Wer nicht von Krieg und Rassismus redet, soll von Islamismus schweigen
Nach der Tötung des französischen Lehrers Samuel Paty, aus wohl islamistischen Motiven, sieht sich Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert dazu in der Lage, der politischen Linken Ratschläge in Sachen Antirassismus zu geben. Doch zwischen Allgemeinheiten und Phrasen fehlt das Fundamentale: die Aufdeckung des rassistischen Status quo in Westeuropa und die Verantwortung der eigenen Partei. Ein Kommentar.
Der 18-jährige Abdoullakh Abouyedovich Anzorov tötete vor knapp einer Woche den Lehrer Samuel Paty im französischen Conflans. Der Auslöser hierbei war eine Unterrichtsstunde gewesen, in der der Lehrer die islamophobe Karikatur Mohammeds des Satiremagazins Charlie Hebdo gezeigt hätte.
Das politische Establishment der Fünften Republik organisierte zu diesem Anlass einen nationalen Gedenktag. Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert nutzt dies, um eine Debatte in der “politischen Linken” zu führen, die seiner Meinung nach in puncto islamistische Gewalt einen “blinden Fleck” hätte.
Erst einmal fällt auf, dass er keinerlei Urteil über den nationalen Gedenktag fällt. Dabei lassen sich doch etliche Parallelen zu den Diskursen hierzulande finden. Den Beruf des Lehrers betitelte Macron in seiner Rede als den “schönsten Beruf der Welt”. Diese Heroisierung der Lehrer:innen kontrastiert jedoch stark mit der Realität während der Pandemie, wo die Schulen mit zu den wichtigsten Clustern gehören und die Regierung Lehrer:innen ohne ausreichende Hygienemaßnahmen “an die Front” schickt.
Das Bildungssystem in Frankreich war schon Zielscheibe mehrerer Angriffe Macrons und seiner Vorgänger. Die Bildungsreformen, die in der letzten Amtszeit mit Repression durchgesetzt wurden, kosteten auch Leben: So beging Schulleiterin Christine Renon vor rund einem Jahr Suizid und gab als Gründe Überarbeitung, die Sammlung an administrativen Aufgaben und die damit einhergehende Einsamkeit an. Doch nicht nur sie litt unter den Angriffen auf den öffentlichen Dienst. Bis zu 15.000 Arbeitsplatze wollte die Regierung mit ihrem Kürzungsplan abbauen. Ebenso erschwerte sie für viele Studierende den Hochschulzugang und vergrößerte die Schere zwischen armen und reichen Studierenden.
Über diese und andere Heucheleien der französischen Politiker:innen verliert Kühnert kein Wort. Ebenso wenig über die verstümmelten und ermordeten Demonstrierenden, die seit der Entstehung der Gelbwestenbewegung von Macrons Polizei niedergeknüppelt wurden.
Schön und gut. Man könnte Kühnert also sagen, er hätte eine differenziertere Meinung zu Macrons “Gedenktag” äußern können, der wohl offensichtlich ein Manöver war, um mit Symbolik und großen Reden von der eigenen Politik abzulenken.
Jedoch sitzt das Problem tiefer: Kühnerts implizite Aussage ist, dass, weil sich ja nur islamophobe Rechte zu solchen Attacken positionieren würden, die Linke dies auch tun müsse, um ihnen nicht das Feld zu überlassen. Schließlich ginge ja die “Anmaßung zum Richter über Leben und Tod mündende Menschenbild der Täter” gegen die Werte, die Linke verteidigen würden.
Dieser allgemeine Moralismus, der nicht unterscheidet, wer hier Täter und Opfer ist, ist jedoch gefährlich. Sicherlich, Sozialist:innen verurteilen religiösen Fanatismus und halten nichts von individuellem Terrorismus, insbesondere in den Fällen, wo er sich gegen Arbeiter:innen richtet.
Jedoch reicht der von Kühnert propagierte “gesunde Menschenverstand” nicht aus, um den Fall genügend zu analysieren. Woher kommt denn der religiöse Fanatismus und der islamistische Terror? Warum wird kein Gedenkfeiertag für die Opfer rassistischer Gewalt organisiert, wo doch zuletzt zwei muslimische Frauen mit einem Messer angegriffen wurden?
Es ist außerdem nicht so, als ob es weniger Auseinandersetzung mit dem Islamismus gäbe. Vielmehr findet konstant eine Hetze gegen den Islam und Muslime statt. Erst gestern regte der Koalitionspartner CDU mit einer widerwärtigen PR-Aktion in Berlin-Neukölln Aufmerksamkeit auf sich, als auf der Hermannstraße des migrantischen Viertels mit einem Lamborghini gegen die sogenannte “Clankriminalität” geworben wurde.
