Wenn Nordamerika kommunistisch würde
Im Jahr 1934 stellte sich Trotzki vor, wie die USA nach einer sozialistischen Revolution aussehen würden. Er wandte sich mit diesem Artikel an die amerikanischen Arbeiter*innen, um aufzuzeigen, dass der Ausweg aus der großen Krise, die das imperialistische Zentrum zu dieser Zeit durchlebte, von den Arbeiter*innen gefunden werden konnte.
Wenn Amerika infolge der Schwierigkeiten und Probleme, mit deren Lösung Ihre kapitalistische soziale Ordnung nicht fertig wird, kommunistisch werden sollte, so wird es entdecken, dass der Kommunismus, weit davon entfernt, eine unerträgliche bürokratische Tyrannei und Reglementierung des Individuums zu bedeuten, zu mehr individueller Freiheit und gemeinsamem Wohlstand führen wird.
Gegenwärtig sehen die meisten Amerikaner den Kommunismus einzig im Licht der Erfahrungen, die man mit der Sowjetunion gemacht hat. Sie haben Angst, der Sowjetismus würde in Amerika dieselben materiellen Ergebnisse hervorrufen, wie er sie dem kulturell rückständigen Volk der Sowjetunion beschert hat.
Sie fürchten sich davor, der Kommunismus könnte Sie in ein Prokrustesbett zwängen, und verweisen auf das Bollwerk des angelsächsischen Konservatismus, ein unübersteigbares Hindernis selbst für möglicherweise erwünschte Reformen. Sie meinen, dass Großbritannien und Japan gegen die amerikanischen Sowjets eine militärische Intervention unternehmen würden. Es schaudert Sie bei dem Gedanken, dass Amerikaner hinsichtlich ihrer Kleidungs- und Essgewohnheiten unter Aufsicht gestellt werden könnten; dass Sie von Hungerrationen leben müssten; stereotype offizielle Propaganda in den Zeitungen lesen müssten; dass Sie Entscheidungen, die ohne Ihre aktive Mitwirkung zustande kamen, ohne viel zu überlegen Ihre Zustimmung geben müssten; dass Sie aus Angst vor Gefängnis und Verbannung Ihre Gedanken für sich behalten und Ihre Sowjetführer in der Öffentlichkeit laut preisen müssten. Sie fürchten eine Geldentwertung, bürokratische Tyrannei und unerträglichen Bürokratismus im alltäglichen Leben. Sie fürchten, dass sowohl in den Künsten und Wissenschaften als auch im Alltagsleben eine seelenlose Gleichförmigkeit Einzug halten würde. Sie fürchten, dass jede politische Spontaneität und die (vermeintliche) Freiheit der Presse durch die Diktatur einer monströsen Bürokratie zerstört werden würde. Und es schaudert Sie bei dem Gedanken, dass Ihnen die unbegreifliche Sprache der marxistischen Dialektik und der strengen Sozialwissenschaften glatt von der Zunge gehen könnte. Sie fürchten, mit einem Wort, dass Sowjetamerika das Ebenbild der Ihnen vermittelten Version Sowjetrusslands werden wird.
In Wirklichkeit werden sich amerikanische Sowjets von den russischen Sowjets genauso unterscheiden, wie sich die Vereinigten Staaten Präsident Roosevelts vom Russischen Reich des Zaren Nikolaus II. unterscheiden. Doch kann der Kommunismus in Amerika nur durch eine Revolution zustande kommen, genauso wie die Unabhängigkeit und die Demokratie in Amerika. Das amerikanische Temperament ist energisch und heftig, und so muss, ehe der Kommunismus fest verwurzelt ist, eine Menge Geschirr zerbrochen und müssen viele Pläne über den Haufen geworfen werden. Die Amerikaner sind zuerst Enthusiasten und Sportsleute, dann erst Spezialisten und Staatsmänner, und es widerspräche der amerikanischen Tradition, eine wichtige Veränderung vorzunehmen, ohne sich vorher für die eine Hälfte des Spielfelds zu entscheiden und sich die Köpfe zu zerschlagen.
