Welche Einheit brauchen wir?

03.12.2013, Lesezeit 10 Min.
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// Eine vorläufige Bilanz des Prozesses für eine „Neue Antikapitalistische Organisation“ und die Lehren für revolutionäre MarxistInnen //

Es ist soweit! Seit Ende Oktober besteht eine „Neue Antikapitalistische Organisation“ in Berlin. Vor mehr als zwei Jahren hatte die Sozialistische Initiative Berlin (SIB) eine Diskussion über eine neue antikapitalistische Organisation angestoßen. Wir von RIO waren damals aufgrund der diffusen programmatischen Grundlage und des mangelnden Bezugs zum Klassenkampf sehr skeptisch.[1] Die SIB zielte auf eine Organisation mit mindestens 600 Mitgliedern, die trotzkistische und autonomistische Traditionen zusammenführen würde.

Doch nach zwei Jahren und unzähligen Treffen haben gerade einmal drei Gruppen – die SIB selbst, die Gruppe Arbeitermacht (GAM) und die mit ihr verbundene Jugendorganisation REVOLUTION, sowie die internationale sozialistische linke (isl) – die Berliner NAO gegründet. Weitere Gruppen wie der Revolutionär Sozialistische Bund (RSB) und noch kleinere trotzkistische und autonome Gruppen hatten sich an den Diskussionen beteiligt, lehnten aber die jetzige Gründung einer NAO ab.[2] Denn auch wenn häufig der Wunsch nach einer Vereinigung der radikalen Linken zu hören ist, tat sich der bisherige NAO-Prozess schwer, neue Leute anziehen. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die gegründete NAO eine größere Ausstrahlungskraft haben wird.

Breite Antikapitalistische Parteien

Die Idee, eine „neue antikapitalistische Organisation“ zur Vereinigung linker Kräfte zu gründen, ist nicht neu. So gab es in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern Versuche, breite antikapitalistische Parteien aufzubauen. Auch wenn der NAO-Prozess in Deutschland aufgrund seiner geringeren Größe und seiner expliziten Ausrichtung an der radikalen Linken sicherlich nicht mit „breiteren“ Einheitsprojekten gleichzusetzen ist, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen.

So hat sich beispielsweise die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) aus Frankreich im Jahr 2009 aufgelöst, um eine Neue Antikapitalistische Partei (NPA) zu gründen. Parteien wie die NPA haben keine klare Strategie und keine klare Klassenbasis – stattdessen zielen sie auf eine längerfristige Vereinigung von RevolutionärInnen und ReformistInnen. Diese Projekte wurden stark vom Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale vorangetrieben (VS, einer internationalen Strömung, zu der die LCR in Frankreich sowie der RSB und die isl in Deutschland gehören), das davon ausging, dass die Ära der Oktoberrevolution vorbei sei und dass eine revolutionäre Partei nicht mehr zeitgemäß sei.[3]

Die Entwicklung der breiten antikapitalistischen Parteien, die vom VS unterstützt werden, ist nicht glänzend. Die NPA wird zwischen ihren offen reformistischen und revolutionären Flügeln zerrieben und zählt heute weniger Mitglieder als die alte LCR.[4] In manchen Ländern haben solche Parteien im Parlament Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse unterstützt: So haben die rot-grünen Enhedslisten in Dänemark für den Haushalt der sozialdemokratischen Regierung und damit für soziale Kürzungen gestimmt; der Bloco de Esquerda in Portugal stimmte für das „Rettungspaket“ für Griechenland und damit für die drakonischen Sparauflagen; die alte Rifondazione Comunista in Italien, die früher vom VS als Modell für die antikapitalistische Linke hochgehalten wurde, hat bereits im Jahr 2006 als Teil der Prodi-Regierung für Auslandseinsätze der italienischen Armee gestimmt – seitdem ist sie als politische Kraft verschwunden. Angesichts der Erfolglosigkeit solcher Versuche geht das VS dazu über, offen reformistische Parteien wie SYRIZA in Griechenland zu unterstützen (in dem Fall sogar gegen den Willen der griechischen VS-Sektion).

