Wie sich die deutschen Gewerkschaften bürokratisierten
Wie sind die Gewerkschaften in Deutschland entstanden? Warum haben ihre Führungen den Ersten Weltkrieg unterstützt? Und was hat das mit politischen Streiks zu tun? Eine historische Analyse.
In Deutschland organisiert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in seinen Einzelgewerkschaften etwa 5,7 Millionen Arbeiter:innen. Hinzu kommen die Gewerkschaften des dbb beamtenbund und tarifunion mit etwa 1,3 Millionen Mitgliedern, der verschiedene Beamtengewerkschaften und berufsständische Gewerkschaften vereint. Neben diesen beiden großen Gewerkschaftsdachverbänden existieren noch weitere kleine Organisationen, deren Spektrum von anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaften wie der Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) mit wahrscheinlich etwa tausend Mitgliedern bis hin zu vollständig „gelben“ (d.h. Pro-Unternehmer:innen) Organisationen wie dem Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB) mit einigen Zehntausenden Mitgliedern reichen. Insgesamt lag 2021 der Anteil der Gewerkschaftsmitgliedschaft an allen abhängig Beschäftigten bei etwa 17 Prozent. Diese Zahl klingt groß, doch betrachtet man die Zahlen der Vergangenheit – nach der Wiedervereinigung betrug der Organisierungsgrad mehr als 30 Prozent –, wird klar, dass die Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten einen Großteil ihrer Mitglieder verloren haben.
Die Hauptursache für diese Entwicklung ist wohl der Vertrauensverlust der Arbeiter:innen in die Gewerkschaften, allen voran in den DGB, was mit der Senkung der Streikaktivitäten und den unzureichenden Abschlüssen zusammenhängt. Schließlich ordnen die Führungen der Gewerkschaften weitgehend die allgemeinen Interessen der Lohnabhängigen den Interessen der Kapitalist:innenklasse und der Regierung unter. Ein einschneidendes historisches Ereignis der letzten Jahrzehnte in diesem Sinne war die Einführung von Hartz IV als Teil der Agenda 2010, wo die Führungen von DGB und Co. auf einen allgemeinen Abwehrkampf gegen diesen Angriff auf die Klasse verzichteten und stattdessen die Reform am Verhandlungstisch mitgestalteten – womit sie sie mitzuverantworten haben.
Doch wie konnte es zu einer Politik der Führungen der Organisationen der Arbeiter:innenklasse kommen, die den Interessen ihrer Mitglieder entgegengesetzt ist? Und wie können klassenkämpferische und revolutionäre Kräfte in Gewerkschaften diese wieder zu tatsächlichen Organen des Klassenkampfes machen? Um diese Fragen zu beantworten, befassen wir uns mit den Ursprüngen der deutschen Arbeiter:innenbewegung bis zur Weimarer Republik.
Die Ursprünge der Gewerkschaften
Die Gewerkschaften entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Organisationen, die Arbeiter:innen in einem Betrieb, in einem Sektor oder Wirtschaftszweig bildeten, um kollektiv für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Sie waren Abwehrorganisationen der Lohnabhängigen gegen die Angriffe der Unternehmensleitungen und Kapitalist:innen. Die Notwendigkeit für solche Vereinigungen entsprang unmittelbar aus der kapitalistischen Produktionsweise und den gegensätzlichen Interessen der Lohnabhängigen und Kapitalist:innen. Die Arbeiter:innen können nur dann gegen die Kapitalist:innen einen erfolgreichen Kampf führen, wenn sie sich in Organisationen und kollektiven Aktionen vereinen. Das gilt sowohl für ökonomische Forderungen wie mehr Lohn als auch ihre politischen Interessen wie den damaligen Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Dementsprechend waren die Gewerkschafter:innen die Pionier:innen der Vernetzung internationaler Arbeiter:innenbewegungen und ihrer Kämpfe.
Im Jahr 1864 entstand die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) oder die Erste Internationale aus der Notwendigkeit, dass sich die Arbeiter:innen „gegen das international kooperierende Kapital“ ebenfalls international organisieren mussten. August Bebel und Karl Liebknecht gründeten 1869 gemeinsam mit weiteren Gruppen schließlich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) – Vorgängerin der SPD, die erst nach weiteren Fusionen und Spaltungen entstand –, die sich als deutsche Sektion der IAA verstand. Die programmatische Grundlage beinhaltete die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, das kollektive Eigentum an Produktionsmitteln, während die Partei zugleich für die politische Unabhängigkeit gegenüber der Bourgeoisie und Liberalen eintrat.