Doch wird die amerikanische kommunistische Revolution im Vergleich zur bolschewistischen Revolution in Russland, gemessen am gesellschaftlichen Reichtum und an der Bevölkerung, unbedeutend sein, gleichgültig wie groß ihre relativen Kosten sein werden. Der Grund dafür ist, dass ein revolutionärer Bürgerkrieg nicht von der Handvoll Leute an der Spitze – den fünf oder zehn Prozent, denen neun Zehntel des amerikanischen Reichtums gehören – ausgefochten wird; sie könnte ihre konterrevolutionären Armeen nur aus den unteren Zwischenklassen rekrutieren. Aber auch die Revolution könnte diese mit Leichtigkeit unter ihr Banner scharen, indem sie ihnen zeigt, dass nur die Unterstützung der Sowjets ihnen Aussicht auf Rettung bietet. Jeder unterhalb dieser Gruppe ist wirtschaftlich für den Kommunismus schon vorbereitet. Die Wirtschaftskrise hat unter Ihrer Arbeiterklasse gewütet und den Farmern, die bereits durch die lange landwirtschaftliche Flaute des Nachkriegs-Jahrzehnts geschädigt waren, einen vernichtenden Schlag versetzt. Es gibt keinen Grund, warum diese Gruppen der Revolution entschlossenen Widerstand entgegensetzen sollten; sie haben nichts zu verlieren, vorausgesetzt natürlich, dass die revolutionären Führer ihnen gegenüber eine weitsichtige und gemäßigte Politik einschlagen.
Wer wird sonst noch gegen den Kommunismus kämpfen? Die Wachmannschaften Ihrer Milliardäre und Multimillionäre? Ihre Mellons, Morgans, Fords und Rockefellers? Sie werden in dem Augenblick zu kämpfen aufhören, in dem sie niemand mehr finden, der für sie kämpft.
Die amerikanische Sowjetregierung wird die Kommandohöhen Ihres Wirtschaftssystems, die Banken, die Schlüsselindustrien und das Transport- und Kommunikationssystem fest in die Hand nehmen. Sie wird dann den Farmern, den kleinen Gewerbetreibenden und Geschäftsleuten eine ausreichend lange Bedenkzeit geben, während deren sie sehen können, wie gut der verstaatlichte Sektor der Wirtschaft funktioniert. Hier können die amerikanischen Sowjets wahre Wunder schaffen. Die »Technokratie« kann sich nur unter dem Kommunismus verwirklichen, wenn das tote Gewicht privater Eigentumsrechte und privater Profite von Ihrem Industriesystem genommen wird. Die kühnsten Vorschläge der Hoover-Kommission für Standardisierung und Rationalisierung werden, verglichen mit den neuen Möglichkeiten, denen der amerikanische Kommunismus freies Spiel gibt, kindlich erscheinen.
Die nationale Industrie wird längs des Fließbands Ihrer modernen, ständig produzierenden, automatisierten Fabriken organisiert werden. Die wissenschaftliche Planung kann der einzelnen Fabrik entlehnt und auf Ihr ganzes Wirtschaftssystem ausgedehnt werden. Die Ergebnisse werden erstaunlich sein.
Die Produktionskosten werden auf zwanzig Prozent oder weniger ihrer jetzigen Höhe fallen. Das wiederum wird die Kaufkraft Ihrer Farmer rasch vermehren. Die amerikanischen Sowjets würden ihre eigenen Riesenfarmen als Schulen der freiwilligen Kollektivierung errichten. Ihre Farmer könnten sich leicht ausrechnen, ob es in ihrem persönlichen Vorteil läge, isoliert zu bleiben oder sich der öffentlichen Kette anzuschließen. Dieselbe Methode würde benutzt werden, um die kleinen Unternehmen und Betriebe in die nationale Organisation der Industrie einzubeziehen. Diese sekundären Industrien könnten mit Hilfe der Sowjet-Kontrolle über Rohmaterialien, Kredite und Auftragsvolumina zahlungsfähig erhalten werden, bis sie allmählich und ohne Zwang vom sozialisierten Sektor absorbiert wären.
Ohne Zwang! Die amerikanischen Sowjets bedürften nicht der drastischen Maßnahmen, die die Umstände den Russen so oft diktiert haben. In den Vereinigten Staaten hat man dank der wissenschaftlichen Öffentlichkeitswerbung Mittel, um die Unterstützung der Mittelklassen zu gewinnen, die im rückständigen Russland mit seiner riesigen Masse pauperisierter und analphabetischer Bauern außerhalb der Reichweite der Sowjets waren. Das und Ihre technische Ausrüstung und Ihr Reichtum ist der größere Aktivposten Ihrer künftigen kommunistischen Revolution. Ihre Revolution wird einen sanfteren Charakter als die unsrige haben; Sie werden Ihre Energien und Hilfskräfte nicht in kostspieligen sozialen Konflikten verschwenden, nachdem einmal die Hauptfragen entschieden sind; und Sie werden infolgedessen desto schneller vorankommen.
