Wider den Pessimismus! Revolutionärer Bruch statt Überwintern mit der LINKEN

12.08.2023, Lesezeit 35 Min.
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Streik gegen die Inflation und für höhere Löhne in Paris 2022. Foto: O Phil Des Contrastes / Révolution Permanente

Mario Candeias von der Rosa Luxemburg Stiftung prophezeit 10 Jahre Defensive für die deutsche Linke. Wir sehen hingegen Aufwind im europäischen Klassenkampf und neue Chancen für Revolutionär:innen.

Mario Candeias‘ Text versucht etwas, wozu viele Akteur:innen in der LINKEN schon gar nicht mehr in der Lage sind. Er versucht, die Gründe für die Krise der Partei nicht dem jeweils anderen Flügel in die Schuhe zu schieben, sondern sie aus den Entwicklungen des Kapitalismus und den sich wandelnden gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen herzuleiten. Mit seiner Analyse will er in die innerparteiliche Debatte eingreifen und den verfeindeten Fraktionen ein Angebot für eine gemeinsame Erneuerungsbewegung machen, mit der es gelingen soll, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Sein Text wirft einige wichtige Fragen auf, die die gesellschaftliche Linke als Ganzes betreffen, und daher braucht es auch aus einer revolutionär-sozialistischen Perspektive eine eingehende Auseinandersetzung mit seinen Ideen.

Das Ende des Interregnums?

Candeias beginnt seinen Text mit der Behauptung, die krisenhafte Zwischenperiode, die aus dem Bankrott des Neoliberalismus erwachsen ist, sei nun vorbei. Es bilde sich ein neuer „hegemonialer Entwicklungspfad“ heraus und “viele Alternativen seien bereits verschlossen”. Das Möglichkeitsfenster für die gesellschaftliche Linke, welches durch die Bewegung gegen die „Agenda 2010“ und die Finanzkrise 2008/9 aufgestoßen wurde, würde sich nun schließen und die Linke müsse nun überwintern. Es sei ein neuer, mehr oder weniger stabiler, grün-liberaler Machtblock installiert worden, das Kapital habe damit die Möglichkeit, seine Akkumulationskrise zu lösen und einen tragfähigen neuen Weg einzuschlagen, der relatives Wachstum und Profite verspricht. Die nähere Zukunft sei nun geprägt von „Varieties of Green Capitalism“ (Spielarten des grünen Kapitalismus) und diese würden möglicherweise neben neuen Anlagemöglichkeiten für das rastlose Kapital auch Verbesserung in Richtung eines klimaneutralen Umbaus bedeuten. Auch wenn Candeias richtigerweise betont, dass dieser Umbau viel zu spät käme, um das 1,5 Grad-Ziel noch zu erreichen. Als Vorreiter eines solchen beginnenden Umbaus nennt er z.B. China, aber auch zunehmend die EU (These 1 u. 2).

Dabei erwähnt er auch, dass diese Möglichkeit vornehmlich den hochentwickelten kapitalistischen Ländern vorbehalten sein wird und diese sich besser auf die Folgen der Klimakrise vorbereiten können, während der Rest der Welt sich selbst überlassen werde. Es würde eine noch verschärfte Situation des „gated Capitalism“ (abgeriegelter Kapitalismus) entstehen (These 6). All dies würde „überlagert werden“ durch eine neue Blockkonfrontation zwischen den USA und China, die in Zukunft geführt werden würde, „um die globale Führung in der neuen Entwicklungsperiode hin zu einem hochtechnologischen und aufgerüsteten grünen Kapitalismus“ (These 3).

Dem hegemonialen Entwicklungsweg, so Candeias weiter, stehe in den zentralen Industriestaaten der radikale „Fossilismus“ gegenüber, verkörpert durch die internationale Rechte von Trump, LePen, Höcke, Bolsonaro, Meloni, etc. Diese würde von der gesellschaftlichen Polarisierung profitieren und habe ein „großes Destruktionspotenzial“. Doch prophezeit er dieser Gegenbewegung eine mittelfristige Niederlage, sie habe schließlich, im Unterschied zu ihren grün-liberalen Konkurrenten, keine produktive Perspektive für das Kapital anzubieten (These 4). „Fossilistisch“ regierte Staaten in der Peripherie, wie Ungarn, Polen oder Russland, hätten langfristig keine andere Wahl, als sich den Vorreitern des grünen Kapitalismus unterzuordnen.

Hat Candeias mit diesen grundlegenden Annahmen recht? Ist das offene Fenster einer krisengebeutelten Übergangsperiode wirklich bereits geschlossen, hat die herrschende Klasse ihre innere Krise schon überwunden und den Widerspruch in Richtung eines grünen Kapitalismus aufgelöst? Von dieser Frage hängen alle weiteren Annahmen, die der Text macht, ab und genau hier würden wir widersprechen. Und zwar nicht nur analytisch, wie wir im Anschluss aufzeigen werden, sondern auch bei den politischen Schlussfolgerungen. Denn Candeias schließt aus seiner Analyse, dass die Linke (nicht nur die Linkspartei, sondern die gesellschaftliche Linke insgesamt) einen geordneten Rückzug antreten müsse: „für mindestens ein Jahrzehnt“ werde sie nun in die Defensive gezwungen werden (These 9). Doch wie wir in den folgenden Zeilen nachweisen wollen, ist die Krise der neoliberalen Hegemonie keinesfalls überwunden. Im Gegenteil verschärfen sich die Widersprüche zwischen den Großmächten, sodass sich die Tendenzen nicht nur zu Krisen und Kriegen, sondern potenziell auch zu Revolutionen (Lenin) wieder erneuern – mit anderen Worten: nicht der Rückzug, sondern die Vorbereitung der Offensive steht nun auf dem Programm.