Bereits im Jahr 1865, einer Zeit, in der die Arbeiter:innenorganisationen noch unter der Kontrolle der Arbeiter:innen selbst standen und ihren allgemeinen Interessen dienten, erkannte Karl Marx die Gefahr der Anpassung der Gewerkschaften an die kapitalistischen Verhältnisse. Er schrieb, die Gewerkschaften leisteten zwar einen guten Verdienst am Klassenkampf, indem sie als „Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals”1 dienten. Wenn sie jedoch von ihrer Macht „einen unsachgemäßen Gebrauch machen“2, würden sie ihren Zweck zum Teil verfehlen. Er ging sogar noch weiter und schrieb, wenn die Gewerkschaften ihre Kräfte nicht zur Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise einsetzten, verfehlten sie ihren Zweck gänzlich.3
1890 entstand die „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ als übersektoraler Dachverband aller sozialdemokratischen Gewerkschaften, die gemeinsam über 300.000 Arbeiter:innen organisierten. Formal bekannte sich die Generalkommission unter der Führung von Carl Legien zur Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise, jedoch wollte sie keinen Kampf um politische Forderungen für demokratische und sozialistische Ziele organisieren.4
Die Entwicklung der Gewerkschaften, in deren Verlauf sich ihre Führungen an das jeweilige kapitalistische Regime anpassten und so ihren Zweck verfehlten, geht mit der Entwicklung des internationalen kapitalistischen Systems und der Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse selbst einher. Eine wichtige Rolle spielt die damit verbundene Entwicklung einer neuen Schicht innerhalb der Arbeiter:innenklasse, der Arbeiter:innenaristokratie, auf die sich die parallel entwickelnde Gewerkschaftsbürokratie stützte.
Bürokratisierung der Gewerkschaften
Die durch die wirtschaftliche und politische Expansion der imperialistischen Staaten erwirtschafteten Extraprofite wurden zum Teil mit der Arbeiter:innenaristokratie geteilt. Lenin erklärt diese Entwicklung in seinem Aufsatz Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus wie folgt:
Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war der Übergang zur neuen, imperialistischen Epoche. Nutznießer des Monopols ist das Finanzkapital nicht eines Landes, sondern einiger, sehr weniger Großmächte. […] Die Monopolstellung des modernen Finanzkapitals wird wütend umstritten; die Epoche der imperialistischen Kriege hat begonnen.[…] dafür aber kann jede imperialistische „Groß“macht kleinere (als in England 1848-1868) Schichten der „Arbeiteraristokratie“ bestechen und besticht sie auch. […] Die Bourgeoisie einer imperialistischen „Groß“macht ist ökonomisch in der Lage, die oberen Schichten „ihrer“ Arbeiter zu bestechen und dafür ein- oder zweihundert Millionen Francs im Jahr auszuwerfen; denn ihr Extraprofit beträgt wahrscheinlich rund eine Milliarde.
Die Mitglieder dieser neuen Schicht waren meist Facharbeiter:innen der imperialistischen Konzerne in strategischen, also für das Kapital und den Staat zum Überleben notwendigen Sektoren der Produktion, zu finden. Durch diese zentrale Stellung in der Produktion konnten diese Arbeiter:innen gewisse ökonomische Kompromisse aus kleinen Teilen des imperialistischen Extraprofits seitens der Bourgeoisie erkämpfen. Sie machten jedoch um die Jahrhundertwende 1900 eine kleine Minderheit in der Arbeiter:innenklasse aus, die ein Vielfaches verdiente und eher gewerkschaftlich organisiert war, als Rest der Klasse. Dadurch wuchsen Illusionen der bessergestellten Teile der Arbeiter:innenklasse, dass ihre Interessen sich mit den Interessen der imperialistischen Bourgeoisie deckten und sie ihre eigene Lage stetig durch die weitere Entwicklung des Kapitalismus verbessern konnten.