Selbst die Intensität der amerikanischen Religiosität wird für die Revolution kein Hindernis sein. Unter der Perspektive von Sowjets in Amerika wird keine der psychologischen Bremsen stark genug sein, um den Druck der sozialen Krise hintan zu halten. Das hat sich in der Geschichte mehr als einmal gezeigt. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Evangelien selbst ein paar schöne explosive Aphorismen enthalten.
Was die verhältnismäßig wenigen Gegner der Sowjetrevolution betrifft, so kann man auf den amerikanischen Erfindergeist bauen. Es kann gut möglich sein, dass Sie Ihre unüberzeugten Millionäre auf eine malerische Insel schicken, wo sie, ohne Miete zu zahlen, nach Gutdünken schalten und walten können.
Sie können sich das erlauben, denn Sie brauchen keine ausländischen Interventionen zu befürchten. Japan, Großbritannien und die übrigen kapitalistischen Staaten, die in Russland intervenierten, könnten nichts anderes tun, als vor dem amerikanischen Kommunismus klein beizugeben. Tatsächlich wird der Sieg des Kommunismus in Amerika – der Hochburg des Kapitalismus – den Kommunismus in anderen Ländern verbreiten. Japan wird sich wahrscheinlich noch vor der Etablierung amerikanischer Sowjets den kommunistischen Reihen angeschlossen haben. Dasselbe gilt für Großbritannien.
Jedenfalls wäre es Wahnsinn, die königlich-britische Flotte gegen Sowjetamerika auszusenden oder auch nur eine Strafaktion gegen die südliche, konservativere Hälfte Ihres Erdteils zu unternehmen. Das wäre hoffnungslos und würde nie über eine zweitrangige militärischen Eskapade hinauskommen.
Innerhalb weniger Wochen oder Monate des Bestehens amerikanischer Sowjets würde der Panamerikanismus eine politische Realität. Die Regierungen von Mittel- und Südamerika würden von Ihrer Föderation wie Eisenspäne von einem Magneten angezogen werden. Auch Kanada. Die Volksbewegungen in diesen Ländern wären so stark, dass sie diesen großen Vereinigungsprozess innerhalb kurzer Zeit und mit nur unwesentlichen Kosten erzwingen würden. Ich wette, die westliche Hemisphäre würde sich am ersten Jahrestag der amerikanischen Sowjets als die Vereinigten Sowjetstaaten von Nord-, Mittel- und Südamerika mit der Hauptstadt Panama wiederfinden. Damit erhielte die Monroe-Doktrin zum ersten Mal absolute und positive Bedeutung in Weltangelegenheiten, wenn auch nicht in der von ihrem Urheber vorgesehenen Art.
Trotz der Klagen einiger Ihrer Erzkonservativen bereitet Roosevelt keine Sowjetisierung der Vereinigten Staaten vor.
Die NRA will die Grundlagen des amerikanischen Kapitalismus nicht zerstören, sondern stärken, indem sie Ihre ökonomischen Schwierigkeiten überwindet. Nicht der Blaue Adler, sondern die Schwierigkeiten, mit denen der Blaue Adler nicht fertig wird, werden den Kommunismus nach Amerika bringen. Die »radikalen« Professoren Ihres Brain Trusts sind keine Revolutionäre: sie sind nur verängstigte Konservative. Ihr Präsident verabscheut »Systeme« und »allgemeine Prinzipien«. Aber eine Sowjetregierung ist das umfassendste aller möglichen Systeme, eine gigantische Verallgemeinerung in Aktion.
Der Durchschnittsmensch liebt weder Systeme noch Abstraktionen. Es ist die Aufgabe Ihrer kommunistischen Staatsmänner, dafür zu sorgen, dass das System die Güter liefert, die der Durchschnittsmensch begehrt: sein Essen, Zigarren, Unterhaltung, die Freiheit, sich seine Krawatten selbst auszusuchen, sein eigenes Haus und sein eigenes Auto. Es wird in Sowjetamerika leicht sein, ihm diese Bequemlichkeiten des Lebensstandards zu geben.