Eine neue imperialistische Etappe

Der Kapitalismus erlebte seine letzte relative Stabilisierung nach dem Zerfall der degenerierten und deformierten Arbeiter:innenstaaten in Osteuropa und der bürokratischen Wiedereinführung des Kapitalismus in der Volksrepublik China. Diese Phase, die im „Westen“ mit der Durchsetzung des Neoliberalismus einherging, nennen wir die Etappe der bürgerlichen Restauration. Sie war geprägt durch die Hegemonie des US-Imperialismus und der Erschließung großer neuer Märkte außerhalb der bis dato bestehenden Grenzen des Kapitals. Diese Expansion nach außen ging mit der Pulverisierung der gesellschaftlichen Linken im Inneren einher. Spätestens seit der großen Finanzkrise 2008/9 erleben wir aber, dass die Erschöpfung dieses neoliberalen Akkumulationsregimes eingetreten ist. Eine Art „creeping crisis“ stellte sich ein: niedriges Wirtschaftswachstum, stagnierende Produktivitätsentwicklung und niedrige Profitraten belasten seitdem die Weltwirtschaft. Dazu kam der relative Abstieg des US-Imperialismus, insbesondere seit dem Afghanistankrieg, und der rasante Aufstieg des chinesischen Kapitalismus, der nun seinen „rechtmäßigen“ Platz unter den traditionellen Großmächten einfordert. Es entstehen neue Bruchlinien im Weltmarkt und zunehmend zwischenstaatliche Konflikte um Einflusssphären, Ressourcen und Märkte.

Auffällig ist, dass diese zunehmende imperialistische Konkurrenz bei Candeias außerhalb der These 3 nur am Rande vorkommt. Sie scheint für ihn nicht zentraler Dreh- und Angelpunkt der Bestimmung des gegenwärtigen Zustandes und der Entwicklungsrichtung des Kapitalismus zu sein. Die neue Blockkonfrontation würde die eigentliche ökonomische und politische Entwicklung nur „überlagern“. Tatsächlich findet die Entwicklung des modernen Kapitalismus aber niemals getrennt von (oder lediglich überlagert durch) den Imperialismus statt, sondern der Imperialismus ist selbst der Modus der Entwicklung moderner bürgerlicher Gesellschaften. Diese können also nur durch eine Analyse der gegenwärtigen imperialistischen Etappe begriffen werden. Wie Unternehmen auf Märkten in einem anarchischen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, so auch die Nationalstaaten untereinander. Mittelfristige klimapolitische Fragen werden diesen unmittelbaren Zwängen immer untergeordnet werden. Dabei gibt es eine ungleiche Konzentration von ökonomischer und politischer Macht in den Händen weniger imperialistischer Zentren, während der Rest der Welt in unterschiedlichem Maße in den Orbit dieser Zentren gerät, ob als „subalterne Verbündete“ wie Russland unter China oder als Kolonien und Halbkolonien wie (bis vor Kurzem) Niger unter Frankreich. Der Krieg erwächst schließlich, mit Candeias’ Vokabular gesprochen, aus der zunehmenden „Schließung der Welt“, der Zuspitzung dieser zwischenstaatlichen Widersprüche und ist daher keineswegs ein außerökonomisches Phänomen, welches getrost bei einer Analyse der Situation an den Rand gestellt werden kann, sondern er folgt direkt aus der inneren Dynamik des Weltkapitalismus und ist gleichzeitig Ausdruck seiner tiefen inneren Krise. Aber Kriege beanspruchen nicht nur gewaltige Mengen an Ressourcen und wirken der rechtzeitigen Erfüllung von Klimazielen entgegen, sie polarisieren auch diejenigen Gesellschaften, die direkt oder indirekt an ihnen beteiligt sind, scharf anhand ihrer inneren Klassenspaltung. Historisch gingen daher die meisten Revolutionen aus vorangegangenen Kriegen hervor.

Es scheint so, als würde Candeias die „Schließung der Welt“ bereits als abgeschlossenen Fakt betrachten, obwohl dieser Prozess gerade erst in seinen Anfängen steckt. Er schreibt: „Länder, die nicht zwischen den Blöcken zerrieben und im Staatszerfall enden wollen, werden sich früher oder später einem der Blöcke zuordnen müssen.“ (These 6). Damit greift er die vollentwickelte multipolare Weltordnung vorweg und benutzt dies dann als Argument, um seinen politischen Pessimismus zu rechtfertigen. Aber die Welt ist noch nicht in einer Situation wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg – China ist noch lange kein ebenbürtiger Gegner der USA und die Kapitalströme aus den imperialen Zentren haben die Welt noch lange nicht vollständig unter sich aufgeteilt. Viele Länder balancieren auf diesen Widersprüchen und machen Geschäfte mit den USA und auch mit China. Und im Niger zeigte sich kürzlich, wie fragil das imperiale System ist, wie schnell sich die geopolitische Dynamik ändert und mit ihr die Bündnisse und Blockzugehörigkeiten. Diese Dynamik und die zunehmende Instabilität der Vormachtstellung der USA kündigen nicht etwa die Schließung der Welt, sondern ihre gewaltsame Umordnung an. Ein Prozess, der mit Candeias‘ Annahmen nicht übereinstimmt.

Heute ist der schärfste Ausdruck dieser Entwicklungen der Stellungskrieg in der Ukraine, in dem sich die (noch) hegemonialen USA und ihre europäischen Verbündeten auf der einen Seite und das schwächere Russland auf der anderen Seite einen Krieg um die Aufteilung Osteuropas liefern. Wie Matías Maiello und Emilio Albamonte in ihren Thesen „Jenseits der bürgerlichen Restauration“ argumentieren, unterscheidet sich der Ukraine-Krieg „von allen Kriegen der letzten drei Jahrzehnte und markiert den Beginn der offenen (auch militärischen) Infragestellung der seit der ‚bürgerlichen Restauration‘ etablierten Weltordnung.“ Sie folgern, „dass Krisen, der Militarismus der Großmächte sowie Tendenzen zur Revolution und Konterrevolution nicht nur in die Logik der historischen (imperialistischen) Epoche, sondern auch in die [gegenwärtige] Etappe eingeschrieben sind“.

