wir in diesem Artikel erklärt haben, ist die Intervention in den Klassenkampf eines der wesentlichen Elemente für das Verständnis der Linken heute. Seit der Entstehung der FIT haben jedoch nur teilweise Klassenkonfrontationen stattgefunden (mit Ausnahme der Proteste vom Dezember 2017). Die Tiefe der aktuellen Krise gibt uns die Möglichkeit zu verallgemeinerten Konfrontationen zwischen den Klassen. Die zukünftige peronistische Regierung wird versuchen, eine kapitalistische Lösung für die Krise durchzusetzen. Das bedeutet, dass die Werktätigen für die Krise bezahlen müssen, wie sie es in der jüngsten Geschichte Argentiniens schon so oft getan haben.

Wir von der PTS haben einen Vorschlag gemacht, um den Aufbau einer einheitlichen Partei der revolutionären sozialistischen Linken voranzutreiben. Im Rahmen der Krise wird dies immer notwendiger. Diese strategische Hypothese ist möglich, weil die argentinische Linke im Moment – im Gegensatz zu einem Großteil ihrer Geschichte – nicht hinter der einen oder anderen Fraktion der Bourgeoisie steht. In der Hitze der Krise und den scharfen Klassenkonfrontationen, die sie hervorrufen wird, trennen sich Sektoren der Massen der heterogenen, aber mächtigen argentinischen Arbeiter*innenklasse von verschiedenen Vertreter*innen der Klassenkollaboration (im Wesentlichen der Peronismus in seinen verschiedenen Varianten). Zu dieser Arbeiter*innenklasse gehören prekäre Jugendliche und Arbeitslose, aber auch gewerkschaftlich organisierte Sektoren. Sie können sich mit den kämpferischen Sektoren der Studierendenbewegung, der Frauenbewegung und Intellektuellen verbinden und sich in einer gemeinsamen revolutionären Partei mit der klassenkämpferischen Linken zusammenschließen.

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