Mal ganz zu schweigen davon, dass die meisten echten Kriminellen, die Lambos fahren, klassische deutsche Kapitalist:innen sind, bedient sich die CDU rassistischer Stereotype über sogenannte “Problembezirke” und stellt somit alle hier lebenden Migrant:innen unter Generalverdacht.
Dieser Generalverdacht wird durch die Presse und Polizei verstärkt, wenn Razzien gegen Shishabars durchgeführt oder Migrant:innen von der Polzei mit racial profiling drangsaliert werden.
“Alle Menschen sind gleich, manche sind gleicher”
Das berühmte Zitat George Orwells, was als Kritik am Stalinismus gelten sollte, könnte genauso für die “europäischen” Werte der imperialistischen Metropolen gelten. Es ist offensichtlich, dass die allgemeinen Menschenrechte im Kapitalismus eben nicht für alle gelten.
Die Idee der für alle Menschen gleich geltenden Rechte, die in der Aufklärung durch Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau geprägt wurde, wurde im revolutionären Frankreich von 1789 zuerst in der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) zur Staatsräson erklärt.
Jedoch galt und gilt diese Gleichheit nur auf Papier. Ausgeschlossen davon waren unter anderem Frauen und Sklav:innen aus den Kolonien. Das Bürgertum musste seine Herrschaft durch die allgemeine Gleichheit rechtfertigen, zu deren Durchsetzung es nie bereit war.
Die Kontinuitäten sehen wir bis heute: Wenn ein französischer Lehrer ermordet wird, ist der Skandal weitaus höher, als wenn eine französischer Soldat in den (ehemaligen) Kolonien mordet.
Selbst im “schönsten Beruf der Welt” findet sich diese Ausgrenzung: Frauen, die Hijab tragen, dürfen in Frankreich und Deutschland keine Lehrer:innen werden. Entweder sie assimilieren sich und legen ihre Religion ab oder erhalten ein Berufsverbot.
Und Deutschland?
Kühnert tut gut daran, diese realen Ungleichheiten außer Acht zu lassen und sich auf moralische Appelle zu beschränken. Schließlich würde eine konsequente Denunzierung der Gewalt und der Grundlagen der islamistischen Radikalisierung bedeuten, sich gegen die imperialistischen Interventionen in Westasien zu stellen, für die seine Partei Verantwortung trägt. So bewilligt die SPD beispielsweise Waffenexporte an Saudi-Arabien und die Türkei, die Dschihadisten als Söldnertruppen einsetzen.
Die angebliche Bedrohung der USA durch nicht gefundene Massenvernichtungswaffen hat die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerungen der gesamten Region ruiniert. 18 Jahre nach der Invasion des Iraks, auf die weitere mit deutscher Komplizenschaft folgten, ist die wirtschaftliche und politische Instabilität nur noch gewachsen und hat sich verbreitet. Bis heute bleibt das Verbrechen ungesühnt.
Der islamistische Terror in Westasien und Afrika, vor dem so viele nach Deutschland über Stacheldraht und Meeresrouten fliehen, stellte eine katastrophale konterrevolutionäre Situation für die der Arbeiter:innen, das Bauerntum, die Frauen, die Jugendlichen und die Unterdrückten dar. Die Milizen wie der IS rekrutieren sich aus den verarmten, deklassierten, benachteiligten und ruinierten Massen:
„(Diese Brutalität) kann nur in einem Land an Boden und Anhängern gewinnen, das vom Imperialismus ins Mittelalter gebombt wurde. Erst langfristiges Leid und Verzweiflung, aber auch das Ausschalten jeder materiellen und sozialen Infrastruktur, treiben Menschen zu Gruppen wie dem IS.“ (Suphi Toprak,IS: Folge und Anlass imperialistischer Politik, 2014)
Diese außenpolitischen Zusammenhänge benennt Kühnert natürlich nicht, müsste er doch dann konsequenterweise mit der Sozialdemokratie brechen. Doch auch im Inland trägt die SPD Verantwortung für die prekäre Situation, in der viele Migrant:innen stecken: schlechtere Bildungschancen und Arbeitsbedingungen, Alltagsrassismus und dazu noch die Welle rechter Gewalt, die von pogromartigen Stimmungen und Jagden wie in Chemnitz über das Attentat in Halle zu den Machenschaften rechter Chatgruppen führt. Fast täglich wird ein neuer “Einzelfall” aufgedeckt, während sich seine Partei kürzlich mit dem Rassisten Seehofer einigte, eine Studie über rassistische Strukturen in der Polizei nicht durchzuführen. In so vielen Jahren GroKo wurde das Rassismusproblem keinen Deut besser, sondern verschlimmerte sich vielmehr und stellt gemeinsam mit der Armut (die unter Migrant:innen sowie Kindern und Rentner:innen unverhältnismäßig hoch ist) einen Nährboden für rechte und islamistische Gewalt dar.