Weltwirtschaftskrise: Die Schulden und der Tag danach
In diesem Artikel analysiert die marxistische Ökonomin Paula Bach die tiefgründigen wirtschaftlichen Tendenzen der aktuellen Krise und analysiert die Szenarien für die Zukunft.
Dieser Artikel erschien zuerst am 10. Mai 2020 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.
Der gegenwärtige globale Wirtschaftskrise – bereits die schlimmste seit der Großen Depression – entpuppt sich als ein Zusammenprall von im Wesentlichen zwei Kräften. Die erste ist die Covid-19-Pandemie. Eine Tatsache, die streng genommen „exogen“ (also außerhalb) der Wirtschaft ist, aber nicht außerhalb der spezifischen Weise, in der der Kapitalismus die Produktivkräfte entwickelt. Damit meinen wir die Verachtung gegenüber der Natur, die die Agrarindustrie seit Jahrzehnten an den Tag legt, den für den Neoliberalismus typischen anhaltenden Zerstörungsprozess des öffentlichen Gesundheitswesens, die Geringschätzung der epidemiologischen Forschung und die Gleichgültigkeit angesichts der Warnungen vor möglichen Epidemien neuer Coronaviren, die im menschlichen Körper ausbrechen könnten(1). Die zweite Kraft: die Schwäche der wirtschaftlichen Erholung nach der Krise 2008/2009. Eine Schwäche, die seit mehr als zehn Jahren in zwei Gruppen von Faktoren zum Ausdruck kommt, die sich, wie wir sehen werden, gegenseitig ergänzen. Auf der einen Seite das verlangsamte Wachstum des Welthandels – ein Trend, der den protektionistischen Maßnahmen von Trump vorausging – das verlangsamte Wachstum der Anlageinvestitionen in fixes Kapital und das verlangsamte Wachstum der Arbeitsproduktivität – trotz der beeindruckenden Entwicklung neuer Technologien. Und auf der anderen Seite das explodierende Wachstum sowohl der privaten als auch der öffentlichen Verschuldung.
Die Pandemie wirkt ihrerseits wie eine Art lähmende Substanz, die sich über die von der Globalisierung selbst geschaffenen Kanäle ausbreitet, beinah wie eine „Rache des Schicksals“. Die mangelnde Vorbereitung im Gesundheitsbereich machte es erforderlich, die Wirtschaft – und insbesondere die internationalen Ströme von Menschen und Waren – aus Angst vor einem Zusammenbruch der Gesundheitssysteme, einer humanitären Katastrophe und dem Kontrollverlust durch die Staaten zu stoppen. Der Shutdown erschüttert die Volkswirtschaften insgesamt, trifft aber die am stärksten internationalisierten Sektoren besonders hart. Das sind einerseits die globalen Wertschöpfungsketten – darin vor allem Elektro-, Automobil- und Chemieunternehmen – und andererseits der Dienstleistungssektor – darin vor allem der Tourismus, die Luftfahrt, die Hotellerie und die Gastronomie. Der Fast-Stillstand der Wirtschaft hat natürlich Auswirkungen auf den Erdölsektor, der selbst Opfer des akuten internationalen Wettbewerbs insbesondere zwischen Saudi-Arabien, Russland und den Vereinigten Staaten ist.
Was bisher – einleitend – gesagt wurde, veranschaulicht einen Teil der gegenwärtigen Dynamik, die aber in gewisser Weise bereits der Vergangenheit angehört. Was uns hier besonders interessiert, ist die Art und Weise, wie diese genannten kritischen Aspekte miteinander verflochten sind und sich mit den Schwächen zu verbinden beginnen, die von der anderen „Kraft“, d.h. von den Bedingungen der Periode seit dem Zusammenbruch von Lehman, hinterlassen wurden(2). Mit anderen Worten: Wir sind daran interessiert, die Dynamik zu analysieren, die die Krise annehmen kann, indem wir ihre kritischen Kerne nachverfolgen und die wichtigsten Fragen und Widersprüche, die die Zukunft prägen, so explizit wie möglich aufzustellen.