Die meisten Amerikaner haben sich dadurch, dass wir in der UdSSR ganze neue Basis-Industrien errichten mussten, irreführen lassen. So etwas könnte in Amerika, wo man schon gezwungen ist, die Bewirtschaftung des Bodens einzuschränken und die industrielle Produktion zu verringern, nicht vorkommen. In der Tat wird Ihre gewaltige technologische Ausrüstung durch die Krise lahmgelegt; die Forderung nach ihrer Nutzbarmachung ist bereits unüberhörbar. Eine rasche Beschleunigung des Konsums Ihrer Bevölkerung wird der erste Schritt zu Ihrem wirtschaftlichen Wiederaufschwung sein können.
Sie sind darauf wie kein anderes Land vorbereitet. Nirgendwo sonst hat die Erforschung des Binnenmarkts eine solche Intensität wie in den Vereinigten Staaten erreicht. Das haben Ihre Banken, Trusts, Geschäftsleute, Händler, Vertreter und Farmer zuwege gebracht. Ihre Sowjetregierung wird einfach alle Geschäftsgeheimnisse abschaffen, wird alle Befunde dieser Forscher für den Profit zusammentragen und sie in ein wirtschaftliches System wirtschaftlicher Planung überführen. Ihre Regierung wird sich dabei auf eine große Klasse kultivierter und kritischer Verbraucher stützen können. Durch die Zusammenfassung der verstaatlichten Schlüsselindustrien, Ihrer Privatunternehmungen und demokratischen Verbraucherorganisationen werden Sie rasch ein äußerst flexibles System entwickeln, um die Bedürfnisse Ihrer Bevölkerung zu befriedigen.
Dieses System wird nicht mit Hilfe der Bürokratie und der Polizei, sondern mittels der kalten Barzahlung funktionieren. Ihr allmächtiger Dollar wird beim Betrieb Ihres neuen Sowjetsystems eine Hauptrolle spielen. Es ist ein großer Fehler, eine »geplante Wirtschaft« mit einer »gelenkten Währung« zu vermengen. Ihr Geld muss als Regulator dienen, der den Erfolg oder Misserfolg Ihrer Planung misst. Ihre »radikalen« Professoren sind völlig auf dem Holzweg mit ihrer Begeisterung für eine »gelenkte Währung«. Das ist eine akademische Idee, die leicht Ihr ganzes System der Verteilung und Produktion ruinieren könnte. Das ist die große Lehre der Wirtschaft der Sowjetunion, wo im Finanzwesen eine bittere Notwendigkeit zur offiziellen Tugend gemacht wurde.
Dort ist das Fehlen eines festen Goldrubels eine der Hauptursachen unserer vielen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Katastrophen. Es ist unmöglich, Löhne, Preise und Warenqualitäten ohne ein stabiles Geldsystem zu regulieren. Ein unbeständiger Rubel in einem Sowjetsystem gleicht einer Fließbandfabrik mit unbeständigen Gussformen. Das funktioniert nicht. Nur wenn es dem Sozialismus gelingt, das Geld durch administrative Kontrolle zu ersetzen, kann man eine feste Goldwährung aufgeben. Dann wird das Geld zu gewöhnlichen Papierscheinen, wie es Straßenbahnscheine oder Theaterkarten sind. Mit dem Fortschritt des Sozialismus werden auch diese Papierzettel verschwinden, und wenn es für jeden von allem mehr als genug gibt, wird eine Kontrolle über den individuellen Verbrauch – sei es durch Geld oder durch die Verwaltung – nicht mehr nötig sein!
Eine solche Zeit ist aber noch nicht gekommen, obgleich Amerika bei solchen Zuständen eher anlangen wird als jedes andere Land. Bis dahin muss man, will man einen solchen Entwicklungsstand erreichen, einen wirksamen Regulator und Maßstab für die Funktionsfähigkeit Ihres Systems beibehalten.. In Wirklichkeit benötigt eine Planwirtschaft während der ersten Jahre eine gesunde Währung mehr noch als der altmodische Kapitalismus. Der Professor, der das Geld in der Absicht reguliert, dadurch das ganze Geschäftssystem zu regulieren, gleicht dem Mann, der gleichzeitig seine beiden Füße hochheben wollte.
