Wem gehört die Stadt?

22.11.2012, Lesezeit 10 Min.
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Von Berlin wird behauptet, es sei „arm aber sexy“ (wie nach den Worten des regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit). Doch in den letzten Jahren wird die Stadt nicht nur spießiger, sondern vor allem teurer. Alleine im Jahr 2011 sind die Mieten um 8-9 Prozent gestiegen – der Leerstand wird auf lediglich 2,7 Prozent geschätzt[1]. Die nun in die Schlagzeilen geratene „Wohnungsnot“ ist nur Teil des allgemeinen Problems, dass selbst in der Hauptstadt des deutschen Imperialismus für die Meisten nur schlechter Wohnraum vorhanden ist.

Jahrelang gab es immer wieder Proteste gegen dieses Phänomen der „Gentrifizierung“, aber nur als Teil von Kampagnen der linken Szene. Es war quasi die „erste Welle“ der GentrifiziererInnen, wie die SoziologInnen sagen – also hauptsächlich Studierende und KünstlerInnen, die Cafés und Galerien aufmachen und die Viertel erst für Leute mit viel Geld interessant machen –, die gegen die „zweite Welle“ protestierte. Nie aber erlebte Berlin große Proteste der unmittelbar Betroffenen.

Doch kurz vor den Berliner Senatswahlen am 3. September 2011 demonstrierten rund 5.000 Menschen gegen steigende Mieten. Seitdem haben sich mehrere kleine, aber bedeutende Ansätze für selbstorganisierte Proteste der Betroffenen in Berlin entwickelt. Gerade entstehen zudem auch Proteste gegen die Wohnungsnot der Studierenden in Städten wie Hamburg oder München.

Proteste

Am 24. Mai dieses Jahres errichteten EinwohnerInnen am Kottbusser Tor ein Protestcamp, das „Gecekondu“ (ein türkisches Wort für eine informelle Siedlung am Rande einer Großstadt). Der Name war auf Türkisch, und viele protestierende Frauen trugen Kopftücher, doch es war kein rein „türkischer“ Protest. Verschiedenste Menschen – jung und alt und aus verschiedenen Herkunftsländern – arbeiteten zusammen, weil sie ihre Mieten nicht mehr bezahlen konnten, und weil immer mehr NachbarInnen in die Randgebiete ziehen mussten.

Mit „Lärmdemos“ mit Töpfen machten sie auf ihre Forderungen aufmerksam, und viele PolitikerInnen mussten ihnen Gehör schenken. Sie schlossen ebenfalls Bündnisse mit den linken Kampagnen gegen Gentrifizierung. Eine Immobiliengesellschaft musste sogar besonders hohe Betriebsrechnungen zurückziehen. Und am 22. Oktober versammelten sich 150 Menschen vor der Wohnung einer 5-köpfigen Familie, und verhinderten erfolgreich die Zwangsräumung ihrer Wohnung[2]. Die AktivistInnen am Kotti hatten sich bereits im Jahr 2011 zusammengefunden, und fühlten sich von den Zeltstädten am Tahrir-Platz in Ägypten oder an der Puerta del Sol im Spanischen Staat inspiriert. Deswegen sind diese Proteste auch ein indirekter Ausdruck der weltweiten kapitalistischen Krise, vorangetrieben durch die Proteste in anderen Ländern.

Am 29. Juni 2012 besetzten SeniorInnen aus Berlin-Pankow ihre Begegnungsstätte in der Stillen Straße 10. Der Bezirk hatte die Schließung des viel genutzten Hauses beschlossen. Die „ältesten BesetzerInnen der Welt“ blieben fast vier Monate im Haus, und als Teil der Solidarität mit anderen Protesten nahmen sie an autonomen Demonstrationen oder an Graffiti-Workshops bei Jugendzentren teil.

Ursachen

Die unmittelbare Ursache für die Wohnungskrise in Berlin ist die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus. Der Senat aus SPD und PDS bzw. Linkspartei hat in seinen zehn Jahren an der Regierung rund 150.000 Wohnungen an private InvestorInnen verkauft. In der gleichen Zeit sind keine neuen Sozialbauwohnungen errichtet worden. Das zeigt wieder, dass eine „rot-rote“ Regierungspolitik sich nicht von einer „schwarzen“ unterscheidet – außer, dass sich die „Regierungssozialisten“ für ihre Politik entschuldigen.