Unternehmensschulden: das schwache Glied
Es besteht eine starke Überschneidung zwischen den von dem Pandemieschock am stärksten betroffenen Wirtschaftssektoren und den Unternehmensschulden der Nicht-Finanzunternehmen. Als Vorgeschichte sei angemerkt, dass im Gegensatz zur Krise von 2008/2009 die meisten Schulden des privaten Sektors derzeit nicht in Immobilien- und Hypothekenkrediten, sondern in Krediten an den Unternehmenssektor konzentriert sind. Wie ein auf OECD-Daten basierender Artikel in der Financial Times bezeugt, haben Unternehmen über ein ganzes Jahrzehnt hinweg billige Schulden angehäuft und damit den weltweiten Bestand an Unternehmensanleihen von Nicht-Finanzunternehmen auf einen historischen Höchststand von 13,5 Billionen US-Dollar am Ende des vergangenen Jahres angehäuft, oder real doppelt so viel wie im Dezember 2008. Gleichzeitig stiegen nach Schätzungen der US-Notenbank die Unternehmensschulden in den USA von 3,3 Milliarden Dollar vor der Krise 2008/2009 auf 6,5 Milliarden Dollar im Jahr 2019. China und die USA führen mit Abstand die Weltrangliste der zehn Länder mit der größten Unternehmensverschulung der Nicht-Finanzunternehmen an. Dem Artikel der Financial Times zufolge liegt die Ursache dieses Phänomens darin, dass aufgrund der von den Zentralbanken durchgeführten Zinssenkung nach der Pleite von Lehman die Renditen der sichersten Staatsanleihen einbrachen und Investor*innen Kredite an risikoreichere Unternehmen als eine Möglichkeit zur Gewinnerzielung ansahen. Ferner wird im besagten Artikel darauf hingewiesen, dass dieses Schuldenuniversum sich in zwei Teile aufspalten lässt: einerseits mittlere Kreditnehmer*innen, die bis vor wenigen Monaten weiterhin Kredite aufnehmen und Schulden zurückzahlen konnten, und andererseits „Zombie“-Kreditnehmer*innen – eins von sechs US-Unternehmen fällt darunter – die zwar nicht genug Gewinne erzielen, um die Zinszahlungen zu decken, die Krise jedoch weiter hinausschieben konnten solange die Schuldenmärkte ihnen weiterhin die Refinanzierung ermöglichten. In einem anderen Artikel der Financial Times steht, dass Unternehmen wie Alphabet, Apple, Facebook und Microsoft Ende 2019 über insgesamt 328 Milliarden Dollar in bar verfügten. Dies deutet darauf hin, dass diese Art von Unternehmen in der Tat als Kreditgeber für andere Sektoren fungieren, die einen großen Teil der Schulden konzentrieren, darunter auch solche, die der so genannten „Old Economy“ angehören. Der Artikel der Financial Times weist auch darauf hin, dass diese Veränderung der Struktur der Unternehmensverschuldung für das Finanzsystem als Ganzes etwas weniger riskant ist, da Banken nicht so stark von Unternehmensverschuldung betroffen sind wie Investitionsgesellschaften wie etwa Versicherungsgesellschaften, Pensionsfonds oder Investmentfonds. Sie warnt jedoch davor, dass die Banken einer ausgedehnten Bankrottwelle, die ihre Kreditausfälle erhöhen würde, nicht entgehen könnten.
