Wen sollten Sozialist:innen wählen?
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Die Umfragen zur Bundestagswahl sagen einen massiven Rechtsruck voraus. Sollten Sozialist:innen die bittere Pille schlucken und versuchen, Die Linke im Bundestag zu halten? Oder sollten sie unabhängige, revolutionär-sozialistische Arbeiter:innen an der Wahlurne unterstützen?
Die Bundestagswahl am 23. Februar wird voraussichtlich den rechtesten Bundestag seit mindestens einer Generation hervorbringen. Die extrem rechte AfD steht in den Umfragen momentan bei über 20 Prozent, aufbauend auf ihren Wahlsiegen bei den Landtagswahlen letzten Herbst und der Unterstützung durch Elon Musk. Noch verstörender ist, dass die konservative CDU/CSU, die bei etwa 30 Prozent liegt, viele Programmpunkte der AfD übernommen hat. Vor knapp zwei Wochen stützte sich die Union auf die AfD, um im Bundestag eine Resolution durchzubringen, die das Recht auf Asyl angreift. Hunderttausende protestierten seitdem gegen den Rechtsruck – aber alle großen Parteien sind immer weiter nach rechts gerückt.
In diesem Zusammenhang gibt die reformistische Partei Die Linke wieder schwache Lebenszeichen von sich. Nach Jahren der Stagnation und des Niedergangs macht sich in ihren Reihen wieder ein gewisser Optimismus breit. Aktuelle Umfragen zeigen die Partei bei fünf Prozent, womit sie in den Bundestag einziehen würde. Vor fünf Jahren hatte es Die Linke nur durch drei Direktmandate geschafft, die Fünf-Prozent-Hürde zu umgehen. Schaffen sie es diesmal wieder?
Neue Gesichter
Die Partei hat neue Gesichter wie Ferat Koçak und Nam Duy Nguyen, die beide bei antifaschistischen Demonstrationen von der Polizei attackiert wurden. Doch die Kampagne der Linkspartei konzentriert sich nicht auf beliebte junge Aktivist:innen, sondern auf drei reformistische Politiker mit langjähriger Erfahrung in der Verwaltung des kapitalistischen Staates. Bodo Ramelow ist der ehemalige Ministerpräsident Thüringens, Dietmar Bartsch war lange Co-Vorsitzender der Linkspartei-Bundestagsfraktion, und Gregor Gysi ist der historische Anführer der Partei. Alle drei – und im Grunde genommen alle höheren Linkspartei-Vertreter:innen – unterstützen seit Langem aktiv die israelische Apartheid.
Einige der rechtesten Figuren der Linkspartei, wie Berlins ehemaliger stellvertretender Bürgermeister Klaus Lederer, sind im Oktober beleidigt aus der Partei ausgetreten. Sie beschuldigten Die Linke als „antisemitisch“, weil sie Israels Genozid in Gaza nicht ausreichend unterstützt hätten. (In Wahrheit haben sie nur nach besseren Karriereoptionen gesucht, und einige sind schon in der SPD wieder aufgetaucht.) Zugleich hat Die Linke den palästinensischen Aktivisten Ramsis Kilani wegen seiner Solidaritätsarbeit ausgeschlossen. Unter der neuen Führung von Ines Schwerdtner, der ehemaligen Chefredakteurin von Jacobin Deutschland, will sich die Partei auf ökonomische Probleme konzentrieren, während die Frage des Imperialismus völlig ausgeklammert wird.
Die Linke hat angeblich 18.000 neue Mitglieder gewonnen – das klingt nach viel, auch wenn sie dadurch nur auf etwa 60.000 kommen würde, was der Größe ihrer Mitgliedschaft vor 10 oder 15 Jahren entspricht. Tatsächlich sieht man viele neue junge Leute, die an Haustüren klopfen. Doch riecht das auch etwas nach Verzweiflung – die letzte Hoffnung, jemanden irgendwie linkes im Bundestag zu halten. Weit entfernt davon, eine Stimme der Fundamentalopposition zu sein, wollen die wichtigsten Kandidat:innen alle (wieder) Teil neoliberaler Regierungskoalitionen werden, in denen sie weiter Privatisierungen, Abschiebungen und Zwangsräumungen durchführen können, wie es Die Linke jeden Tag seit ihrer Gründung getan hat. In Sachsen hat die Partei beispielsweise einer CDU-SPD-Minderheitsregierung ins Amt verholfen.
