Wie die Revolutionär*innen eine Million Stimmen bekamen
ARGENTINIEN: Die Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) hat sich bei den Wahlen Ende Oktober als viertgrößte Kraft konsolidiert. Welche Lehren können wir daraus ziehen?
2011 war ein Jahr großer Hoffnungen. Mitten in einer historischen Krise des Kapitalismus versammelten sich die Menschen auf öffentlichen Plätzen, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Vom Tahrir in Kairo über den Syntagma in Athen bis zum Zuccotti Park in New York wurden Rufe nach einer Alternative laut. Der sogenannte „Arabische Frühling“ begann mit Massenmobilisierungen gegen Diktaturen. Im europäischen Raum – besonders in Griechenland und Spanien – protestierten Menschen gegen die Spardiktate des Europa des Kapitals.
Doch jetzt, vier Jahre später, liegen diese Hoffnungen in Trümmern: Im Nahen Osten herrscht die Konterrevolution und im europäischen Raum haben die neoreformistischen Kräfte wie Syriza oder Podemos die Massen im Dienste des Kapitals demobilisiert. Doch nicht überall ist das so passiert: Auch wenn die politische Situation in Argentinien in den letzten Jahren viel stabiler war, etablierte sich hier ein klassenkämpferisches Phänomen. In Argentinien bildeten drei trotzkistische Organisationen – die Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS), die Arbeiter*innenpartei (PO) und die Sozialistische Linke (IS) – eine gemeinsame Wahlfront, die in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist. Wie lässt sich der Aufstieg der FIT erklären?
Der Aufschwung
Die Präsidentschaftswahlen Ende Oktober brachten einen enormen Rechtsruck – zwei rechte Kandidat*innen schafften es in die Stichwahl Ende November. Dennoch konnte die FIT ihre Stimmen im Vergleich zu den letzten Präsidentschaftswahlen 2011 bedeutend steigern. Damals waren es etwas über 500.000 Stimmen, diesmal circa 800.000. Es handelt sich um das beste Ergebnis einer linken Kraft bei Präsidentschaftswahlen seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1983. Damit konsolidierte sich die FIT als viertstärkste Kraft im Land, in klarer Abgrenzung zu allen bürgerlichen Parteien, sowie in Opposition zur Gewerkschaftsbürokratie.
Zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen wurde auch ein Teil des Kongresses gewählt. Hier konnte die FIT über eine Million Stimmen erzielen und mit Néstor Pitrola (PO) einen vierten Abgeordneten in den Kongress entsenden.
Die FIT konnte diese Erfolge erreichen, weil sie sich auf eine militante Kampagne von tausenden Aktivist*innen in Betrieben, Universitäten und Schulen stütze. Seit Jahren stehen die Kräfte der FIT bei den Kämpfen der Arbeiter*innen, Frauen und Jugend an vorderster Front. Wenn es zu Repressionen seitens der Polizei kam, standen die Abgeordneten der FIT – und besonders der PTS – mit auf der Barrikade. Aus den dutzenden Arbeitskämpfen, die die FIT-Kandidat*innen unterstützten, sticht vor allem der Kampf bei dem Autozulieferer Lear im Jahr 2014 heraus: Der Abgeordnete Nicolás del Caño (PTS) konnte dort Aufmerksamkeit erregen, da er vor laufender Kamera von einem Gummigeschoss der Polizei getroffen wurde.
Lehren aus der Wahl
Der erneute Wahlerfolg der FIT widerspricht der reformistischen Illusion, eine linke Partei müsse ein breites Programm haben und keinen direkten Konflikt mit der Bourgeoisie eingehen, um im Parlament eine bessere Stellung zu erobern. Im Gegenteil: Die FIT hat sich aus den Arbeitskämpfen und Massenmobilisierungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten herauskristallisiert und durch einen konsequenten und kühnen gemeinsamen Kampf ihre Stimmen erworben. Dabei geht es nicht bloß um die Steigerung der Stimmenanzahl, sondern auch um die Frage, auf welcher Grundlage dies geschieht. Syriza konnte zur stärksten Kraft im griechischen Parlament werden, aber dafür musste sie sogar ihr reformistisches Minimalprogramm aufgeben. Für die FIT ist das Parlament demgegenüber kein Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zur strategischen Machteroberung der Arbeiter*innenklasse.
Selbstverständlich profitiert die FIT von einer Regierungskrise des Kirchnerismus, der in der Phase der Weltwirtschaftskrise immer weiter nach rechts rückte und frühere populistische Versprechen brach. So entzog er den Arbeiter*innen ihre Rechte und griff ihre Demonstrationen an. Besonders in dieser Phase entstand eine neue Generation kämpferischer Arbeiter*innen, die mit der FIT gemeinsame Erfahrungen machten.
Die beiden Kandidaten der Bourgeoisie, Daniel Scioli und Mauricio Macri, gehen in die Stichwahl um das Präsidentschaftsamt. Die FIT ruft dazu auf, bei der Stichwahl ungültig zu wählen, da beide Kandidaten neoliberale Angriffe gegen die Ausgebeuteten und Unterdrückten durchsetzen werden.