Diese ganze Struktur wird in der von Covid-19 entfesselten Krise zu einer Zeitbombe. Im Prinzip werden 50 Prozent der globalen Unternehmensschulden von Agenturen wie Moody’s, S&P oder Fitch mit BBB bewertet. Dies bedeutet, dass diese Anleihen, obwohl sie als „Investment Grade“ – oder „von guter Qualität“ – betrachtet werden, sich als die schlechtesten in diesem Schuldenuniversum entpuppen, sodass eine Herabstufung der Note sie direkt in die Kategorie „Junk Bonds“ (zu Deutsch: Schrottanleihen) einordnet. Im Falle der USA haben 40 Prozent dieser Schulden ein Rating von BBB, während 22 Prozent der ausstehenden Schulden „Junk Bonds“ enthalten. Das bedeutet, dass fast zwei Drittel der Anleihen zu Unternehmen mit einem höheren Ausfallrisiko gehören, darunter viele Einzelhändler*innen(3). Und nicht nur die Schulden von bereits zuvor anfälligen Unternehmen sind von Zahlungsausfall bedroht, sondern auch die, die zuvor als relativ solide angesehen wurden. Einerseits sind Unternehmen, die unter massiven Auftragsstreichungen leiden, wie z.B. Hotels oder Luftfahrtunternehmen, sehr anfällig. Diese reichen von Kreuzfahrtunternehmen bis hin zu Giganten wie Carnival und Royal Caribbean, Titanen der Luftfahrt wie Boeing und American Airlines und Hoteliers wie die amerikanische American Ryman Hospitality Properties. Auf der anderen Seite standen die US-amerikanischen Energieunternehmen, die in hohem Maße von hohen Ölpreisen abhängig sind, bereits am Rande des Abgrunds und erleiden nun einen schweren Schlag, da die Preise für Futures negative Werte erreichen. Das bedrohte Universum ist jedoch noch größer. Automobil-, Elektronik- und Chemieunternehmen bleiben aufgrund von Unterbrechungen in den Lieferketten verwundbar. Auch Autovermietungen oder große Filmbetreiber wie die American National Amusements und viele andere haben bereits eine Herabstufung ihrer Schulden auf einen negativen Bereich erlebt. Außerdem werden die Banken höchstwahrscheinlich zuerst die großen Unternehmen unterstützen, sodass kleine und mittlere Betriebe wahrscheinlich am stärksten betroffen sein werden. Eine beunruhigende Entwicklung, weil letztere oft entscheidende Glieder in der Lieferkette sind, so dass es bei einem Bruch der Kette viel schwieriger sein wird, sie später wieder herzustellen. Natürlich ist dies auch eine Gelegenheit für eine gesteigerte Kapitalkonzentration durch die Übernahme dieser kleinen und mittleren Unternehmen durch Großkonzerne(4).
Angesichts dieses Szenarios – auch wenn die Bankensituation im Gegensatz zur Krise 2008/9 stabil bleibt – stellen die Unternehmensschulden einen der wichtigsten Schwachpunkte der Kette dar. Das Risiko einer Reihe von Kettenpleiten, die am Ende die Banken treffen, hängt wie ein Damoklesschwert über der Situation. Das ergibt sich in einem Kontext, in dem allein mit dem, was bisher geschehen ist, mit einer Schrumpfung des weltweiten BIP – in der optimistischen Vision des IWF – um drei Prozent gerechnet wird und die Prognose eines Rückgangs des Welthandels laut WTO zwischen 13 und 32 Prozent breit schwankt. Allein im paradigmatischen Fall der USA würde die Wirtschaft im besten Fall bis 2020 um sechs Prozent schrumpfen, während die Arbeitslosenprognosen von haarsträubenden 16 bis 20 Prozent reichen. Alles Daten, die – außer im Falle des Welthandels mit einer noch offenen Prognose – die Fallwerte der Krise von 2008/9 bei weitem übersteigen. In diesem Zusammenhang zielen die historisch beispiellosen Finanzspritzen, die – zusammen mit monetären und fiskalischen Maßnahmen – in den Vereinigten Staaten 5 Billionen Dollar übersteigen und in Deutschland und Italien aus fiskalischer Sicht 30 Prozent des BIP und in Spanien fast 20 Prozent des BIP ausmachen, darauf ab, diese explosive Verflechtung zwischen den Auswirkungen der Pandemie und einer der entflammbarsten Schwachstellen der Nach-Lehman-Ära zu vermeiden. Auch im Gegensatz zur Krise von 2008/2009 sind die gegenwärtigen Maßnahmen staatlicher Interventionen nicht dazu gedacht – es könnte auch nicht anders sein – die Wirtschaft zu reaktivieren, sondern den Rückgang einzudämmen. Die Fortsetzung des wirtschaftlichen Shutdowns könnte sich jedoch als stärker erweisen als die Anreize, und deshalb versuchen die meisten Regierungen, aus der „Quarantäne“ herauszukommen – mit unabsehbaren gesundheitlichen Folgen. Unter diesen Umständen erweist sich die „Dialektik“ zwischen Pandemie und Wirtschaft als eine der größten Unsicherheiten heute, die vielen Analyst*innen – so die Ironie von Michel Husson – keine Buchstaben des Alphabets übrig lässt, um die Zukunft zu beschreiben.
