Wie Bangladeschs Studierende die Premierministerin stürzten

06.08.2024, Lesezeit 15 Min.
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Inmitten massiver und anhaltender Studierendenproteste, die brutal unterdrückt wurden, trat die Premierministerin von Bangladesch, Scheich Hasina, zurück und floh per Hubschrauber nach Indien. Wie ist es dazu gekommen und wie kann es weitergehen?

Im Golf von Bengalen weht ein starker Wind, der als Monsun bekannt ist. Seit jeher kennzeichnet dieser Wind eine ganze Saison mit Überschwemmungen und sintflutartigen Regenfällen. Trotz seines verheerenden Charakters für die Bevölkerung wurde er wie ein Gott verehrt. Nach der Katastrophe hinterlässt er bedeutende Umweltveränderungen, die die Landwirtschaft und die Wasserreserven begünstigen. In Anlehnung an dieses Naturphänomen nannten bangladeschische Studierende die landesweite Protestbewegung, die das politische Regime erschütterte, „Bengalischer Monsun“. Am Montag trat Premierministerin Sheik Hasina zurück und floh mit einem Hubschrauber nach Indien. Damit beendete sie ihre 15-jährige Regierungszeit, in der sie als „Eiserne Lady“ Südasiens bezeichnet wurde. Der Armeechef kündigte rasch die Bildung einer Übergangsregierung an, ohne weitere Einzelheiten zu nennen. Die jungen Leute erlebten den Moment als Triumph, aber sie würden eine Militärherrschaft nicht dulden. Auch wenn sich die Veränderungen, die sich durch diese Ereignisse ankündigten, von Unsicherheit geprägt sind, können wir beginnen, ihre Wurzeln zu ergründen.

Phase 1: Gegen die Reform

Der Auslöser für die Proteste war die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, das seit 2018 ausgesetzte Quotensystem wieder einzuführen. Dieses reservierte 30 Prozent der Regierungsstellen für die Familien von Veteranen des Befreiungskriegs gegen Pakistan von 1971; die Awami-Liga spielte in diesem Konflikt eine wichtige Rolle, angeführt von Scheich Mujibur Rahman, dem Vater der entmachteten Premierministerin Scheich Hasina.

Fahim, Student an der Universität Dhaka, erklärt, dass „das Gesetz in den Jahren nach der Unabhängigkeit als Belohnung für diejenigen, die im Krieg ihr Leben gelassen haben, sinnvoll war“, aber für die heutige Jugend „bedeutet es in der Praxis, dass die Awami-Liga die Kontrolle über den Staat erlangt“. Mit anderen Worten: Die so genannte „Quote für Freiheitskämpfer“ verhindert zusammen mit der Korruption bei der Prüfung für den öffentlichen Dienst, dass viele Studierende eine Stelle im Staat bekommen und ihre beruflichen Fähigkeiten in einem Land vergeuden, in dem die Armut weit verbreitet ist. Die Arbeitslosigkeit ist ein strukturelles Problem im Land, aber insbesondere für junge Menschen ist sie eine ernsthafte Bedrohung, da ein großer Prozentsatz von ihnen große Schwierigkeiten hat, sich nach Abschluss des Studiums beruflich weiterzuentwickeln. Die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, sind die Auswanderung ins Ausland oder die Arbeit als prekäre Straßenverkäufer:innen im eigenen Land. Die bangladeschische Forscherin Naomi Hossein erklärt, dass „viele von ihnen über die Fähigkeiten verfügen, um im Ausland Arbeit zu finden, aber sie sind entschlossen, zu bleiben und ihrem Land zu dienen“.

Hintergrund der Not der Studierenden war das Beschäftigungsproblem in Bangladesch, einem kleinen Land mit 170 Millionen Einwohner:innen, von denen die Hälfte in extremer Armut lebt und unter jährlichen Wirbelstürmen und Epidemien wie Dengue-Fieber und Cholera leidet. Der öffentliche Dienst stellt jährlich nur 3.000 Stellen für die mehr als 400.000 Hochschulabsolvent:innen zur Verfügung.

Der Juli in Bangladesch war blutig. Die Proteste, die am Anfang des Monats friedlich begannen, eskalierten schnell und radikalisierten sich im ganzen Land. Auch prekär Beschäftigte schlossen sich an. Scheich Hasina reagierte mit einer brutalen Niederschlagung, indem sie ihre paramilitärische Miliz, die Chhatra Liga, die Polizei und den Grenzschutz einsetzte.