Zusätzlich kommen natürlich junge MigrantInnen aus aller Welt nach Berlin, die auf der Suche nach billigem Wohnraum sind. Darunter sind nicht nur Studierende und die KünstlerInnen, die die Stadt so „sexy“ machen, sondern auch Flüchtlinge vor den Auswirkungen der Wirtschaftskrise aus der europäischen Peripherie. Wegen der erhöhten Nachfrage wird immer mehr mit Wohnungen spekuliert. Schließlich sind auch Immobilien in der deutschen Hauptstadt eine sinnvolle Investition für KapitalistInnen aus aller Welt, die nach sicheren Anlagemöglichkeiten suchen. Viele der neuen Luxuswohnungen werden deswegen auch nicht zum Wohnen verwendet.

Doch die SpekulantInnen sind nicht das Grundproblem (die TouristInnen erst recht nicht!). Das fundamentale Problem ist, dass Wohnraum im Kapitalismus dazu dient, Profite zu machen. Ob Wohnungen zu diesem Zweck vermietet werden oder leer stehen, darüber entscheiden nur der Zwang der BesitzerInnen, ihr Kapital zu vermehren, und die konkreten wirtschaftlichen Umstände, in denen sie diesem Zwang nachkommen. Das führt zu solchen Absurditäten, dass eine Spekulationsblase im Immobilienmarkt in den USA (also der Bau von zu vielen Häusern, was ein Auslöser für den Ausbruch der Wirtschaftskrise war) zum Anstieg der Obdachlosigkeit geführt hat. Menschen haben keine Häuser, weil es zu viele Häuser gibt!

Diese Absurdität des Kapitalismus beschrieben Karl Marx und Friedrich Engels schon im Kommunistischen Manifest: „In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt.“[3] Es ist, heute wie damals, erst der Abriss von Häusern in den USA, der den Markt wieder leicht ankurbelt. Es ist erst die Zerstörung von Reichtum, die die Krise der Bourgeoisie im Kapitalismus lösen kann.

Perspektiven

Die bisherigen Beispiele zeigen, dass vom Ausgang der nächsten Wahlen nichts zu erhoffen ist – nur der selbstorganisierte Kampf der Betroffenen kann die steigenden Mieten aufhalten. Diese radikalen Protestformen müssen verallgemeinert werden: Die Erfahrungen vom Kotti und von der Stillen Straße bieten ein kleines, aber nachahmenswertes Beispiel dafür, wie MieterInnen sich selbst organisieren und für ihre eigenen Rechte kämpfen können.

Diese Selbstorganisation muss auf MieterInnenkomitees hinauslaufen, die die Entwicklung der Mieten kontrollieren und Mieterhöhungen und Räumungen mit „Mietstreiks“ (wie es sie schon Anfang der 30er Jahre in Berlin gab) und anderen kollektiven Kampfformen verhindern können. Dazu müssen nicht nur alle MieterInnen in einem Viertel, sondern auch die Massenorganisationen der Unterdrückten, vor allem die Gewerkschaften mit ihrer Mobilisierungs- und Streikkraft, eingebunden werden. Nebenbei gesagt können solche kollektiven Kampfformen und Elemente der Selbstorganisation auch die betrieblichen Kämpfe der ArbeiterInnen befruchten.

Die AktivistInnen am Kotti und aus der Stillen Straße konnten einige Erfolge erzielen: Letztere haben ihr Haus gerettet, denn der Bezirk wird es der „Volkssolidarität“ übergeben; erstere haben durchgesetzt, dass am 13. November eine Konferenz zum sozialen Wohnungsbau im Berliner Abgeordnetenhaus stattfand. Doch diese einzelnen Erfolge werden die allgemeine Gentrifizierung nicht aufhalten. Um Wohnraum zu einem Grundrecht aller Menschen zu machen, ist es notwendig, das kapitalistische Privateigentum aufzuheben.