Die tiefe Bedeutung der Schulden
Um zu den Nichtfinanz-Unternehmensschulden zurückzukommen, so ist es interessant, ein wenig über ihre unmittelbaren Ursachen hinauszugehen. Das beschleunigte Wachstum dieser Art von Schulden in den mehr als zehn Jahren seit Beginn der Erholung nach der Lehman-Krise ist in der Tat fast ein Spiegelbild des geringen Wachstums der Anlageinvestitionen. Diese Verbindung ist ein tief greifendes Symptom der Koexistenz von großen Liquiditätsmassen auf der einen Seite und wenigen Quellen für rentable Investitionen auf der anderen Seite. Ein Widerspruch, der weitgehend „gelöst“ wird durch das Wachstum der Unternehmensverschuldung als privilegiertes und hochspekulatives Ziel für diese großen Liquiditätsmassen, die ihren Ursprung entweder in hochprofitablen Unternehmen mit Sitz in Ländern mit hohem Einkommen haben – wir haben es oben am Beispiel von Alphabet, Apple, Facebook und Microsoft festgemacht – oder in der „Quantitativen Lockerung“ der Zentralbanken, die die Privatbanken während der vergangenen Krise retteten, oder in den extrem niedrigen Zinssätzen, die u.a. im kapitalistischen „Zentrum“ seit mehr als einem Jahrzehnt in Kraft sind. Wie der marxistische Geograph David Harvey sagt, findet die Umwandlung von überschüssigem Geld, das sein „künftiges Pfund Fleisch“ fordert, innerhalb der Finanzinstitutionen statt (5). Diese Institutionen, wie z.B. Investmentfonds, Pensionsfonds, Banken und andere, leiten Kredite an Unternehmen – von denen viele keinen oder nur einen geringen realen Gewinn ausweisen – erhöhen jedoch künstlich den Preis der Unternehmensanteile, indem sie das Geld für den Rückkauf ihrer eigenen Aktien verwenden und so den Wert des Unternehmens steigern und größere Kapitalmassen anziehen. Ein Beispiel für diese Art von Operationen sind die als „Einhörner“ (also Unternehmen, die vor einem Börsengang oder -austritt, mit über einer Milliarde US-Dollar bewertet werden) bezeichneten technologischen Innovationsfirmen, die keine Gewinne ausweisen, sondern dank der konstanten Kapitaleinlagen neu bewertet werden und die in der vergangenen Periode bereits an Dynamik verloren hatten(6). Ein ganzes System, das ein fast unergründliches Gewirr aus spekulativen Wetten und der Schaffung von Abhängigkeit durch Kreditgeld darstellt und auf der Knappheit realer Investitionsquellen aufbaut.
Der Zusammenhang zwischen der Knappheit der Investitionsquellen und dem Schuldenwachstum – nicht nur der Verschuldung privater Nichtfinanz-Unternehmen, sondern auch der öffentlichen Verschuldung(7), die zusammen mit ersteren mehr als 80 Prozent des außerordentlichen Anstiegs der Gesamtverschuldung im letzten Jahrzehnt ausmachen, und auch der Verschuldung von Familien – sagt viel über die gegenwärtigen Grenzen des Kapitals für seine eigene Reproduktion aus. Diese Frage hat die Besonderheit, dass sie nicht nur Marxist*innen, sondern auch einen großen Teil des neukeynesianischen Mainstreams „verunsichert“. In einem kürzlich erschienenen Artikel fragt Martin Wolf, warum die heutige Weltwirtschaft so abhängig von Schulden geworden ist, und antwortet, dass sie einen „exzessiven Sparwillen“ in Bezug auf „Investitionsmöglichkeiten“ ausdrückt. Wolf fügt hinzu, dass die Zunahme der Ungleichheit in den USA zu einer starken Zunahme der „Ersparnisse“ der obersten ein Prozent in der Einkommensverteilung geführt hat, die nicht mit einer Zunahme der Investitionen einhergeht. Stattdessen, so sagt er, sinke die Investitionsrate trotz des Rückgangs der Realzinsen. Wir könnten hinzufügen: Ein Aspekt, der dem Phänomen der so genannten „Hysterese“ zugrunde liegt, das die Unfähigkeit der Wirtschaft erklärt, trotz der von den Zentralbanken eingeführten großen Geldmengen wieder das Produktionsniveau von vor der Krise zu erreichen. Dies ist ein charakteristisches Element der jüngsten Erholung und die Grundlage der These von der säkularen Stagnation. David Harvey argumentierte seinerseits – wenige Jahre vor der aktuellen Krise – dass das ununterbrochene Wachstum der Kapitalakkumulation angesichts der zunehmenden Knappheit rentabler Investitionsmöglichkeiten einen starken Druck auf die Form des Kapitals ausübt, die das Geld auf Kredit unbegrenzt vermehren kann. In diesem Zusammenhang entwickelt Harvey auch das Konzept der „Schuldknechtschaft“ als das bevorzugte Mittel des Kapitals, seine besondere Form der Sklaverei durch räuberische Kredite an Arbeiter*innen, andere Kapitalist*innen und die Staaten selbst durchzusetzen(8).