Uns wird gesagt, eine Stimme für Die Linke würde „die Rechten stoppen“, indem so sichergestellt werden würde, dass sich jemand, irgendjemand im Bundestag dem rassistischen Überbietungswettbewerb entgegenstellt, den alle anderen Parteien betreiben. Das Problem ist jedoch, dass Die Linke sich nie konsistent gegen Rassismus gestellt hat. Ramelow und andere „linke“ Minister:innen haben tausende Menschen abgeschoben und werden das weiter tun, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen. Wenn eine Partei, die sich selbst „Die Linke“ nennt, behauptet, dass Abschiebungen unvermeidbar und sogar nötig sind, wird dadurch Rassismus normalisiert. Schlimmer noch: Wenn die Linke Koalitionen mit SPD und Grünen eingeht und sogar mit der CDU Deals abschließt, kann sich die AfD so als „Alternative“ zum All-Parteien-Kartell darstellen.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist ebenfalls keine Alternative. Nach ihrem Höhenflug im Sommer, als sie Die Linke bei den Wahlen zum EU-Parlament und in den ostdeutschen Bundesländern überholte, bleibt Wagenknechts neue Partei in den Umfragen aktuell bei fünf bis sechs Prozent stecken. Dafür gibt es viele Gründe, wie die autoritären Strukturen, die nur einem kleinen Prozentsatz von Unterstützer:innen erlauben, Parteimitglieder zu werden. Der Hauptgrund liegt jedoch darin, dass BSW schon jetzt in zwei Landesregierungen sitzt – wenn sie neben CDU und SPD regieren können, können sie keine Alternative zur bisherigen Politik sein.
Momentan kritisiert Wagenknecht die CDU von rechts und behauptet, dass deren Vorschläge für einen Migrationsstopp nicht weit genug gehen würden. Paradoxerweise ist sie die einzige bekanntere deutsche Politikerin, die sich gegen die Grausamkeiten in Gaza ausspricht und für einen Waffenstillstand eintritt, was die unheimliche Stille der Linkspartei nur noch mehr betont.
Die Resignation der radikalen Linken
Was sollten Sozialist:innen in dieser Situation tun? Es wäre leicht, sich einfach an Die Linke ranzuhängen und zu hoffen, die jungen Leute zu gewinnen, die an Haustüren klopfen. Das ist dasselbe, was eine Vielzahl von Gruppen mit unterschiedlichen revolutionär-sozialistischen Hintergründen in den letzten 15 Jahren getan haben. Das Problem dabei ist, dass man dafür Ausreden für die ständigen Verrate der Partei finden muss. Viele junge Aktivist:innen treten der Linkspartei bei und kehren ihr innerhalb weniger Monate wieder den Rücken zu – und antikapitalistische Gruppen, die in der Partei verankert sind, verlieren sie aus den Augen. Viele Beschäftigte fühlen sich vom politischen System überhaupt nicht repräsentiert – sie bildeten die Basis für Revolten in einer Reihe von Ländern. Ein Fokus auf Die Linke macht es unmöglich, diese Sektoren anzusprechen.
Im letzten Jahr gab es einen gewissen Exodus sozialistischer Gruppen aus der Linkspartei – darunter auch The Left Berlin. Nachdem das Netzwerk Marx21 vor einem Jahr in drei Teile zerfiel, arbeitet der damals rechte Flügel des Netzwerks (der den Namen Marx21 behalten hat) weiterhin in der Linkspartei. Der linke Flügel, Revolutionäre Linke (RL), rief zu einem klaren Bruch mit der Partei auf. Die Mitte, Sozialismus von unten (SvU), machte bis zu ihrem Austritt einige Zickzacks: Sie warteten fast ein Jahr, bevor sie ihren Austritt verkündeten, nachdem Kilani im Dezember ausgeschlossen worden war. Das prominenteste Gesicht von SvU, die ehemalige Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz, erklärte ebenfalls ihren Austritt – aber ihr Statement war weit davon entfernt, ein revolutionärer Bruch zu sein. Sie drückte die Hoffnung aus, dass Die Linke „an ihre Stärke der ersten Jahre anknüpfen könnte“ (als die Partei Teil mehrerer neoliberaler Regierungen war!), und fügte hinzu, sie würde „die Linke auch wählen und ihre Wahl empfehlen“.