Klassenunabhängigkeit
Im Gegensatz zu neoreformistischen Projekten wie Syriza und Podemos, die das kapitalistische System „demokratisieren“ wollen, vertritt die FIT ein Programm der Klassenunabhängigkeit in der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus. Sie kämpft für die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen und die Unabhängigkeit der Gewerkschaften vom Staat. Um der Gewerkschaftsbürokratie die materielle Basis zu entziehen, fordert sie, dass Funktionär*innen direkt gewählt werden und einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn erhalten. Sie lehnt die Staatsschulden ab, die nichts anderes als Schulden der Kapitalist*innen sind. Sie kämpft für die entschädigungslose Verstaatlichung der Banken, des Bergbaus, der Industrie, des Verkehrs und des Landbesitzes unter Kontrolle der Arbeiter*innen. Sie kämpft gegen die Prekarisierung.
Im Bereich der Frauenpolitik sticht die FIT deutlich hervor: Als einzige Kraft tritt sie für das Recht auf freie, kostenlose und sichere Abtreibung ein. Dies ist besonders wichtig, da in Zeiten eines Rechtsrucks die Rechte der Frauen als erste angegriffen werden.
Auch in der Umweltpolitik war die FIT die einzige Alternative: Unter der bisherigen Regierung (und wohl auch unter der nächsten) dürfen imperialistische Konzerne das Land rücksichtslos ausplündern. So hat das kanadische Unternehmen Barrick Gold ein Leck von zehntausenden Litern Zyanid und Quecksilber in der Mine „Veladero“ im Bundesstaat San Juan zu verantworten. Das ist nur ein Beispiel unter vielen, wie halbkoloniale Länder zerstört werden. Daher stellt sich die FIT auch gegen die Tagebauförderung, sowie gegen das Fracking.
Selbstverständlich schürt die FIT keine Illusionen darin, diese Forderungen allein im Parlament umsetzen zu können. Ihre parlamentarische Arbeit unterscheidet sich deutlich von den reformistischen Kräften, die ihr Hauptaugenmerk auf den Parlamentarismus legen. Die Sitze der FIT stehen im Dienste der Kämpfe der Arbeiter*innen und Unterdrückten.
Arbeiter*innen, Lehrer*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, Frauen und Jugendliche, die in den letzten Jahren harte Kämpfe angeführt haben, kandidierten auf den Listen der FIT, um ihre Kämpfe ins Parlament zu tragen. Dabei behalten die Abgeordneten der FIT von ihren Diäten nur den Lohn einer*s Lehrerin*s. Der Rest fließt in eine Streikkasse, um Arbeitskämpfe im ganzen Land auch materiell zu unterstützen.
Debatten innerhalb der FIT
Gleichwohl ist das Programm der FIT nicht revolutionär, da es zwar eine Arbeiter*innenregierung und den Sturz des Kapitalismus fordert, aber die Frage des bewaffneten Aufstands und der Diktatur des Proletariats umgeht. Die FIT ist eben ein Wahlbündnis aus drei Parteien, welche (zum Teil) unterschiedliche Strategien vertreten.
Nicolás del Caño und Myriam Bregman wurden Spitzenkandidat*innen der FIT, nachdem die beiden führenden Mitglieder der PTS sich in den Vorwahlen im August gegen die Kandidat*innen von PO und IS durchsetzen konnten. Damals war es nicht möglich gewesen, eine einheitliche Kandidatur aufzustellen. Hintergrund war, dass PO und IS eine Aufweichung der Klassenunabhängigkeit der FIT durch die Einbindung populistischer Kräfte befürworteten. Die Kandidat*innen der PTS zeigten mit ihrem Wahlerfolg auf, dass die Stärkung der FIT nicht in ihrer programmatischen Verwässerung besteht, sondern in der Schärfung ihres klassenkämpferischen Profils durch die Einbindung von kämpferischen Aktivist*innen.
Die FIT streitet für eine „Arbeiter*innenregierung auf Grundlage der Mobilisierung der Ausgebeuteten und Unterdrückten“ Dabei geht es nicht um die Übernahme des bürgerlichen Staates, wie es Syriza praktiziert hat – das endete mit einem Verrat an der Arbeiter*innenklasse. Eine Arbeiter*innenregierung zielt auf die Konfrontation mit der Bourgeoisie ab und strebt nach der Zerstörung des bürgerlichen Staates. Dafür treibt sie den Aufbau von Selbstverteidigungs- und Selbstverwaltungsorganen der Arbeiter*innen voran, um die politische Macht zu erobern. In der FIT gehen die Debatten um den konkreten Weg dorthin weiter. Für uns ist klar: Geht die FIT weiterhin den Weg der Klassenunabhängigkeit, wird eine solche Konfrontation unvermeidlich sein.