Die Funktionär:innen der Gewerkschaften, die eine Rolle der Vermittlung zwischen Kapitalist:innen und Arbeiter:innen übernahmen, entwickelten sich immer mehr zu einer eigenständigen Kaste, der Gewerkschaftsbürokratie, die nicht mehr die allgemeinen Interessen der Arbeiter:innenklasse vertrat, sondern sich auf diese Arbeiter:innenaristokratie stützte. Die Entwicklung dieser Kaste ging auch mit einer undemokratischen Zentralisierung der Entscheidungsmacht in den Gewerkschaften auf Führungsgremien einher: Je mehr die Bürokratisierung voranschritt, desto weniger Raum für Gewerkschafts- und Streikdemokratie gab es.
Die Gewerkschaftsbürokratie wuchs also als eine privilegierte Schicht der hauptamtlichen Funktionär:innen und, falls sie sich ökonomische und politische Privilegien schafften, auch Ehrenamtlichen, wie beispielsweise Vorstandsmitglieder, in den Gewerkschaften und der Arbeiter:innenbewegung, die durch ihre Rolle der Vermittlung materielle Vorteile innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft erhielten. Diese Vorteile waren und sind nicht nur finanzieller, wie die eines überdurchschnittlichen Lohns, sondern auch politischer Natur: So wurden die Gewerkschaftsspitzen im Laufe der Geschichte in unterschiedliche Beratungsgremien des bürgerlichen Staates eingegliedert oder konnten bürgerliche Karrieren in Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft machen, wie die aktuelle DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, die als SPD-Generalsekretärin und Abgeordnete die Politik der damaligen großen Koalition weitgehend mitgestaltete.
Die Gewerkschaftsbürokratie übt ihren Einfluss in der Arbeiter:innenklasse jedoch nicht nur über den Apparat aus, sondern auch über gewisse Schichten an sich, wie sozialpartnerschaftliche Betriebsräte der großen Industriebetriebe wie Volkswagen. Diesen werden oftmals nach einer gewissen Zeit Karrierechancen im Gewerkschaftsapparat als Hauptamtliche eingeräumt oder sie gelangen selbst in die Aufsichtsräte, sodass sie Unternehmen co-managen.
Opposition gegen politische Massenstreiks
Um 1900 organisierten die Gewerkschaften eher die qualifizierten und besser bezahlten Schichten der Arbeiter:innenklasse, während Teile der Gewerkschaftsbürokratie sich aktiv gegen die Organisierung von arbeitenden Frauen einsetzten, da diese vermeintlich eine Konkurrenz für ihre männlichen Kollegen darstellten und ohnehin mit der Hausarbeit beschäftigt wären.5 Dagegen kämpften viele Arbeiterinnen und sozialistische Anführerinnen der Arbeiter:innenbewegung wie Clara Zetkin, die folgendes dazu sagte: „Die Organisation der Arbeiterinnen wird erst dann bedeutende Fortschritte machen, wenn sie nicht mehr von wenigen gefördert wird, sondern wenn sich jedes einzelne Mitglied der Gewerkschaften anlegen sein läßt [sich als Aufgabe macht, A.d.A.], diesen die Kolleginnen aus Fabrik und Werkstatt zuzuführen [zu gewinnen, A.d.A].”6
Auch in Frage bezüglich der Kolonien im sogenannten „Deutsch-Südwestafrika” vertraten Teile der Sozialdemokratie und mit ihr im Bündnis stehende Gewerkschaftsbürokraten wie Gustav Noske und Eduard Bernstein reaktionäre Positionen. Sie plädierten für eine sozialistische Kolonialpolitik, die angeblich zu einer Zivilisierung der Kolonien, zum Aufbau des Sozialismus sowie den Interessen der Arbeiter:innen in Europa diene. Währenddessen verübte die kaiserliche deutsche Armee den ersten Völkermord des 20. Jahrhundertes an Herero und Nama. Die Arbeiter:innenbewegung unter sozialdemokratischer Führung schaffte es nicht, sich gegen den Kolonialismus zur Wehr zu setzen.
Vor dem Ersten Weltkrieg verkörperte die entstehende Bürokratie der damaligen Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands das Rückgrat der Anpassung der SPD-Führung an den bürgerlichen Staat und imperialistische Interessen. Rosa Luxemburg beschrieb die entstehende Gewerkschaftsbürokratie, die anfing, sich von der damaligen Sozialdemokratie zu loszulösen, im Jahr 1906 in ihrem Werk Massenstreik, Partei und Gewerkschaften wie folgt:
So hat sich der eigenartige Zustand herausgebildet, daß dieselbe Gewerkschaftsbewegung, die mit der Sozialdemokratie [d.h. der damals noch revolutionären SPD, A.d.A.] unten, in der breiten proletarischen Masse, vollständig eins ist, oben, in dem Verwaltungsüberbau, von der Sozialdemokratie schroff abspringt und sich ihr gegenüber als eine unabhängige zweite Großmacht aufrichtet. Die deutsche Arbeiterbewegung bekommt dadurch die eigentümliche Form einer Doppelpyramide, deren Basis und Körper aus einem Massiv besteht, deren beide Spitzen aber weit auseinanderstehen.