Candeias erwähnt diesen Krieg bezeichnenderweise nur ein einziges Mal und das auch nur am Rande (These 10). Auch in seinen Thesen zum LINKE-Sanierungsprojekt, taucht der Krieg nicht prominent auf. Er will lediglich für eine „friedenspolitisch neu profilierte linke Partei“, eine „Friedenspartei mit sozialistischer Perspektive“ (These 14) eintreten. Er versucht, sich damit hinter einer möglichst schwammigen Formulierung zu verstecken, um für möglichst viele Teile der Partei, d.h. auch für die NATO-Freunde, salonfähig zu bleiben. Er erkennt zwar die Gefahr, dass die Abspaltung der Wagenknechtler:innen in der Rest-LINKEN zu einer stärkeren Dominanz dieses „transatlantisch sozialliberalen“ Flügels führen würde (These 10), scheut sich aber im Interesse der Einheit mit ihnen vor einer offeneren Kritik. Diese Kritik wäre aber sehr wohl angebracht, denn ein vollständiges Einschwenken der LINKEN auf NATO-Linie würde für die Partei einen weiteren Sprung in der Unterordnung unter die Interessen des imperialistischen deutschen Kapitals bedeuten. Das wäre natürlich nichts neues, solch eine Entwicklung kündigt sich bereits seit längerem an: Der rechte Flügel der Partei mit Bartsch und Lederer spricht sich öffentlich für Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Einige Ausreißer unter ihnen fordern sogar die Wiedereinführung der Wehrpflicht (Ramelow). Das Zentrum der Partei mit der Bewegungslinken und ihrem Umfeld ist innerlich zur Frage von Waffenlieferungen gespalten und daher ebenfalls kein zuverlässiger Partner bei außenpolitischen Fragen. Die LINKE insgesamt unterstützt schon seit Beginn des Krieges in der Ukraine den deutschen Wirtschaftskrieg gegen Russland, indem sie für bestimmte (zivile) Sanktionen wirbt. Und man denke zurück an die zwei großen friedenspolitischen Bankrotterklärungen der letzten Jahre: das Abstimmungsverhalten der Linksfraktion im Bundestag zu den als „Rettungsmissionen“ getarnten Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Afghanistan im August 2021 und im Sudan im April diesen Jahres. Im ersten Fall stimmte die Fraktion nach langer interner Diskussion gemischt ab, mehrheitlich wurde sich jedoch enthalten. Während sie im zweiten Fall ganz auf Regierungslinie einschwenkte und das erste Mal in ihrer Geschichte dem Einsatz der Bundeswehr im Ausland geschlossen zustimmte. Die Möglichkeit, dass die LINKE hunderttausende weiterer Wähler:innen aus dem friedensbewegten Spektrum an eine neue Wagenknechtpartei verlieren könnte, ist daher durchaus realistisch. Aber diese für die Partei lebensbedrohliche Gefahr ist hausgemacht und man könnte ihr nur begegnen, wenn man in offene Opposition gegen diejenigen Teile der Partei geht, die diesen transatlantischen Kurs einschlagen wollen. Etwas, was Candeias hier schuldig bleibt.

Die Hegemonie des grünen Kapitalismus?

Vor dem Hintergrund der verschärften weltweiten Krisentendenzen gewann auch die Klimakrise an enormer Schärfe, denn über 50 Prozent der jemals von der Menschheit emittierten Treibhausgase wurden nach 1990 ausgestoßen und so schrumpft seither das Zeitfenster für die Erreichung auch nur einigermaßen kontrollierbarer Klimaziele immer schneller und verschärft alle oben genannten Dynamiken. Die Klimakrise ist nun zwar in aller Munde, aber bisher hat der globale Kapitalismus keinerlei Anstalten gemacht, dieser Menschheitskrise auch nur irgendetwas Tragfähiges entgegenzusetzen. Statt den Treibhausgasausstoß zügig zu senken, erleben wir weiterhin weltweit, unverändert, einen jährlichen Anstieg der Emissionen um etwa ein Prozent. Ein Trend, der nur unterbrochen wurde von globalen Wirtschaftskrisen. Die Regierungen in den imperialistischen Zentren haben bisher kein Programm vorlegen können, welches die Aussicht hätte, diese Tendenzen wirksam umzukehren, bevor für die menschliche Zivilisation lebensbedrohliche Kipppunkte überschritten werden und die sich selbst verstärkende Klimakrise Zerstörungen hervorrufen wird, die alle Vorstellungskraft übersteigen.

Der innere Kampf, den die Bourgeoisie in den westlichen imperialistischen Staaten seit Jahrzehnten führt, sei laut Candeias nun aber bereits entschieden. Die an den strategisch wertschöpfenden Positionen in der Volkswirtschaft verankerten fossilen Industrien und ihre politischen Interessenvertreter auf der Rechten seien zwar gefährlich, würden dem hegemonialen Projekt eines grünen Kapitalismus aber nicht langfristig im Wege stehen können. Hätten wir dann aber nicht als Folge einer entschiedenen Verlagerung der staatlichen Industrie- und Subventionspolitik in Richtung des erneuerbaren Sektors zumindest eine moderat wachsende Wirtschaft und steigende Profitraten beobachten können?

Ja, das hätten wir. Genau dies wären nämlich die Indikatoren, die den Beginn eines neuen Akkumulationszyklus ankündigen würden. Doch eine solche relative wirtschaftliche Dynamik, die auch zu Beginn der bürgerlichen Restauration in den 90er Jahren beobachtet werden konnte, ist heute vollkommen abwesend. Die Anleger:innen fliehen nicht etwa aus der Kohle und aus dem Gas in erneuerbare Sektoren, stattdessen klettern die Profite der fossilen Energiekonzerne weiter in absurde Höhen und die fossilen Industrien, allen voran die Autoindustrie, behaupten mit zusammengebissenen Zähnen weiterhin ihre Position und werden auch weiterhin von staatlichen Geldern überschüttet. Überall auf der Welt werden unter der Regie der Regierungen neue Kohle- und Atomkraftwerke gebaut und neue Ölquellen angezapft. In Deutschland wird Lützerath zugunsten der Kohle abgerissen, es werden als Folge des Krieges in der Ukraine die Laufzeiten der Kohlekraftwerke verlängert und Flüssiggas aus anderen Ländern importiert. Zusätzlich findet die Wirtschaft nicht aus ihrer „creeping crisis“ heraus, im Gegenteil: Heute wächst sie nicht mehr nur auf niedrigem Niveau, sondern schrumpft sogar! Nebenbei werden riesige Mengen gesellschaftlichen Reichtums in zerstörerische und umweltschädliche Waffen fließen. Es gibt ohne Zweifel einen wachsenden Druck auf die Ökonomie, sich ökologisch umzustellen – das äußert sich in Tendenzen hin zu E-Autos oder dem langsamen Ausbau von erneuerbaren Energien –, doch versprechen auch diese Initiativen vorerst keine unmittelbare Verringerung des Treibhausgasausstoßes. Im Falle der E-Auto-Industrie sogar nur eine Verlagerung des Ausstoßes auf die sehr teure und umweltschädliche Produktion von Lithium-Batterien.