Sowjetamerika wird Goldvorräte besitzen, die groß genug sind, um den Dollar zu stabilisieren – ein unschätzbarer Aktivposten. In Russland haben wir unsere Industrie um 20 bis 30 Prozent im Jahr erweitert; aber wir konnten dieses Wachstum infolge eines schwachen Rubels nicht wirkungsvoll verteilen. Zum Teil deshalb, weil wir unserer Bürokratie erlaubten, mit unserem Geldsystem einseitig administrativ umzugehen. Sie werden von diesem Übel verschont bleiben. Infolgedessen werden Sie uns hinsichtlich der Steigerung der Produktion wie der Verteilung bei weitem übertreffen und damit den Lebensstandard und den Wohlstand Ihrer Bevölkerung rasch weiterentwickeln. In allen diesen Dingen brauchen Sie nicht unsere standardisierte Produktion für unsere armseligen Massenverbraucher zu imitieren. Wir haben vom zaristischen Russland ein Bettlererbe, eine kulturell unentwickelte Bauernschaft mit einem niedrigen Lebensstandard übernommen. Wir mussten unsere Fabriken und Dämme auf Kosten unserer Konsumenten bauen. Wir haben eine ständige Geldentwertung und eine monströse Bürokratie.
Sowjetamerika wird unsere bürokratischen Methoden nicht nachahmen müssen. Bei uns hat der Mangel an den elementaren Lebensgütern dazu geführt, dass sich jeder um einen Extra-Laib Brot, eine Extra-Elle Stoff gehörig balgen muss. In diesem Kampf spielt unsere Bürokratie den Vermittler, den allmächtigen Schiedsrichter. Sie hingegen sind viel wohlhabender und würden es nicht sehr schwer finden, Ihre ganze Bevölkerung mit allem Lebensnotwendigen zu versehen. Außerdem würden Ihre Bedürfnisse, Geschmacksrichtungen und Gewohnheiten es Ihrer Bürokratie nie erlauben, das Nationaleinkommen zu verteilen. Statt dessen wird sich Ihre ganze Bevölkerung, wenn Sie Ihre Wirtschaftsgesellschaft so organisieren, dass für die Deckung menschlicher Bedürfnisse und nicht für private Profite produziert wird, um neue Richtungen und Gruppen scharen, die miteinander kämpfen und es verhindern werden, dass eine arrogante Bürokratie sie bedrückt.
Durch Sowjets, d. h. durch Demokratie, durch die flexibelste Regierungsform, die es bisher gibt, können Sie das Anwachsen des Bürokratismus vermeiden. Eine Räte-Organisation kann nicht Wunder wirken; sie kann nur den Willen der Bevölkerung reflektieren. Bei uns sind die Sowjets infolge des politischen Monopols einer einzigen Partei, die selbst zur Bürokratie wurde, bürokratisiert worden. Diese Situation ist Resultat der außergewöhnlichen Schwierigkeiten sozialistischer Pionierarbeit in einem armen und rückständigen Land.
Die amerikanischen Sowjets werden stark und lebendig sein; für solche Maßnahmen, wie sie die Umstände in Russland erzwangen, wird weder Bedürfnis, noch Gelegenheit sein. Ihre unbußfertigen Kapitalisten werden sich natürlich in dem neuen Rahmen nicht wohlfühlen. Man kann sich Henry Ford schwerlich als Vorsitzenden des Sowjets von Detroit vorstellen.
Doch ein großer Kampf zwischen Interessen, Gruppen und Ideen ist nicht nur vorstellbar, sondern unvermeidlich. Ein-, Fünf- und Zehnjahrespläne auf dem Gebiet der Wirtschaftsentwicklung; nationale Erziehungspläne; der Bau neuer Hauptverkehrswege; die Umwandlung der Farmen; das Programm zur Verbesserung der technologischen und kulturellen Ausrüstung Lateinamerikas; ein Programm für stratosphärische Kommunikation; die Eugenik – all das wird zu Kontroversen, heftigen Wahlkämpfen und leidenschaftlichen Debatten in den Zeitungen und in öffentlichen Versammlungen führen.