Diese tiefe Bedeutung des Anstiegs der räuberische Schulden als Kehrseite der fortschreitenden Verknappung lukrativer Investitionsquellen fand seinen ersten großen Ausdruck in der Krise 2008/2009, die sich später in Form einer großen Schwäche der Erholung nach der Lehman-Krise zeigte, die die Neukeynesianer*innen als „Hysterese“ oder „säkulare Stagnation“ definieren. Genauer gesagt handelt es sich um die Krise des Kapitalismus in seinem neoliberalen Format sowie der spezifischen Merkmale der Internationalisierung der Finanzen und Produktion, die ihn charakterisieren. In der Tat, während niedrige Investitionen das langsame Wachstum der Arbeitsproduktivität – trotz großer technologischer Fortschritte – erklären, scheint das schleppende Wachstum des Welthandels wiederum einer der Faktoren zu sein, die niedrige Investitionen erklären(9). Der Covid-19-Sturm spielt sich vor diesem unwirtlichen Hintergrund ab, der nicht nur durch die wirtschaftliche Schwäche, sondern auch durch tiefe politische Krisen und geopolitische Instabilität bereits erschüttert worden war. Die Szenarien, die sich in der kommenden Periode herausbilden können, stellen eine der komplexesten und interessantesten Fragen dar, die es zu klären gilt.
Wie geht es weiter?
Wie das Szenario unmittelbar nach der Pandemie aussehen wird, hängt weitgehend vom Rhythmus der Pandemie und den Fähigkeiten, sie unter Kontrolle zu bekommen, ab. Die optimistischste Prognose wird – wie üblich – vom IWF abgegeben, wenn man davon ausgeht, dass die Krankheit im nächsten Halbjahr überwunden sein wird und die Schäden der Wirtschaftskrise die sich abzeichnenden Trends nicht übertreffen. In einem solchen Kontext sagen sie für 2021 ein Weltwirtschaftswachstum von 5,6 Prozent voraus. Eine Zahl, die zwar hoch erscheinen mag, in Wirklichkeit aber sehr niedrig ist, denn wenn man die Erholung vom dreiprozentigen Rückgang für das laufende Jahr mit einbezieht, liegt sie, wie der IWF selbst betont, unter dem vor der Krise festgelegten Trend. Mit anderen Worten, ein Szenario von „Hysterese“ – in neokeynesianischen Begriffen – das schärfer als dasjenige ist, das die Erholung des letzten Jahrzehnts kennzeichnete. Der IWF zieht natürlich auch viel schlimmere Szenarien in Betracht, diese behält er jedoch für sich.