In der Sphäre der Politik, also der „konzentrierten Ökonomie“ (Lenin), ist ebenfalls eine völlig andere Dynamik zu erkennen, als Candeias‘ Annahmen sie vorhersagen würden. Die Ampelregierung ist zwar angetreten als grün-liberale „Fortschrittskoalition“, scheitert aber seitdem an jedem ihrer „klimapolitischen“ Projekte, muss immer wieder vor der fossilen Lobby einknicken und vor der Gefahr von rechts zurückweichen und rückt dabei selber immer weiter nach rechts. Ein Phänomen, welches wir bei der Debatte um die Heizungswende erlebt haben. Die Ampel ist auf ihrem Umfragetief und AfD und die neue CDU unter Merz machen sich bereit, den radikalen Fossilismus in Deutschland an die Regierung zu heben. In den USA liefern sich Biden und Trump ein Kopf-an-Kopf-Rennen. In Brasilien ist Bolsonaro nur haarscharf aus dem Amt gewählt worden. In Frankreich stehen sich zwei ungefähr gleich starke Spielarten des Fossilismus, LePen und Macron, gegenüber. In Italien, Ungarn, Polen, etc. ist der Fossilismus hegemonial und radikalisiert sich weiter. In Spanien konnte die bankrotte sozialdemokratische Regierung unter Beteiligung von Podemos nur knapp dem Untergang entgehen. In England gibt es interessanterweise gerade eine Entwicklung in die andere Richtung: die Tories an der Regierung sind diskreditiert und eine grün-liberale Koalition mit Labour an der Spitze befindet sich im Wartestand. Wie viel Spielraum sie haben wird, bleibt abzuwarten, doch wird ihre Politik wie die ihrer Vorgängerin voraussichtlich stark mit den bisher unüberwundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Brexits zu kämpfen haben.

Die Widersprüche innerhalb der westlichen herrschenden Klassen sind also keineswegs bereits überwunden, im Gegenteil, der Ausgang dieser Auseinandersetzungen ist von der Geschichte noch nicht entschieden und daher kann von einem neuen stabilen Akkumulationsregime auch bisher keine Rede sein. Möglicherweise könnte Candeias recht behalten in der Voraussage der generellen Entwicklungsrichtung hin zu einer neuen Epoche des „grünen“ Kapitalismus, aber bereits jetzt vom Abschluss dieses widersprüchlichen „Interregnums“ zu sprechen, wäre verfrüht. Es ist ja noch nicht mal entschieden, welche Großmacht die neue Epoche anführen wird. Im Gegenteil: Die Verschärfung der Widersprüche zwischen den Großmächten werden Kriege wie den in der Ukraine nur noch häufiger werden lassen, was zur Vertiefung der weltweiten Krisentendenzen führen wird. In diesen – auch militärischen – Auseinandersetzungen wird das Schicksal des „grünen Kapitalismus“ mit bestimmt, mit noch ungewissem Ausgang. Wir befinden uns tatsächlich mitten im Umwälzungsprozess und diese Erkenntnis hat große Auswirkungen auf unsere Einschätzung der Möglichkeiten der gesellschaftlichen Linken in den kommenden Jahren.

Defensive für die Linke?

Aus der These, dass die „offene Situation“, das „Interregnum“ bereits größtenteils geschlossen sei, schlussfolgerte Candeias die Notwendigkeit eines Rückzugs in die Defensive. Auch wenn hier und da schwammig von einem „Potenzial des Widerstands“ (These 8) oder gewissen „Solidaritätsinitiativen“, die ein „neues inklusives WIR“ ermöglichen, oder gar von „Enklaven eines rebellischen Regierens“ (These 11) gesprochen wird, ist die Hauptthese von Candeias doch unverkennbar: „Sie [die gesellschaftliche Linke] wird nicht untergehen, aber sie wird für mindestens ein Jahrzehnt oder länger eine defensive Position einnehmen und kaum Gestaltungsraum haben.“ (These 9) Auch wenn man die „Hoffnung auf […] einen erneuerten Sozialismus“ nicht aufgeben dürfe, gehe es für die Linke nun vorerst nur noch  darum, „Inseln des Überlebens“ zu erschaffen (These 11).

Es wäre verkürzt, diese Schlussfolgerung nur als rationale Reaktion auf Candeias’ Analyse der objektiven Verhältnisse zu interpretieren. Vielmehr ist Candeias‘ Text von einem tiefliegenden Pessimismus durchzogen. Ein Pessimismus, der in den Widersprüchen und Krisen des Kapitalismus allein bedrohliche und zerstörerische Aspekte sehen kann, der aber ausblendet, dass die Epoche der Krise einer überkommenen Gesellschaft auch die Epoche der sozialen Revolution für eine neue, eine befreite Gesellschaft ist.

Daraus spricht sowohl seine (völlig illusionäre) Hoffnung, dass ein „linkes Regieren“ im Kapitalismus dieser historischen Entwicklungstendenz etwas Substanzielles entgegenzusetzen hätte, als auch seine Geringschätzung des Potenzials der Arbeiter:innenklasse. Candeias, wie viele andere Teile der LINKEN, ist dermaßen demoralisiert, dass er die Arbeiter:innenklasse als historisch wirkmächtiges Subjekt im Prinzip aufgegeben hat. In seinem Text erhält die Arbeiter:innenbewegung, wie wir weiter unten noch genauer sehen werden, nur insofern Aufmerksamkeit, als sie das Potenzial bietet, einer schwächelnden Partei neue Wähler:innen zu verschaffen. Die Möglichkeit der Selbstemanzipation im Klassenkampf scheint hinter seinem Denkhorizont zu liegen. Dieser Zynismus ist heute in der reformorientierten Linken typisch, doch entbehrt er jeder wissenschaftlichen Grundlage. Die Arbeiter:innenklasse befindet sich zwar heute noch in einer tiefen Subjektivitätskrise, jedoch muss man blind sein, um zu verkennen, dass nicht nur die Krise des Neoliberalismus seit 2008/9, sondern insbesondere auch die Wirtschaftskrise im Kontext des Ukrainekriegs zu neuen Ausbrüchen des Klassenkampfes geführt haben, die für Revolutionär:innen enorme Potenziale haben.