Leo Trotzki schrieb im selben Jahr:
Die europäischen sozialistischen Parteien, insbesondere die größte unter ihnen, die deutsche, haben einen eigenen Konservatismus entwickelt, der um so stärker ist, je größere Massen der Sozialismus ergreift, je höher der Organisationsgrad und die Disziplin dieser Massen sind. Infolgedessen kann die Sozialdemokratie als Organisation, die die politische Erfahrung des Proletariats verkörpert, in einem bestimmten Moment zum unmittelbaren Hindernis auf dem Weg der offenen Auseinandersetzung zwischen den Arbeitern und der bürgerlichen Reaktion werden.
Was war der historische Kontext? 1905/6 wurde die sozialdemokratische Führung der Gewerkschaften auf die Probe gestellt: Die russische Revolution von 1905 und die Verschlechterung der ökonomischen Situation führten auch in Deutschland zu einer massiven Streikbewegung mit 500.000 Streikenden; mit Zentrum im Ruhrgebiet mit einer Beteiligung von 200.000 Minenarbeitern. Die sozialdemokratische Gewerkschaftsführung blies den Streik, ohne dass die Forderungen erreicht wurden, gegen den Willen der Basis ab. Sie spaltete so die gewerkschaftliche und politische Bewegung, als die Streikbewegung drohte, sich mit dem Kampf für das Wahlrecht zu vereinigen.
Diese Politik wurde beim Gewerkschaftskongress von Köln im Mai 1905 verallgemeinert, wo Carl Legien, Vorsitzender der Generalkommission, durchsetzte, alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich zu erklären.7 Der Mannheimer Kongress der SPD 1906 trug den materiellen Druck der Gewerkschaftsbürokratie in die Partei hinein: Er legte die Parität zwischen Partei und Gewerkschaften fest, mit der die Parteiführung zwingend vorher die Gewerkschaftsführung fragen musste, wenn es um gemeinsame Angelegenheiten ging. De facto bedeutete das, der Gewerkschaftsbürokratie eine Vetomacht gegenüber der Politik der SPD einzuräumen.
Diese durch die reformistischen Gewerkschafts- und Parteibürokratien durchgesetzte Trennung zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf stärkte auch die reformistischen Tendenzen innerhalb der SPD um Bernstein und Friedrich Ebert, eine Politik des Nichts-als-Parlamentarismus zu verfolgen; also eine Politik, die aktiv politische Mobilisierungen der Arbeiter:innenklasse ablehnte und allein auf parlamentarische Kompromisse setzte. Schlussendlich gaben sie so die Perspektive der sozialistischen Revolution auf und schürten stattdessen Hoffnungen in den deutschen Imperialismus.
Diese Trennung des ökonomischen und politischen Kampfes seitens der Gewerkschaftsbürokratie, die in Deutschland heute im Jahr 2023 durch den richterlichen Beschluss gegen das politische Streikrecht noch verstärkt wird, ist ein fundamentales Hindernis dafür, dass sich die Arbeiter:innenklasse gegen die politischen Angriffe der Bourgeoisie und der Regierung verteidigt oder gar in die Offensive geht.
Unterstützung des Ersten Weltkrieges
Das sollte dazu führen, dass die SPD und die deutsche Gewerkschaftsbürokratie den Ersten Weltkrieg begrüßten und sich hinter den deutschen Militarismus stellten. So beschloss die Generalkommission am 2. August 1914 nach geheimen Beratungen mit der Regierung, alle Streikmaßnahmen und Demonstrationen im Rahmen des sogenannten Burgfriedens zu stoppen, um die beste militärische Schlagkraft zu erreichen sowie ihre Mitglieder für die Reichswehr zu mobilisieren. Zwei Tage später stimmte die SPD-Fraktion im Reichstag für die Kriegskredite, wobei die Positionierung der Gewerkschaftsbürokratie federführend gewesen war.8
Die Generalkommission erklärte sich bereit, die staatlichen Pläne für den Aufbau einer Kriegswirtschaft zu unterstützen. Diese bestanden unter anderem daran, Arbeitslose massiv in die Armee aufzunehmen, sowie der Disziplinierung der Betriebe, in denen die Arbeiter:innen militärischem Zwang unterworfen waren. Währenddessen wurden Arbeitsschutzgesetze mit der Zustimmung der Generalkommission aufgehoben und seitens der Gewerkschaftspresse Agitation zugunsten des Krieges geführt. Es entstanden auch die ersten Kooperationsgremien von Gewerkschaftsbürokrat:innen mit Rüstungsindustriellen.