Denn Sowjetamerika wird das Pressemonopol der Spitze der sowjetrussischen Bürokratie nicht kopieren! Obgleich Sowjetamerika alle Druckereien, Papierfabriken und Verteilungsmittel verstaatlichen würde, wäre das eine bloß negative Maßnahme. Es würde einfach bedeuten, dass das Privatkapital nicht mehr entscheiden dürfte, welche Publikationen realisiert werden, ob sie fortschrittlich oder reaktionär, gegen oder für die Prohibition, puritanisch oder pornographisch sein dürfen. Sowjetamerika wird die Frage, wie die Macht der Presse in einem sozialistischen Regime funktionieren soll, auf neue Weise lösen müssen. Das wäre auf der Grundlage der Stimmenverteilung bei den Sowjetwahlen möglich. Auf diese Weise würde das Recht jeder Gruppe von Bürgern, sich der Macht der Presse zu bedienen, von ihrer numerischen Stärke abhängen – ein Prinzip, das auch auf die Benutzung von Versammlungsräumen, auf die Verteilung von Sendezeiten und so fort angewandt werden könnte. Über Herstellung und politischen Gehalt von Publikationen würde dann nicht das persönliche Bankkonto, sondern würden Gruppen-Ideen entscheiden. Das mag numerisch kleinen, aber wichtigen Gruppen nicht gerecht werden, doch bedeutet es, dass jede neue Idee, wie überall in der Geschichte, gezwungen ist, ihr Daseinsrecht zu beweisen.
Das reiche Sowjetamerika kann riesige Geldmittel für Forschung und Erfindungen, für Entdeckungen und Experimente auf allen Gebieten bereitstellen. Sie werden Ihre kühnen Architekten und Bildhauer, Ihre unkonventionellen Dichter und kühnen Philosophen nicht vernachlässigen.
In der Tat werden die Sowjet-Yankees der Zukunft auf eben den Gebieten, auf denen Europa bisher Ihr Meister war, Führer Europas sein. Europäer haben eine geringe Vorstellungskraft bezüglich des großen Einflusses, den die Technik auf das menschliche Schicksal ausübt, und sie haben sich, besonders seit der Krise, eine Haltung höhnischer Überlegenheit gegenüber dem »Amerikanismus« zu eigen gemacht. Doch der Amerikanismus markiert die wahre Trennungslinie zwischen dem Mittelalter und der modernen Welt.
Bis jetzt hat sich Amerikas Eroberung der Natur so heftig und leidenschaftlich vollzogen, dass Sie keine Zeit hatten, Ihre Weltanschauungen zu modernisieren oder Ihre eigenen künstlerischen Formen zu entwickeln. Daher sind Sie den Lehren von Hegel, Marx und Darwin feindlich gesinnt. Die Verbrennung von Darwins Werken durch die Baptisten von Tennessee ist nur ein plumper Ausdruck der amerikanischen Abneigung gegen die Entwicklungslehren. Diese Einstellung herrscht nicht nur auf Ihren Kanzeln. Sie gehört noch zu Ihrem allgemeinen geistigen Habitus.
Ihre Atheisten wie Ihre Quäker sind dezidierte Rationalisten. Und Ihr Rationalismus ist durch den Empirismus und Moralismus geschwächt. Er hat nichts von der schonungslosen Vitalität der großen europäischen Rationalisten an sich. Daher ist Ihre Philosophie noch antiquierter als Ihr Wirtschaftssystem und Ihre politischen Einrichtungen.
Heute sind Sie völlig unvorbereitet dazu gezwungen, sozialen Widersprüchen ins Auge zu sehen, wie sie unvermutet in jeder Gesellschaft entstehen. Sie haben die Natur mit Hilfe der Werkzeuge erobert, die Ihr Erfindergeist geschaffen hat, nur um zu sehen, dass Ihre Werkzeuge Sie beinahe selbst vernichtet haben. Im Gegensatz zu allen Ihren Hoffnungen und Wünschen hat Ihr unerhörter Reichtum ein unerhörtes Elend erzeugt. Sie haben entdeckt, dass die soziale Entwicklung keinem einfachen Schema folgt. Daher sind Sie der Dialektik in die Arme getrieben worden – um dort zu bleiben.
Es gibt kein Zurück von ihr zu dem Denken und Handeln, das im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert vorherrschte. Während die romantischen Schwachköpfe Nazideutschlands von der Wiederherstellung der alten Rasse der europäischen Urwälder in ihrer ursprünglichen Reinheit oder, besser, Unflätigkeit träumen, werden die Amerikaner, nachdem sie ihre Wirtschaft und Kultur fest in die Hand genommen haben, wirklich wissenschaftliche eugenische Verfahren anwenden. Innerhalb eines Jahrhunderts wird Ihrem Schmelztiegel von Rassen eine neue Menschenart entsteigen, die erste, die des Namens Mensch würdig sein wird.
Auszug, Nach Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der Revolution, Frankfurt am Main 1981, S. 244-254
Zuerst erschienen bei Sozialistische Klassiker 2.0