Gerade der Krieg in der Ukraine hat zwar auf der einen Seite große wirtschaftliche Konsequenzen, die sich auf ganz Europa auswirken und sorgen für einen sinkenden Lebensstandard und die Verschärfung der Klimakrise, aber er rief auch die Arbeiter:innenbewegung zurück auf den Plan. Vor allem in Frankreich und England entluden sich diese Widersprüche in den größten Streikbewegungen seit Beginn der bürgerlichen Restauration. Auch in Deutschland kehrte sich die Jahrzehnte währende Dynamik schrumpfender Gewerkschaften und Klassenkämpfen auf sehr niedrigem Niveau, innerhalb von nur ein paar Monaten um und die Gewerkschaften verzeichneten binnen kürzester Zeit historische Mitgliedergewinne. Dies ist ein Zeichen dafür, dass wir keineswegs in ruhigeres Fahrwasser steuern. Die Hegemonie der herrschenden Klasse ist nicht etwa wiederhergestellt, sondern befindet sich weiterhin in der Krise. Den Krieg in der Ukraine versuchte sie innenpolitisch zwar zu nutzen, um einen nationalen Burgfrieden zu schließen, sie musste aber bald feststellen, das bedeutende Teile der deutschen Bevölkerung nicht den gleichen kriegsgeifernden, nationalistischen Eifer zeigen, wie sie selbst, im Gegenteil: Die Unzufriedenheit mit Sanktionen und Waffenlieferungen ist merklich. Diese Unzufriedenheit konnte bisher allerdings vor allem durch die Rechte aufgegriffen, mit rassistischen Parolen verbunden und so verdreht werden. Trotzdem polarisiert der Krieg die deutsche Gesellschaft und die Bedingungen für größere Bewegungen beginnen heranzureifen.

Die Situation für die gesellschaftliche Linke ist deshalb längst nicht so düster, wie es sich Candeias ausmalt und wird sich in den kommenden Jahren nicht etwa allgemein verschlechtern, sondern könnte sich – wie man in Frankreich, Großbritannien und auch auf niedrigerem Niveau in Deutschland momentan erkennen kann –, sogar um einiges verbessern. Die Wiederbelebung einer streikerfahrenen und selbsttätigen Arbeiter:innenbewegung mit zunehmend aktiven gewerkschaftlichen Betriebsgruppen mit vielversprechenden Ansätzen von Arbeiter:innendemokratie und Selbstorganisation, eröffnet für die gesellschaftliche Linke im betrieblichen Rahmen neue, ihr bis dato mehr oder weniger verschlossene Räume und ermöglicht eine schrittweise Verankerung sozialistischer Ideen in der lebendigen Bewegung. In Frankreich stimmten beispielsweise Kolleg:innen in Energie, Entsorgung und Verkehr selbst über die Verlängerung von Streiks und Blockaden ab – und widersetzten sich damit den bremsenden Bürokratien der Gewerkschaften. In Deutschland beobachten wir Ansätze von Streikdemokratie, etwa bei bei Betriebsversammlungen der Häfen im vergangenen Jahr, bei den Versammlungen der Berliner Streikdelegierten im öffentlichen Dienst oder den Lehrer:innen, bei denen hunderte Kolleg:innen über die Fortführung von Streiks abstimmten.

Candeias scheint selbst zu bemerken, dass sein Plädoyer zur Defensive im Widerspruch zur sich verändernden Realität des Klassenkampfes steht. So kann auch er nicht umhin, auf die Streikbewegungen in Frankreich, Spanien, Großbritannien und auch Deutschland hinzuweisen, und schreibt: „Das insgesamt höhere Niveau von Krisen und Katastrophen bildet vielmehr die Grundlage dafür, dass aus kleinen generischen Krisen schnell größere werden können und Kämpfe sich verdichten.“ (These 12)

Bei Candeias wächst daraus aber kein Optimismus, denn: „Und doch scheitern diese Aufbrüche an den soliden Mauern der Institutionen.“ (ebd.) Allein die Frage bleibt offen, warum das der Fall ist. Nehmen wir beispielsweise die mächtigen Streikbewegungen in Frankreich in den vergangenen Monaten: Angesichts einer autoritären Rentenreform mobilisierten monatelang Millionen Arbeiter:innen gegen die Regierung. Die kämpferischsten Sektoren der Bewegung trieben Streiks voran, die von den Belegschaften jederzeit verlängert werden konnten. Sie forderten die Verbindung des Kampfes gegen die Rentenreform mit dem Kampf für höhere Löhne und die Einbeziehung der prekärsten Teile der Arbeiter:innenklasse und der Jugend in Richtung eines Generalstreiks. In der Zwischenzeit organisierten die Gewerkschaftsführungen der Intersyndicale den langsamen Tod der Bewegung. Weit voneinander entfernte Aktionstage, leere Appelle, Hinterzimmerverhandlungen mit der Regierung und die Verweigerung jeglicher Forderung, die über die Rentenreform hinaus ging, konnten keine tragfähige Strategie gegenüber einer verhärteten Regierung und ihrer Repression bieten. So waren es nicht einfach die mobilisierten Massen, die an den „Mauern der Institutionen“ scheiterten, sondern die Führungen der Gewerkschaften und ihr politisches Pendant in Jean-Luc Mélenchons „La France Insoumise“ lenkten die Massenmobilsierungen in einen – völlig fruchtlosen – institutionellen Weg.

Doch von der Bürokratie und ihrem zwanghaften Festhalten an der Vermittlung mit der Regierung schweigt Candeias. So bietet er auch keinerlei Lösungsansatz, außer „bestehende Organisationen […] nicht leichtfertig aufs Spiel“ zu setzen. (These 14) Der Linkspartei verschreibt Candeias eine „programmatische Erneuerung und ein Signal des Aufbruchs“. Auf den Wagenknechtflügel müsse man keine Rücksicht mehr nehmen, denn die „Post-Wagenknecht-Situation“ bestehe bereits, womit „blockierte Richtungsentscheidungen“ aufgelöst werden könnten.