Diese Zusammenarbeit wurde sowohl vom Kriegsministerium, das es als einen Erfolg bezeichnete, die Gewerkschaften zu Organen der Staatsarbeit zu machen, als auch seitens Gewerkschaftsführern wie Gustav Bauer gelobt, der behauptete, dass die nationale Rüstungsindustrie vom Burgfrieden abhing und es unmöglich gewesen wäre, ohne die Gewerkschaften Ordnung zu schaffen.9
Für die Kriegsgegner:innen in den Gewerkschaften war es äußerst schwer, eine oppositionelle Bewegung aufzubauen, da sie sowohl von der kaiserlichen Polizei als auch von der Gewerkschaftsführung Repression erfuhren. Wie Pohl und Werther kommentieren: „Nicht selten arbeiteten Militärapparat und Gewerkschafts- wie Parteibürokratie zusammen, um mißliebige Kriegsgegner durch Einberufung oder Verhaftung unschädlich zu machen.“10
Die Lage änderte sich im Jahr 1916 durch das starke Wachstum der Unzufriedenheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse aufgrund der schlechten Ernährungslage, der Niederlagen an der Front und der Politik der Gewerkschaftsführung. Während des Landesverratsprozesses von Liebknecht, der im Dezember 1914 als einziger SPD-Abgeordnete gegen die Kriegskredite stimmte, kam es sogar zu einem politischen Massenstreik mit über 55.000 Arbeiter:innen, die für seine Freilassung protestierten. Die Regierung antwortete auf diesen Aufschwung mit großer Repression und dem Ausbau der Militärdiktatur im Verlauf des Krieges durch neue Gesetze, die durch die Oberste Heeresleitung (OHL) in Beratung mit Unternehmensverbänden (Krupp, Bayer usw.) beschlossen wurden.
Darunter fällt das Hilfsdienstgesetz, das faktisch einen Arbeitszwang im gesamten Reichsgebiet durchsetzen sollte. Arbeiter:innen wurden somit gezwungen, in der Rüstungsindustrie zu arbeiten und konnten ihren Betrieb nicht verlassen. Der Vorsitzende des Metallarbeiterverbandes übernahm sogar den Vorsitz in Arbeitsgelegenheiten des Kriegsamtes der Militärregierung. Die Gewerkschaften, die bisher staatliche Funktionen übernommen hatten, waren nun Teil der Militärregierung und wurden in den Staat eingegliedert und verstaatlicht. Die Generalkommission begrüßte das als einen sozialpolitischen Erfolg. Ein Erfolg der Bourgeoisie, der mithilfe der Gewerkschaftsbürokratie herbeigeführt wurde.
Die Gewerkschaftsbürokratie verkörperte während des Krieges gemeinsam mit der reformistischen SPD-Bürokratie die Interessen der deutschen Bourgeoisie und des kapitalistischen Staates innerhalb der Arbeiter:innenklasse zum Schutz des Privateigentums und imperialistischer Interessen.
In April 1917 fanden die bis dato größten Streiks der Geschichte der deutschen Arbeiter:innenbewegung mit hunderttausenden Streikenden statt, die sich von der Februarrevolution in Russland inspirieren ließen. Sie forderten die sofortige Beendigung des Krieges, die Aufhebung aller Ausnahmegesetze sowie ein demokratisches Wahlrecht. Gleichzeitig entwickelten sich Organe der Arbeiter:innenklasse in den Betrieben, die unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie und der Regierung waren und sich vor allem in Berlin unter dem Namen „Revolutionäre Obleute“ organisierten.