Zwar kann das obige Szenario nicht ausgeschlossen werden, aber die Situation dürfte komplizierter sein. Die Entwicklung der Krankheit und ihre relative Kontrolle erfolgt regional, was – abgesehen von der Entwicklung geopolitischer Spannungen – Ungleichheiten impliziert, die eine Konvergenz erschweren. So fällt beispielsweise der Beginn der scheinbaren wirtschaftlichen Erholung mit dem schlimmsten Moment der Pandemie und der Krise in den USA zusammen. Darüber hinaus ist es unmöglich zu sagen, dass die meisten Volkswirtschaften, die allmählich versuchen, zur Normalität zurückzukehren, frei von erneuten Ansteckungen sein werden. Daher könnte es zu wirtschaftlichen Erholungen und erneuten Rückgängen kommen, die zusammen mit den internationalen Ungleichheiten ein ungleiches, unsicheres Szenario schaffen würden, was die wirtschaftliche Erholung noch weiter verzögern würde(10). Andererseits weist ein Artikel in The Ecomomist darauf hin, dass die Lockerungen ein Prozess und kein Ereignis sind, und fügt das Konzept der „90 Prozent-Wirtschaft“ ein. Das heißt, eine Situation, in der die Wirtschaft aus Furcht vor einer Ansteckung und einem Wiederaufleben der Ansteckungen – solange der Impfstoff nicht entdeckt oder die Furcht nicht zerstreut ist – nicht vollständig zur Normalität zurückkehren kann, wenn man unter anderem einen geringeren Konsum von Bars, Restaurants, Hotels, Reisen und öffentlichen Verkehrsmitteln in Betracht zieht. In Anbetracht dieses allgemeinen Szenarios kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass in einem Gewirr von Wiederaufflammen und Rückgang der Ansteckungen und der Unmöglichkeit, zur Normalität zurückzukehren, das schwache Glied in der Unternehmensverschuldung schließlich explodieren und zu einer Rezession führen wird, die noch tiefer ist als der bisherige Trend.
Andererseits entpuppt sich der Kurs Chinas und seiner Wirtschaft als eine große Unbekannte, die gleichzeitig auch die möglichen Zukunftsszenarien bedingt. Obwohl von einer rascheren Erholung als erwartet die Rede ist, übersteigt das für das laufende Jahr prognostizierte Wachstum des chinesischen BIP – immer auf der Grundlage des optimistischsten Szenarios – kaum ein Prozent. Nur schwierig wird China unter diesen Bedingungen die gleiche Rolle als internationaler Motor der Realwirtschaft spielen können, die das Land in der Krise von 2008/2009 entwickelt hat. Das Konjunkturprogramm in Höhe von rund 600 Milliarden Dollar, das damals einen sehr soliden Aufschwung seiner Wirtschaft bestimmte, steht Widersprüchen wie interne Überinvestitionen, Überkapazitäten und Überschuldung – allerdings in Yuan, das stimmt – gegenüber, die damals noch nicht existierten. Jedenfalls ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. China ist eine neue Wirtschaft, und selbst nach der Krise kann es seine Stärke zurückgewinnen. Das Besondere daran ist, dass es, wenn dies geschieht, mit ziemlicher Sicherheit ein ganz anderes Format annehmen wird als in den ersten Jahren nach der Lehman-Krise. Zumindest ist eine größere Konfrontation um globale Räume für Kapitalinvestitionen zu erwarten, die zu einer Intensivierung des Kampfes um Einflusssphären führen wird.
Schließlich führt uns die China-Frage dazu, zumindest einige Zeilen über das Schicksal der „Globalisierung“ zu schreiben. Der Grad der Abhängigkeit der Volkswirtschaften von der Internationalisierung des Kapitals und den sogenannten Wertschöpfungsketten ist sehr hoch. Tatsächlich machte die Pandemie sichtbar, dass die USA bei der Versorgung mit elementaren Medikamenten und grundlegenden Gesundheitsgütern von China abhängig sind. Die Stagnation der Globalisierung, die, wie wir festgestellt haben, seit etwas mehr als einem Jahrzehnt anhält, und ihre Infragestellung, die in den letzten Jahren politische und wirtschaftliche Formen angenommen hat, manifestiert sich nun expliziter als ein Problem der „nationalen Sicherheit“. Der hohe Grad der Internationalisierung der vorherrschenden Kapitalfraktionen