Der Wendepunkt kam am 14. Juli, als sie die Demonstrant:innen verhöhnte, indem sie diese als „Razakars“ bezeichnete, eine abwertende Bezeichnung für Bangladescher:innen, die während des Krieges von 1971 mit der pakistanischen Armee kollaborierten und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Zivilist:innen im damaligen Ostpakistan beschuldigt wurden. Dieses Mittel der Diffamierung von Gegner:innen nutzte Hasina bereits in der Vergangenheit, um die ungezügelte Gewalt der Regierung zu rechtfertigen. Jede Demonstration gegen sie wurde mit Oppositionsgruppen wie der Bangladesh Nationalist Party, die von ihrer Erzfeindin Khaleda Zia geführt wird, oder der radikal-islamisch orientierten Jamaat al-Islamia in Verbindung gebracht. Beide Parteien sind für ihre Brutalität in der Vergangenheit, ihre Verbindungen zur pakistanischen Unterdrückung und den Militärdiktaturen zwischen 1975 und 1990 bekannt. Es stimmt zwar, dass beide Parteien die Proteste unterstützt haben, aber Kais Mahmood erklärt: „Die Oppositionsparteien haben keinen Einfluss auf die Bewegung, sie sind tote Politiker:innen, die Studierenden kämpfen für tiefgreifende Veränderungen, deshalb werden sie als Mitglieder derselben Elite wie die Awami-Liga anerkannt“.

Die Radikalisierung der Proteste eskalierte rasch. Der Hass auf die Regierung kanalisierte sich in Angriffen auf Regierungsgebäude und die öffentliche Infrastruktur und verwandelte die Straßen in Kriegsgebiete. In diesen blutigen Kämpfen war die Solidarität der Straßenarbeiter:innen, wie etwa der Rikschafahrer:innen, die beim Transport der Verwundeten halfen, unerlässlich. Eine der erschreckendsten Aufnahmen ist die des Aktivisten Abu Sayed, der unbewaffnet und mit erhobenen Armen dasteht und von der Polizei aus nächster Nähe erschossen wird. Diese Tat wurde von Amnesty International verurteilt, und die Organisation äußerte ihre Bestürzung über die Menschenrechtslage in Bangladesch.

Innerhalb der Bewegung spielen Frauen und Jugendliche eine wichtige Rolle. Für Shafiqul Alam, Direktor der Presseagentur AFP in Bangladesch, war es eine „Frauenrevolution“, die trotz der grausamen Bestrafung durch Mitglieder der Chhatra Liga, die mit Stöcken und Macheten geschlagen wurden, nicht zögerten, wieder auf die Straße zu gehen.

Um die Situation unter Kontrolle zu bringen, verhängte die Regierung eine landesweite Ausgangssperre und sperrte das Internet für fünf Tage, schränkte das Streik- und Versammlungsrecht massiv ein und militarisierte die Universitäten, in denen sich die Studierenden verbarrikadiert hatten. Nachts führten die Polizei und andere repressive Kräfte „Tür-zu-Tür“-Razzien durch, um führende Persönlichkeiten und Aktivist:innen zu verhaften, indem sie sie aus ihren Häusern prügelten. Nach ihrer Freilassung klagten sie über Folter in den Haftanstalten.

Um die Wogen zu glätten, hob der Oberste Gerichtshof das Quotensystem wieder auf und signalisierte damit, dass er von dieser Maßnahme Abstand nahm. Dies geschah deutlich zu spät und war unzureichend: Die Bewegung hatte begonnen, Gerechtigkeit für die mehr als 300 Toten zu fordern.

Phase 2: Für den Sturz der Eisernen Lady

Nach einer Woche mit nächtlichen Razzien und Verhaftungen formierte sich die Bewegung neu. In diesen Tagen stellte sie eine Liste mit neun Forderungen zusammen, darunter eine Entschuldigung, Gerechtigkeit für die Toten und den Rücktritt mehrerer Minister:innen. Als die Bewegung wuchs, kristallisierte sich eine Hauptforderung heraus: Der Sturz von Scheich Hasina, zusammengefasst in dem kraftvollen Bild von Tausenden erhobener Fäuste, deren Zeigefinger zum Himmel zeigen.

Die Koordinator:innen der Proteste begannen, zu einer nationalen Nichtkooperationsbewegung aufzurufen. Das heißt, die Hauptforderung verlagerte sich von einer auf Quoten beschränkten Reform auf das gesamte politische Regime.