Die Generalkommission, die sich in einem politischen Bündnis mit dem deutschen Militärstab befand, stellte sich gegen die Streiks, jedoch hatte sie mittlerweile keine stabile Kontrolle über die Massen mehr. Die deutsche Revolution begann. Die sozialdemokratischen Führungen der Gewerkschaften und SPD spielten auch in der deutschen Revolution von 1918, die den Ersten Weltkrieg beendete, eine reaktionäre Rolle, indem sie sich gegen eine sozialistische Räterepublik stellten und revolutionäre Arbeiter:innen bekämpften. Ebenfalls in der Weimarer Republik war die Politik der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie darauf gerichtet, das bürgerliche Regime gegen die Radikalisierung der Massen zu verteidigen. Das ging so weit, dass die sozialdemokratischen Organisationen und Gewerkschaften eine gemeinsame Aktionseinheit mit den kommunistischen Organisationen gegen den Aufstieg des Faschismus ablehnten. Dabei ist natürlich die ultra-linke Haltung der kommunistischen Organisationen zu erwähnen, in deren Folge sie von ihrer Seite eine Zusammenarbeit ebenfalls ablehnten und sich somit der faschistischen Bewegung nicht widersetzen konnten.
„Liquidierung“ der Gewerkschaften als Organe des Klassenkampfes
Im Artikel Eine Einführung in Hegemonie und Revolutionäre Strategie argumentieren wir, dass die Herrschaft der Bourgeoisie nicht nur auf Repressionsmaßnahmen beruht, sondern auch auf Vermittlung, also auf der Bildung einer politischen Hegemonie (politische Herrschaft) gegenüber der Arbeiter:innenklasse, sodass diese den Kampf um die politische Macht gar erst nicht aufnimmt. Die Bourgeoisie herrscht in der bürgerlichen Gesellschaft selten durch nackte Gewalt, sondern nutzt bürgerlich-demokratische Institutionen wie Parlamente, um ihre Interessen als die Interessen der gesamten Gesellschaft darzustellen und widerständige Sektoren und Klassen durch gewisse Zugeständnisse in ihre Herrschaft einzubinden. Eine zentrale Rolle in der Vermittlung dieser bürgerlichen Hegemonie spielen die bürgerlichen Bürokratien in Gewerkschaften und Parteien, die den Kampf der Arbeiter:innenklasse im ökonomischen Rahmen halten sollen, um der Gefahr einer politischen Konfrontation mit dem Regime vorzubeugen.
Leo Trotzki analysierte diese Rolle der Gewerkschaftsführungen, insbesondere in imperialistischen Ländern, kurz vor seiner Ermordung durch einen stalinistischen Agenten in seinem Artikel Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs folgendermaßen:
Es gibt in der Entwicklung, oder besser, in der Degeneration der gegenwärtigen Gewerkschaftsorganisationen der ganzen Welt einen allen gemeinsamen Zug: die Annäherung an die Staatsgewalt und das Verschmelzen mit ihr. […] Die Gewerkschaftsbürokraten leisten in Wort und Tat ihr Bestes, um dem „demokratischen“ Staat zu beweisen, wie verläßlich und unentbehrlich sie im Frieden und besonders im Kriege sind. […] [Der Monopolkapitalismus] verlangt von der reformistischen Bürokratie und der Arbeiteraristokratie, welche die Brosamen von seiner Festtafel auflesen, daß sie sich vor den Augen der Arbeiterklasse in seine politische Polizei verwandeln. Kann das nicht erreicht werden, so wird die Arbeiterbürokratie vertrieben und durch die Faschisten ersetzt. […] Tatsächlich besteht die ganze Aufgabe der Bourgeoisie darin, die Gewerkschaften als Organe des Klassenkampfes zu liquidieren […].
Diese „Liquidierung“ der Gewerkschaften als Organe des Klassenkampfes kann verschiedene Formen annehmen, je nach Niveau des Klassenkampfes und der Festigkeit der bürgerlichen Hegemonie. In „friedlichen“ Zeiten des Klassenkampfes findet sie durch die Kooptation der Führungen der Gewerkschaften statt, indem die Gewerkschaftsbürokratie durch Verhandlungen politisch ins Regime eingebunden wird. So kann die Bourgeoisie ihren Willen vorrangig mit friedlichen Mitteln durchsetzen und einen möglichen Widerstand mithilfe der Gewerkschaftsbürokratie in ungefährliche Bahnen umlenken, schon bevor er sich richtig formieren kann.