vertieft ihren Widerspruch zur Struktur der Nationalstaaten, die ihnen letztlich die globalen und lokalen Bedingungen zur Akkumulation garantieren. Zweifellos wird es Druck geben, bestimmte globale Wertschöpfungsketten abzubauen, insbesondere im Gesundheitssektor, und es wird zweifellos Veränderungen in bestimmten Bereichen geben. Damit daraus jedoch ein Problem größeren Ausmaßes wird – wobei auch das US-Wahljahr eine Rolle spielen wird – müssen jedoch mindestens drei Faktoren berücksichtigt werden. Der Erste ist der Widerstand des am stärksten konzentrierten Kapitals gegen Zwänge, die der Internationalisierung zuwiderlaufen. Der Zweite ist, dass es für die Reindustrialisierung und Neuaufstellung der Produktion in den zentralen Ländern notwendig wäre, im „Zentrum“ die geringen Löhne durchzusetzen, wie sie die großen US-amerikanischen und transnationalen Konzerne anderer Länder zum Beispiel in China ausnutzen. Der dritte Faktor ist, dass die Zerlegung der Wertschöpfungsketten – eine äußerst komplexe Konfiguration, die selbst für Forscher*innen nur schwer zu entziffern ist – eine massive Investition von Kapital in den zentralen Ländern bedeuten würde, d.h. die Überwindung einer der tiefsten Schwächen der letzten anderthalb Jahrzehnte. Es sollte daran erinnert werden, dass der größte Investitionsprozess in neue arbeitssparende Technologien in den zentralen Ländern in den letzten vierzig Jahren in den 1990er und frühen 2000er Jahren stattfand, als Ergänzung zur Verlagerung der verarbeitenden Produktion nach Mexiko, Südostasien, in osteuropäische Länder, in die ehemalige UdSSR und nach China(11). Es besteht ein akuter Widerspruch in der internationalen Arbeitsteilung, die sich in dieser letzten Periode herausgebildet hat, aber ihre Transformation ist weit von einfachen Lösungen entfernt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass innerhalb dieser komplexen Zusammenhänge die zur Zeit operierenden politischen Maßnahmen auf eine Vertiefung der Flexibilisierung der Arbeit abzielen. Dieser Angriff wird sich, sobald eine gewisse Normalität in der Pandemie wiederhergestellt wurde, der Kontinuität der klassenkämpferischen Prozesse gegenübersehen, die sich als wichtigstes Merkmal der Welt vor der Pandemie herauskristallisiert haben. Tatsächlich zeigte diese Krise die kategorische Rolle der menschlichen Arbeit als Motor der Wirtschaft. Die technologischen Fortschritte sind sehr tiefgreifend, aber dennoch komplementär. In der kommenden Periode wird sich die Arbeiter*innenklasse nicht nur den Angriffen auf die Arbeitsbedingungen entgegenstellen müssen, sondern sie wird auch die Frage in ihr Kampfprogramm aufnehmen müssen, wer sich die Vorteile der neuen Technologien aneignet: ob die Großkapitalist*innen, die die Ausbeutung und das Elend erhöhen werden, oder die großen Mehrheiten, um die Bedingungen der menschlichen Existenz zu verbessern.
Fußnoten
(1) Siehe Malamud, Andrés, „Die Globalisierung in Gefahr“, Le Monde Diplomatique, N°250, 4/2020 und Wallace, Rob, Liebman, Alex, Chavez, Luis Fernando und Wallace, Rodrick, „El Covid-19 und die Kreisläufe des Kapitals“, Ideas de Izquierda, 29/3/2020.
(2) Wir beziehen uns auf die Zeit nach dem Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008, der die internationale Ausweitung der Rezession verursachte, die im Vorjahr in den Vereinigten Staaten begonnen hatte.
(3) Lund, Susana, „Are we in a corporate debt bubble?“, Project Syndicate, 19.06.2018.
(4) Informationen aus „Will the coronavirus trigger a corporate debt crisis?“, Financial Times, März 2020.
(6) Siehe Srnicek, Nick, Kapitalismus der Plattformen, Buenos Aires, Caja Negra, 2018.
(8) Harvey, David, a.a.O.
(9) Siehe, Bach, Paula, ob. cit.
(10) Siehe Husson, Michel, „¿Rebote o caída?“, A l’encontre, 4/2020, online verfügbar y Roberts, Michael, „The scarring“, thenextrecession.wordpress.com, 5/2020.
(11) Siehe, Bach, Paula, „Ende der Arbeit oder Fetischismus der Robotik?“, Ideas de Izquierda Nr. 39, Juli 2017.