Sonntag, der 4. August, war der bisher tödlichste Tag. Jugendliche rissen Dutzende von Statuen des „Nationalhelden“ Scheich Mujibur nieder und überschwemmten die Straßen von Dhaka und anderen Städten, die Chhatra-Liga überschwemmte die sozialen Medien mit Drohungen, und am Nachmittag dieses Tages waren die wichtigsten Straßenecken der Stadt von ihren Lieferwagen und Gewehren besetzt. Bei den Zusammenstößen im ganzen Land starben schließlich 94 Menschen.

Trotz der Zahl der Toten provozierte Hasina weiter: Auf einer Pressekonferenz bezeichnete sie die Demonstrant:innen als „Terroristen, die die Nation destabilisieren wollen“, und sagte, dass „man mit eiserner Faust gegen sie vorgehen müsse“.

Daraufhin zog die Bewegung den „Marsch nach Dhaka“ am Montag auf den Shahbag-Platz vor, um ihrer einzigen Forderung Nachdruck zu verleihen. Gleichzeitig riefen sie zur Bildung von „Protirodh Sangram Komitees“ (Kampf- und Widerstandskomitees) in jedem Viertel und Dorf auf. Diese Methode lehnt sich an die von Studierenden geleiteten Komitees an, die in verschiedenen historischen Momenten des Widerstands gegründet wurden. Die bedeutendsten waren die Komitees, die 1952 für den Gebrauch der bengalischen Sprache in Opposition zum pakistanischen Urdu kämpften, dann während des Unabhängigkeitskriegs 1971 und später beim Sturz der Diktatur 1990. Aus dieser Tradition heraus leisteten sie auch Widerstand gegen die grausamsten Massaker in der Geschichte des Landes.

Fahim Mukarrab von der Jahangirnagar-Universität im Distrikt Savar kommentiert: „Jetzt haben wir einen langen Marsch nach Dhaka ausgerufen und wollen heute [5. August] die Residenz der Premierministerin umzingeln. Es kann alles passieren, mein Freund. Die Situation hier ist jetzt tödlicher als jemals zuvor in der Geschichte unseres Landes.“ Die Aktionen in dieser Woche erreichten einen neuen Höhepunkt, und die Zeitungen sprachen von Millionen Menschen auf den Straßen.

Phase 3: Was nun?

Die Eiserne Lady ist endgültig eingerostet. Am Montagnachmittag, dem 5. August, trat Hasina zurück, verließ Dhaka mit einem Hubschrauber und flog nach Indien. Tausende von Demonstrant:innen überwanden den Zaun ihrer Residenz und besetzten das Regierungsgebäude. Infolge des Machtvakuums bildete Armeechef Waker-Uz-Zaman eine Übergangsregierung, indem er einen Dialog mit den Anführer:innen der politischen Parteien aufnahm. Es kam zu Gesprächen und Dialogen, an denen keine Mitglieder der Awami-Liga teilnahmen. Der Präzedenzfall hierfür war der Januar 2007, als die Armee den Ausnahmezustand verhängte, um die weit verbreiteten Proteste einzudämmen, und eine vom Militär gestützte Übergangsregierung für zwei Jahre einsetzte.

Ausschlaggebend für Hasinas Sturz waren die Textilarbeiter:innen und der Druck der Fabrikant:innen. Weit verbreitete Blockaden, Straßensperren auf wichtigen Routen, Internet- und Kommunikationsausfälle hatten die fragile Textillieferkette, von der 80 Prozent der Exporte des Landes abhängen, schwer getroffen. Der Sektor meldete Verluste in Höhe von 53 Millionen Euro in nur wenigen Tagen. Hunderte von Fabriken schlossen aus Angst vor Vandalismus ihre Tore, mehrere wurden in Brand gesetzt. Sie befürchten auch, dass sich ihre Beschäftigten der Protestbewegung anschließen und die Produktion weiter beeinträchtigen könnten. Der Aktivist Ferdewsi Rahman vom Bangladesh Garment Workers Trade Union Centre (GWTUC) sagte, dass Tausende von Textilarbeiter:innen begonnen hätten, sich den Protesten anzuschließen, an denen sie bereits zusammen mit verschiedenen Sektoren von Künstler:innen, Intellektuellen und Lehrer:innen teilnehmen. Wie eingangs erwähnt, war der Schlüssel zum Ausstieg Hasinas die Einbindung des Textilsektors, der seit 2013 mit Protesten und Streiks bessere Löhne gefordert hatte. Die Zermürbung der Regierung wurde unumkehrbar, als nach dem Ende der Pandemie die Streikbewegung wieder auf die Straße ging.