Die Liquidierung der Kampforgane kann jedoch auch andere Formen als Kooptation annehmen: In Situationen größerer Instabilität und Zuspitzung der Klassenkämpfe kann der bürgerliche Staat sich nicht auf die Selbstbeschränkung der Gewerkschaftsführungen verlassen – da diese von ihrer eigenen Basis unter Umständen dazu gezwungen werden, weiter zu gehen, als sie es selbst wollen. Die formale Unabhängigkeit der Gewerkschaften kann unter solchen Umständen einer organisatorischen Eingliederung (Verstaatlichung) der Gewerkschaftsbürokratie in den Staat weichen – beispielsweise durch Posten in Ministerien unter einem bonapartistisch-militärischen Regime, wie es während des Ersten Weltkrieges in Deutschland der Fall war.
Die letzte Form der Liquidierung der Gewerkschaften als Kampforgane der Arbeiter:innenklasse besteht in ihrer vollständigen physischen Vernichtung und Ersetzung durch staatliche faschistische Zwangsorgane, falls die Klassengegensätze nicht mehr aufzuhalten sind und die Errichtung einer faschistisch-kapitalistischen Diktatur seitens der Bourgeoisie als einzige Maßnahme gegen eine sozialistische Revolution und die eigene Enteignung gesehen wird – wie es nach der Machtübergabe an die NSDAP 1933 der Fall war.
Für die Bourgeoisie ist es jedoch günstiger, wenn sie ihre Herrschaft in bürgerlich-demokratischen Formen weiterführen kann, ohne auf bonapartistisch-militärische oder faschistische Regime zurückzugreifen. Denn im bürgerlichen Parlamentarismus bleibt der repressive Charakter ihrer Herrschaft bis zu einem gewissen Grad verschleiert; politische Kämpfe der Arbeiter:innenklasse werden so eher durch Methoden der Verhandlung und Vermittlung seitens der Gewerkschaftsbürokratie eingedämmt oder verhindert. Die Gewerkschaftsbürokratie, die als eine bürgerliche Bürokratie in der Arbeiter:innenbewegung entstanden ist, dient also – in den Worten Antonio Gramscis – als eine „politische Polizei mit Untersuchungs- und Vorbeugungscharakter”11, während gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung die Rolle der eigentlichen Polizei, der Armee und der Gerichte verdeckt bleiben kann.
Denn falls die Arbeiter:innenklasse von ihrer eigentlichen Macht mit politischen Massen- und Generalstreiks Gebrauch machen sollte, würde sie sich sehr schnell mit Polizeiknüppeln und bürgerlichen Gerichten konfrontiert sehen. In diesem Fall wäre die Gewerkschaftsbürokratie an ihrer Aufgabe gegenüber dem bürgerlichen Staat, die Arbeiter:innenbewegung in den engen bürgerlichen Fesseln zu halten, gescheitert.
Es gilt also die Gewerkschaften als Kampforgane der Arbeiter:innenklasse zurückzuerobern. In weiteren Artikeln werden wir uns mit der besonderen Eigenschaften der Sozialpartnerschaft und die Frage der „Rückeroberung der Gewerkschaften“ beschäftigen.
Fußnoten
1. Karl Marx: Lohn, Preis und Profit, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band 16, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 101-152, hier S. 152.
2. Ebd.
3. Ebd.
4. Hans-Dieter Gimbel: Sozialistengesetz und „Große Depression“: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung von der Wirtschaftskrise 1873 bis zum Kölner Parteitag der deutschen Sozialdemokratie 1893, in: Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer: Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Vierte Auflage, Pahl Rugenstein, Köln 1989, S. 56-76, hier S. 71f.
5. Andrea D’Atri: Brot und Rosen, Argument Verlag, Hamburg 2019, S. 111.
6. Clara Zetkin: Frauenarbeit und gewerkschaftliche Organisation, in: Dies.: Ausgewählte Reden und Schriften, Band 1, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1957, zitiert nach D’Atri.
7. Jutta Schmidt und Wolfgang Seichter: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, in: Deppe, Fülberth und Harrer: Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, S. 109f.
8. Schmidt und Seichter: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, S. 113f.
9. Kurt Pohl und Frauke Werther: Die freien Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg, in: Deppe, Fülberth und Harrer: Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, S. 120.
10. Pohl und Werther: Die freien Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg, S. 126.
11. Antonio Gramsci: H13/B7/, 1992, S. 1595, zitiert nach Albamonte und Maiello,