Mit Richtungsentscheidungen meint Candeias jedoch nicht einen Bruch mit der Perspektive der Regierungsbeteiligung um jeden Preis – tatsächlich spielt diese Frage für Candeias überhaupt keine Rolle – oder eine tatsächliche Orientierung auf aufstrebende Klassenkampfphänomene, sondern nur einen erneuerten Parlamentarismus: eine neue Wahlstrategie, die einerseits Nichtwähler:innen anspreche und andererseits enttäuschte SPD- und Grünen-Wähler:innen sowie Tierschutzpartei, Urbane, Klimaliste oder Volt anziehe. Candeias‘ Traum einer „disruptiven Neugründung“ der Partei (These 15) entpuppt sich also bei näherem Hinsehen nur als Rennen um „entscheidende 0,5 Prozentpunkte“ (These 14).

Dass die LINKE und ihre Anhängsel von der Klassenkampfdynamik, die ihre ersten Schockwellen über den Kontinent gesendet hat, nicht profitieren, liegt nicht etwa an der Übermacht der restaurierten bürgerlichen Hegemonie, wie Candeias uns glauben machen will. Es liegt an dem Widerspruch, dass die LINKE auf Landesebene in mehreren „Vorzeigeprojekten“ ihren Wähler:innen bereits gezeigt hat, dass sie selbst Ambitionen hat, an der Seite von SPD und Grünen in den neuen grün-liberalen Machtblock aufzusteigen – oder sogar mit der CDU (Ramelow). Noch weniger als die „anti-neoliberalen“ Vorzeigeprojekte wie Syriza oder Podemos, die selbst in Rekordgeschwindigkeit ihre Kapitulation vor den Interessen des Kapitals erklärt haben, war DIE LINKE je ernsthaft ein Projekt für den Aufbau einer klassenbasierten Gegenmacht. Obwohl DIE LINKE in ihrer heutigen Form zum Teil aus den Protesten gegen die rot-grüne Agenda 2010 erwuchs, war sie zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz eine Regierungspartei, die eben jene Agenda 2010 mit umsetzte. Candeias und alle anderen Theoretiker:innen der Linkspartei haben die Regierungsbeteiligungen der LINKEN immer wieder mit einer Perspektive der „rebellischen Regierung“ zu beschönigen versucht – auch in seinen „15 Thesen“ spricht Candeias davon, dass man sich auf  „Enklaven rebellischen Regierens“ zurückziehen müsse, als wenn die Landesregierungen eine sozialistische Oppositionspolitik ermöglichen würden.

Genau diese Illusion strömt aus jeder Pore von Candeias‘ Text. Wenn es nur aufzuzeigen gelänge, dass an einzelnen Orten ein „rebellisches Regieren“ möglich sei, könne man „eine Perspektive offen […] halten, die auf ein Ende des Kapitalismus und auf eine solidarische Gesellschaft hinarbeitet“. Die Wahrheit ist genau das Gegenteil: DIE LINKE verliert Wähler:innen, weil diese durch die vergangenen Erfahrungen mit Regierungen unter Beteiligung der LINKEN mittlerweile verstanden haben, dass diese Partei an der Regierung keine Verbesserung gegenüber dem restlichen kapitalistischen Status Quo darstellen kann.

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass aus dieser Erkenntnis automatisch eine Radikalisierung nach links entsteht. Das erkennt man leicht an den aktuellen Wahlumfragen, in denen die AfD als vermeintliche Oppositionspartei gegen das Establishment Schritt für Schritt zur zweitstärksten (bundesweit) bzw. stärksten (in mehreren ostdeutschen Bundesländern) Partei aufgestiegen ist – gerade auch in Thüringen, wo DIE LINKE den Ministerpräsidenten stellt. Die Politik der LINKEN in Landesregierungen, wie in Thüringen, hat selbst einen Anteil am Aufstieg der Rechten. Indem sie mit SPD und Grünen die kapitalistische Misere mitverwaltet und selbst für den Ausbau der Polizei, für Abschiebungen, Privatisierungen etc. verantwortlich ist, fällt sie als widerständige Kraft aus und drängt Menschen in Richtung der einzigen Partei, die von sich selbst noch behaupten kann, (noch) nicht Teil des bestehenden Machtblocks zu sein, der AfD. Dabei helfen die rassistischen und flüchtlingsfeindlichen Aussagen einer Sahra Wagenknecht und ihrer Verbündeten dabei, diese Dynamik noch zu verstärken. Als Antwort auf den Aufstieg der Rechten fällt der LINKEN nichts weiter ein, als sich noch enger an den grün-liberalen Machtblock zu ketten, was diesen Teufelskreis nur noch weiter verstärkt, anstatt aus der Opposition heraus eine Bewegung sowohl gegen die bestehende, immer weiter nach rechts rückende Regierung, als auch gegen die AfD anzuführen und damit eine sichtbaren Pol zu schaffen, der dem Rassismus der AfD und dem Rassismus der Regierung in aller Glaubwürdigkeit entgegentreten kann. Eine Politik des „geringeren Übels“ und der „Vereinigung aller demokratischer Kräfte“, wie sie zur Zeit von fast allen Teilen der LINKEN gegen den Aufstieg der AfD vorgeschlagen wird, hat historisch immer zur letztendlichen Stärkung der Rechten geführt und nebenbei die Arbeiter:innenklasse zum passiven Nachtraben hinter dem „progressiven“ Bürgertum verdammt.

Man erkennt die zunehmende Desillusionierung mit dem Projekt einer Regierungslinken auch an den wachsenden Nichtwähler:innenzahlen, die eine zunehmende Repräsentationskrise des bundesrepublikanischen Regimes andeuten. Ohne einen radikalen Bruch mit Programm, Strategie und Apparat der Linkspartei wird es unmöglich sein, diese Sektoren für ein sozialistisches Programm zu gewinnen.

Candeias‘ Pessimismus gegenüber der gesellschaftlichen Situation und seine Unfähigkeit, über ein defensives Überwintern der Linkspartei hinauszudenken, spricht nicht nur Bände über die Perspektivlosigkeit der Partei DIE LINKE. Sie ist durchaus ein Abbild einer Stimmung in der gesellschaftlichen Linken insgesamt, die angesichts des Aufstiegs der AfD und der immer weiteren Rechtsverschiebung der Ampel als einzigen Hoffnungsschimmer auf die Linkspartei blickt – und angesichts ihres unaufhaltsamen Niedergangs entmutigt ist.