Der Analyst Michael Kugelman erklärte in Foreign Policy, dass die Proteste das Bild einer unantastbaren Hasina erschütterten. Die ehemalige Premierministerin hatte ihre Regierbarkeit in den vergangenen 15 Jahren auf hohe Wachstumsraten von sechs Prozent pro Jahr gestützt. Dies war vor allem den Textilexporten und Investitionen in den öffentlichen Bau zu verdanken. Doch für ein Land mit 170 Millionen Einwohner:innen, in dem mehr als 50 Prozent in extremer Armut (mit weniger als zwei Euro pro Tag) leben, ist das nicht genug. Verschmutzte Straßen, stark verschmutzte Luft und riesige Flüsse, die vom Himalaya herabfließen, prägen den Alltag der Bangladescher:innen. 

Die makroökonomische Gesamtsituation war bereits düster. Der Internationale Währungsfond hatte ein Programm zur Eindämmung der öffentlichen Ausgaben zusammen mit Reformen für mehr Offenheit und Deregulierung gefordert. Um das Wachstum aufrechtzuerhalten, hatte die Regierung außerdem in großem Umfang Kredite in anderen asiatischen Ländern, vor allem in China und Indien, aufgenommen, wodurch die Wirtschaft anfällig für Währungs- und Marktschwankungen wurde.

Obwohl Hasinas Regierung bereits am seidenen Faden hing, hatte sie kürzlich eine vierte Amtszeit mit einem Stimmenanteil von 40 Prozent gewonnen, dem niedrigsten in der Geschichte des Landes. Angesichts des Verlusts politischer Optionen hat die Bevölkerung ihre Hoffnungen auf einen Wandel durch das derzeitige Wahlsystem enttäuscht. In diesem Zusammenhang erklärt Mumu Balaika, Studentin an der Jahangirnagar-Universität, dass „Hasina seit ihrer Machtübernahme 2009 die Macht in ihrer Person zentralisiert und die Opposition, sowohl Gewerkschafts- als auch Studierendenführer:innen, verfolgt“. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch enthüllt in der Tat schreckliche Zahlen von „Verschwindenlassen“, „außergerichtlichen Tötungen“ und „Folter“. Diese Merkmale waren ausschlaggebend für die wachsende Ablehnung ihrer Regierung.

Die Frage, wie es weitergeht, ist durchaus berechtigt. Hasinas Sturz verdichtet die organische Krise, in der sich das Land befindet. Mit einer schwachen Opposition, die von der Bevölkerung abgelehnt wird, könnten die Studierenden, die heldenhaft gekämpft haben, in Ermangelung einer Organisation und politischen Führung schnell alles verlieren. Dip Ranjan Sarker, der desorientiert auf den Straßen des Bezirks Comilla lebt, sagt: „Wir wissen nicht, wie es weitergeht, wir warten alle darauf, was passieren wird“.

Hasan Ashraf Meethu, Forscher und Dozent am Fachbereich Anthropologie der Universität Jahangirnagar, kommentierte, dass „es nach dem Sturz der Regierung durch die Kraft der Proteste keine klare Alternative gibt“. Er fügte hinzu: „es mag den Ruf nach Neuwahlen geben, aber es gibt keine politische Struktur, die die derzeitige Elite der Awami-Liga und die anderen Parteien ersetzen kann“ und erklärte, dass „es sehr wahrscheinlich ist, dass dies zu einer Militärregierung führen wird, aber das Volk wird das nicht tolerieren“.

Der Sturz Hasinas ist kein Einzelfall in Südasien. Im Jahr 2022 stürzte die Aragalaya-Bewegung die Rajapaksa-Dynastie in Sri Lanka. Im Jahr 2021 führten in Myanmar Textilarbeiterinnen den Widerstand gegen den Militärputsch an. In Thailand waren 2020 die Straßen voll mit jungen Menschen, die in Anspielung auf die drei Forderungen gegen die Vajiralongkorn-Monarchie drei Finger erhoben. Die Situation in Bangladesch ist noch offen, aber ihre Ähnlichkeit mit den oben genannten Prozessen führt uns zu der gleichen Frage: Handelt es sich um eine Revolte oder eine Revolution? „Der Norden ist nicht ganz klar, aber wir wissen, was wir nicht wollen“, sagt Rab Tanjim, ein junger Student aus Manipur nach einem langen Tag auf den Barrikaden, „es waren schreckliche Tage und Nächte, ich habe viele Freunde verloren, aber für uns ist heute der Tag des Sieges“.

Dieser Artikel erschien zunächst am 5. August auf La Izquierda Diario.

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