RL und SvU haben mit der Linkspartei gebrochen – aber immer noch rufen sie dazu auf, die reformistische Partei zu wählen. Ihre „kritische Unterstützung“ klingt mehr nach Resignation (man muss doch irgendjemanden wählen!) als nach revolutionärer Taktik. Beide Gruppen haben dazu aufgerufen, „ohne Illusionen“ Die Linke zu wählen (SvU nutzt dieselbe Formulierung in einem Artikel in ihrem Druckmagazin, der nicht online verfügbar ist). Beide behaupten, dass Die Linke sich gegen Rassismus stellen wird, wenn sie in den Bundestag kommt. Aber wie wir gesehen haben, ist das eine Illusion.
Andere Organisationen wie die Sozialistische Organisation Solidarität (Sol), die deutsche Sektion des Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI), und die Sozialistische Alternative (SAV), Sektion der Internationale Sozialistische Alternative (ISA), haben ihre langjährige Arbeit in der Linkspartei zurückgeschraubt, rufen aber nichtsdestotrotz dazu auf, für die Partei zu stimmen. Ihre Hypothese ist, dass die Linke in eine grundsätzlich andere Partei verwandelt werden könnte, als sie es seit ihrer Gründung war. Die Gruppe Arbeiter:innenmacht (GAM), die deutsche Sektion der Liga für die Fünfte Internationale (LFI), hat bisher noch kein Statement zur Wahl abgegeben, aber es scheint wahrscheinlich, dass sie erneut zur Wahl der Linkspartei aufrufen werden, wie sie es seit vielen Jahren machen, ohne der Partei beigetreten zu sein. (Anmerkung der Übersetzung: Nach der ursprünglichen Veröffentlichung dieses Artikels folgte ein Aufruf zur kritischen Wahlunterstützung für Die Linke.)
Unabhängige Kandidaturen
Wir hingegen sind der Meinung, dass Sozialist:innen bei dieser Wahl eine revolutionäre Alternative aufstellen sollten. Daher haben wir uns als Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), die Klasse Gegen Klasse herausgibt, mit der Revolutionär Sozialistischen Organisation (RSO) zusammengetan, um unabhängige Arbeiter:innenkandidaturen aufzustellen: Inés Heider und Franziska Thomas in Berlin sowie Leonie Lieb in München. Sie treten mit einem Programm zum Stopp des Genozids in Gaza und zur Enteignung von Großkapitalist:innen an. Trotz unserer extrem begrenzten Ressourcen hat die Kampagne viele positive Reaktionen hervorgerufen: Leute freuen sich, dass es Kandidat:innen gibt, die die obszöne Korruption der Politiker:innen ablehnen und nur einen Arbeiter:innenlohn annehmen wollen.
Die Kampagne ist nicht auf RIO und RSO beschränkt. Sie ist ein offener Vorschlag an die radikale Linke – insbesondere RL, SvU, SOL, SAV, GAM und ähnliche Gruppen – zusammenzuarbeiten, damit wir unseren Stimmen in einer Zeit Gehör verschaffen können, in der die bürgerliche Gesellschaft einen besonderen Fokus auf Politik legt. Dabei geht es uns nicht nur darum, Kandidaturen aufzustellen: Revolutionäre Sozialist:innen verschiedener Couleur können zusammenarbeiten, ohne ihre Differenzen zu verstecken, um gegen den Rechtsruck zu kämpfen. So hat die Wahlkampagne beispielsweise dazu beigetragen, zur Blockade des AfD-Parteitags in Riesa zu mobilisieren. Die kleinen Brüche weg von der Linkspartei waren progressiv – aber sie sind nur ein halber Bruch, wenn diese Aktivist:innen weiter für eine reformistische Partei werben und abstimmen, die den kapitalistischen Staat mitverwaltet. Wie Rosa Luxemburg vor mehr als 100 Jahren erklärte, haben Reformist:innen und Revolutionär:innen grundsätzlich verschiedene Ziele. Die 15 Jahre seit der Gründung der Linkspartei haben gezeigt, dass Revolutionär:innen sich keinen Gefallen tun, wenn sie sich den Massen gegenüber als linker Flügel des Reformismus präsentieren. Stattdessen müssen wir alles Mögliche tun, um die Wahl dafür zu nutzen, dass antikapitalistische Ideen im politischen Überbau sichtbar werden.
Dieser Artikel erschien zuerst auf unserer englischsprachigen Schwesterseite Left Voice.