Gleichwohl gibt es auch aus den „eigenen“ Reihen Widerspruch. In der August-Ausgabe der Zeitschrift Luxemburg, in der zuvor Candeias‘ 15 Thesen veröffentlicht worden waren, antwortet Jacobin-Redakteurin Ines Schwerdtner mit einer Kampfansage: „Wir leben in keiner offenen Situation mehr? Aber natürlich!“ Viele von Schwerdtners Kritiken an Candeias‘ Analyse, dass das „Interregnum“ schon geschlossen sei, können wir teilen. Ihre Schlussfolgerung ist letzten Endes aber nichts anderes als die Kehrseite von Candeias‘ Pessimismus: Als notorische R2G-Optimistin besteht Schwerdtners Programm darin, „für einen eingreifenden, sozialen Staat zu kämpfen“, wobei die „Mitte zwischen den beiden Polen [innerhalb der LINKEN] unbedingt erhalten werden und sich womöglich klassenpolitisch auch neu aufstellen“ müsse. Und weiter: „Die Idee einer disruptiven Neugründung schüttet das Kind mit dem Bade aus, weil sie die Spaltung für unumgänglich erklärt und aus der akuten Schwäche der Partei die Notwendigkeit ableitet, die Dinge ganz anders zu machen. […] Die notwendige Verjüngung und die Erneuerung muss aber nicht bedeuten, Grundauffassungen der Parteiform, der Programmatik oder der eigenen Traditionen für ein Nebeneinander von Interessen zu verwerfen.“ Anders gesagt: Die Linkspartei müsse weiter zusammenhalten, komme was wolle. Candeias‘ Perspektive eines – wiewohl sehr begrenzten – Neustarts der LINKEN ist für Schwerdtner schon zu radikal. Schwertner steht in diesem Punkt viel weiter rechts von Candeias und ihre Vorschläge bezüglich der Partei haben noch weniger Aussicht auf Erfolg.

Einzig an einer These Schwerdtners können wir für unser Argument einhaken: „Der systematische gesellschaftliche Machterhalt und auch -aufbau bleiben deshalb eine Leerstelle in den Thesen [von Candeias]. Zwar wird auf den Streikfrühling verwiesen, aber die Rolle der Gewerkschaften bleibt insgesamt unterbelichtet. Dabei sind sie als Organisationen neben der Partei die Haupthebel, um die ökonomischen Interessen der Beschäftigten durchzusetzen und Selbstwirksamkeit überhaupt erst möglich zu machen. Sie als Anhängsel neben anderen Bewegungen zu subsumieren, unterläuft die strategische Bedeutung der Gewerkschaften als existenzieller Partner. Auch wenn das Bündnis mit der Klimagerechtigkeitsbewegung ein kluger Schritt nach vorn ist, wird am Ende die Organisationsmacht der Gewerkschaften über die Transformation entscheiden und nicht der bessere Diskurs oder ein wunderbares gesellschaftliches Bündnis.“

Schwerdtner hat Recht, dass bei Candeias die Rolle von Streiks und gewerkschaftlicher Organisierung unterbelichtet bleibt – das gilt sowohl für die Analyse der Situation als auch für die Bilanz der Linkspartei und die strategische Aufgabe der Linken insgesamt. Aber auch wenn Schwerdtner davon spricht, dass die Linkspartei mehr Klassenpolitik betreiben müsse, hat sie damit keine Verschiebung des strategischen Schwerpunkts der Partei im Sinne. Der Verweis auf Klassenpolitik ist zwar richtig, aber ohne jegliche Kritik an der jahrzehntelangen Regierungspolitik der Linkspartei selbst – im Gegenteil sind Schwerdtners Durchhalteparolen auf elektorale Erfolge „anderer europäischer Parteien“ wie der KPÖ oder der Partei der Arbeit Belgiens (PTB) bezogen – handelt es sich um nichts mehr als eine Wiederholung der institutionellen Umlenkung von Klassenkämpfen in das Parlament als „Marsch durch die Institutionen“ und einer Orientierung auf eine radikalisierte Version der Sozialpartnerschaft.

Die strategische Abrechnung muss vielmehr viel radikaler sein, als Schwerdtner es sich traut. Das Problem an der Linkspartei war nicht einfach zu wenig „Klassenpolitik in der Praxis“. Das Problem ist und bleibt die strategische Ausrichtung der Partei auf Parlamentsposten und Regierungsbeteiligungen. Die Linkspartei hat nicht zu wenig „Machtperspektive“ (ein Vorwurf, den Schwerdtner an mehreren Stellen an Candeias formuliert), sondern im Gegenteil eine Perspektive der Macht um jeden Preis, hier nur verstanden als politische Mitverwaltung der kapitalistischen Misere und nicht verstanden im Geiste Rosa Luxemburgs, nach dem „die Sozialdemokratie [der damals gebräuchliche Begriff für Sozialist:innen] nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates als regierende Partei auftreten darf“.Schwerdtners halbherzige Abgrenzung von Sahra Wagenknecht kommt auch daher, dass sie bei Wagenknecht zumindest teilweise eine Perspektive der Klassenpolitik sieht – die in Wahrheit jedoch nichts anderes ist als eine chauvinistische Ansprache an einen kleinen Teil der Arbeiter:innenklasse mit dem Ziel, sie zu einer elektoralen Manövriermasse zu machen.

Potenziale nutzen, revolutionäre Linke aufbauen!

Unsere Perspektive sieht radikal anders aus: Wir sind anders als Candeias nicht der Meinung, dass die gesellschaftliche Linke in die Defensive gehen und sich auf „Inseln des Überlebens“ konzentrieren müsse. Wir sind jedoch auch nicht der Meinung wie Schwerdtner, die ein noch begrenzteres Projekt der Erneuerung der Linkspartei mit Zweckoptimismus verbindet. Wenn wir Schwerdtner darin zustimmen, dass wir uns entgegen Candeias‘ These weiterhin in einer offenen Situation befinden, wie wir oben ausführlich dargelegt haben, dann mit der strategischen Perspektive, dass die Arbeiter:innenklasse, die Jugend, die Frauen und Migrant:innen die wachsenden Widersprüche innerhalb und zwischen den kapitalistischen Blöcken nutzen müssen, um ihre Selbstorganisation gegen die Regierung und das Kapital voranzutreiben.