Vor diesem Kontext sind die Worte von Friedrich Engels vor 150 Jahren immer noch aktuell: „Die sogenannte Wohnungsnot, die heutzutage in der Presse eine so große Rolle spielt, besteht nicht darin, daß die Arbeiterklasse überhaupt in schlechten, überfüllten, ungesunden Wohnungen lebt. Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches; sie ist nicht einmal eins der Leiden, die dem modernen Proletariat, gegenüber allen frühern unterdrückten Klassen, eigentümlich sind (…). Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen.“[4]

Grenzen

Und das ist genau der Knackpunkt: Der Kampf gegen Kapitalismus dreht sich nicht in erster Linie um den Wohnraum. Wie bereits Friedrich Engels in seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage“ darlegte, geht es beim Kampf zwischen MieterInnen und VermieterInnen um einen Kampf zur Verteilung des bereits produzierten Reichtums, nicht – wie beim Arbeitsprozess – um den noch zu schaffenden Reichtum. ArbeiterInnen verkaufen den Hausbesitzenden nicht ihre Arbeitskraft. Sie geben ihnen einen Teil des Lohns, den sie bereits aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft erhalten haben.

Der Hebel zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise liegt deswegen an den Orten, wo tagtäglich Reichtum geschaffen wird, nämlich an den Arbeitsplätzen. Manche Autonome argumentieren, dass es die ArbeiterInnenklasse nicht mehr gibt, und orientieren sich deswegen am Kampf im Kiez statt am Kampf am Arbeitsplatz. Die Idee ist nicht neu, weshalb Engels schon vor 150 Jahren die bereits zitierte Polemik schrieb. Damals wie heute gründete die Ablehnung einer auf die ArbeiterInnenklasse ausgerichteten Politik darin, dass die lohnabhängige Bevölkerung selbst kein Bewusstsein ihrer Existenz und Bedeutung als Klasse hatte bzw. nicht mehr hat, wodurch sie auch für viele AktivistInnen der radikalen Linken relativ unsichtbar blieb bzw. wieder ist. Damals stand sie erst am Anfang ihrer Geschichte; gegenwärtig steht sie am Ende einer ganzen Reihe von epochalen Niederlagen, wie den stalinistischen Degenerationen im „Osten“ und vor allem den 30 Jahren Bürgerlicher Restauration weltweit[5].

Doch Tatsache ist, dass die ArbeiterInnenklasse mit nun über drei Milliarden Menschen größer ist als je zuvor – gerade wegen dieser Größe ist sie differenzierter als je zuvor, und ihre Subjektivität befindet sich aus diesem und anderen Gründen in einer historischen Krise. Deswegen ist es notwendig, die Kämpfe um Wohnraum mit einer Klassenperspektive des Kampfes aller Lohnabhängigen für mehr und bessere Arbeitsplätze und -bedingungen zu verbinden. Am Ende dürfen diese Kämpfe jedoch nicht auf – zunehmend utopisch werdende – Tagesziele beschränkt bleiben, sondern müssen sich stattdessen in eine revolutionäre Richtung weiterentwickeln.

Dazu gehören Forderungen wie die Schaffung von Arbeitsplätzen durch den massiven Aufbau von staatlichen Wohnungen, finanziert durch die Besteuerung der Reichen. Oder eine gleitende Lohnskala, die an die Entwicklung der Preise gebunden ist (und damit das nicht zu einem Geschenk für die HausbesitzerInnen wird, müssen die bereits erwähnten MieterInnenkomitees die Mieten kontrollieren). Mit diesen Perspektiven können die kleinen Erfolge der Proteste gegen Gentrifizierung in Berlin zu einem strategischen Sieg der ArbeiterInnen und Jugendlichen werden.

Fußnoten

[1]. TAZ: Gefühlte Wohnungsnot bestätigt.

[2]. Indymedia: Zwangsräumung in Kreuzberg wurde verhindert.

[3]. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei.

[4]. Friedrich Engels: Zur Wohnungsfrage.

[5]. Die „bürgerliche Restauration“ wird mit dem Begriff des „Neoliberalismus“ nur grob, verzerrt und sehr beschränkt beschrieben. Für eine genauere Auseinandersetzung siehe den Artikel aus Klasse Gegen Klasse Nr.1: An den Grenzen der ‚bürgerlichen Restauration‘.

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