Unserer Ansicht nach kann diese gesellschaftliche Kraft, die es aufzubauen gilt, nicht aus der gegenwärtigen LINKEN erwachsen. Auch wenn die Erfahrung mit diesem reformistischen Projekt noch nicht vollständig abgeschlossen ist – die Partei wird also nicht von heute auf morgen verschwinden –, so wird doch immer klarer, dass sie in den sich andeutenden Aufbrüchen unserer Klasse mit ihrer Strategie der Integration ins Regime ein Hindernis darstellt. Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat es vor Kurzem sehr klar formuliert: zur Not, und es schmerze ihn, dies zu sagen, würde er den Menschen, statt die AfD zu wählen, lieber die Wahl der LINKEN ans Herz legen. Mehr müsste eigentlich zur Rolle, die die LINKE im bundesrepublikanischen Parteiensystem einnimmt, nicht mehr gesagt werden. Die Partei wird von Lindner zwar als ein Ärgernis, aber gleichzeitig auch als ein politisch viel ungefährlicherer, weil viel tiefer in den bürgerlichen Staat integrierter Gegner angesehen. Ein Gegner, der sich noch dazu auf Teile der Arbeiter:innenklasse stützt und diese potenziell widerständigen Elemente damit wirksam an den etablierten Machtblock kettet. Die LINKE konnte deshalb in den vergangenen Jahren nicht zum Zentrum einer sich formierenden Bewegung gegen den Status Quo werden, sondern geriet erst schleichend und heute immer schneller ins politische Abseits und ist an den meisten Arbeitskämpfen und sozialen Bewegungen nicht mehr beteiligt.

Das hat aber die Dynamik des Klassenkampfes nicht davon abgehalten, sich enorm zu steigern. Die These vieler Organisationen, auch aus dem trotzkistischen Spektrum – von Marx21 über ISO bis zum Funken, der SAV und Sol –, dass ein Aufschwung des Klassenkampfes die Reihen der Linkspartei anschwellen lassen würde und man deshalb in der LINKEN ausharren müsse, hat sich damit als unwahr erwiesen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass wir jegliche Zusammenarbeit mit LINKE-Strukturen verweigern. Im Gegenteil, wir bieten ausnahmslos allen Kräften und Strukturen innerhalb der LINKEN, auch der Gesamtpartei, Aktionsbündnisse zur Formierung von Bewegungen an, die sich gegen den Aufstieg der Rechten, gegen die Kürzungspolitik der Bundesregierung, gegen die Verschleppung ihrer selbst gesetzten Klimaziele, gegen die Schleifung des Asylrechts, gegen die Aufrüstung und gegen die Eskalation des Ukrainekrieges durch weitere Waffenlieferungen und Sanktionen stellen. Unser Ziel ist es, die Aktionseinheit möglichst aller Teile der Arbeiter:innenklasse anhand ihrer gemeinsamen unmittelbaren Interessen herzustellen.

Wir sind darüber hinaus überzeugt, dass die LINKE noch einige Elemente enthält, die zunehmend unzufrieden mit dem Zustand der Partei und ihrer Entwicklungsrichtung sind und die sich eine wirklich oppositionelle Kraft wünschen. Wir laden alle diese Mitglieder, die diese wirklich klassenkämpferische Opposition gegen die Regierung, gegen Aufrüstung und Militarismus und gegen den Aufstieg der Rechten aufbauen wollen, ein, mit uns gemeinsame Wege zu gehen. Wir schlagen einen Diskussionsprozess vor, der auf den Aufbau neuer, revolutionärer Organisationen zielt, die mit der parlamentaristischen und sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung der LINKEN abrechnen. Unser Ziel ist es anschließend, auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse in Wahlbündnissen mit diesen und anderen Organisationen zu nationalen Wahlen anzutreten. Auf der Suche nach fortschrittlichen Übereinkünften, insbesondere im Klassenkampf, können wir schließlich auch gemeinsame Schritte zum Wiederaufbau einer revolutionären Massenpartei gehen. Für letzteres braucht es allerdings auch eine Perspektive der internationalen sozialistischen Revolution – etwas, das Candeias, aber auch Schwerdtner vollständig abgeht.

Dabei orientieren wir uns an den Erfahrungen unserer Schwesterorganisation in Argentinien, der PTS (Partei der Linken und Arbeiter:innen). Sie ist mit anderen Organisationen aus dem trotzkistischen Spektrum Teil einer Wahlfront, der FIT-U (Front der Linken und Arbeiter:innen – Einheit) der es gelungen ist, mit einem unabhängigen und antikapitalistischen Programm bei nationalen Wahlen über eine Million Stimmen auf sich zu vereinen. Sie hat dabei für die Arbeiter:innenklasse derzeit vier Sitze im Parlament erobert, die den Bewegungen und Streiks eine authentische Stimme geben. Dieses Beispiel zeigt, dass revolutionäre Organisationen keineswegs auf ihr politisches Programm und ihre Unabhängigkeit vom Staat verzichten müssen, wenn sie Erfolge bei Wahlen erzielen wollen. Stattdessen kann genau ein solches Programm eine echte politische Alternative für unsere Klasse aufzeigen. Es kann dadurch den Prozess der Verschmelzung der kämpfenden Avantgarde der Arbeiter:innenklasse mit den revolutionären Organisationen begünstigen und schließlich die Grundlagen für den Wiederaufbau einer revolutionären Avantgardepartei mit Masseneinfluss legen. Gewiss sind wir von dieser Perspektive, sowohl in Argentinien noch weit entfernt, als auch noch viel weiter in Deutschland. Doch sind wir der Überzeugung, dass diese Taktik im Unterschied zu den vielen gescheiterten Versuchen breiter reformistischer Regierungsparteien, wie Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland und der LINKEN in Deutschland, die alle zu Mitverwaltern des kapitalistischen Staates verkamen, eine Perspektive der politischen Unabhängigkeit unserer Klasse und der Überwindung des Kapitalismus bieten kann.

Über diese Perspektive wollen wir auch bei unserem Revolutionären Sommercamp vom 31. August bis 3. September diskutieren, gemeinsam mit Arbeiter:innen und Jugendlichen aus ganz Deutschland und mit internationalen Gästen. Wenn du Interesse hast, schreib uns unter info@klassegegenklasse.org und melde dich an!

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