Die NAO in Deutschland ist natürlich weit entfernt von der Gefahr, Verantwortung für die Verwaltung des kapitalistischen Systems zu übernehmen. Denn sie zählt höchstens ein paar Dutzend Menschen in ihren Reihen und ist damit weit weg von irgendeiner Verantwortung in der ArbeiterInnenbewegung, geschweige denn von Sitzen im Parlament. Doch auch hier kommt das Konzept des VS zu tragen: Das Gebot der Vereinigung entstammt nicht aus gemeinsamen Erfahrungen im Klassenkampf oder aus konkreten Aufgaben der RevolutionärInnen, sondern aus der abstrakten Feststellung, dass es links von der Sozialdemokratie (in diesem Fall von der linken Sozialdemokratie der Linkspartei) einen „Platz“ gäbe, den es zu besetzen gelte.

Was ist die NAO?

Die SIB, die GAM/Revo und die isl haben sich auf ein programmatisches Manifest geeinigt, das zur Grundlage der neuen Organisation werden soll.[5] Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Text müssen wir uns an dieser Stelle sparen, aber wir können anhand anderer, bisher veröffentlichter Diskussionsbeiträge festhalten, dass es sich um einen Versuch handelt, marxistische Grundsätze in abstrakter Form wiederzugeben – Bezüge zu den zentralen Lehren des Klassenkampfes der letzten Jahre fehlen.[6] Die Abstraktheit kann große politische Differenzen überdecken. Bei einer öffentlichen Debatte zur NPA mit uns im Juni dieses Jahres haben die GenossInnen der SIB das Ziel einer revolutionären Partei zugunsten einer gemeinsamen Partei von ReformistInnen und RevolutionärInnen abgelehnt. Angesichts der faschistischen Gefahr in Griechenland vertritt die SIB auch offen reformistische Positionen.[7] Das sind grundlegende Differenzen zwischen der SIB und der GAM – aber sie wollen trotz dieser strategischen Differenzen eine organisatorische Einheit, im Rahmen einer sehr kleinen Organisation.

Welche politische Praxis konnte die NAO in den letzten zwei Jahren nun entwickeln, um ihre abstrakten Übereinstimmungen auszutesten? Neben einigen kleineren Veranstaltungen sind lediglich zwei Aktivitäten sind zu erwähnen, bei denen die NAO öffentlichkeitswirksam als NAO auftrat: Sie organisierte eine Podiumsdiskussion im Januar 2013 zur Luxemburg-Liebknecht-Demonstration und zur Rosa & Karl-Demonstration[8] – dabei haben die zwei Vertreter der NAO entgegengesetzte Positionen bezogen und gingen auf beide der konkurrierenden Demos! Im Juni 2013 organisierte die NAO eine Podiumsdiskussion im Berliner IG-Metall-Haus mit NPA-Anführer Olivier Besancenot und SYRIZA-Vertreter Charles-André Udry – die Veranstaltung war ein organisatorischer Erfolg mit 300 TeilnehmerInnen. Doch neben den Beiträgen der „Promis“ auf dem Podium gab es keine weitergehenden inhaltlichen Beiträge seitens des NAO-Prozesses. Udry konnte unwidersprochen für eine „linke Regierung“ von SYRIZA in Griechenland argumentieren. Diese scheinbar erfolgreiche Veranstaltung für eine Neue Antikapitalistische Organisation machte im Grunde reformistische Propaganda.

Darüber hinaus trat der NAO-Prozess nicht erkennbar als solcher in Erscheinung: Bei verschiedenen Interventionen im letzten Jahr kämpften Einzelpersonen und Gruppen aus dem NAO-Prozess für Solidarität für Griechenland, für die Streiks bei Neupack in Hamburg oder für die angestellten LehrerInnen in Berlin (was wir uneingeschränkt begrüßen), jedoch gab es keinerlei erkennbare NAO-Intervention dabei. Dieser faktische Verzicht auf eine gemeinsame Praxis ist unserer Ansicht nach fatal, denn nur durch tiefgründige gemeinsame Erfahrungen ist es möglich, unterschiedliche Strategien zu überprüfen und zu überwinden. Geschieht dies nicht, kann ein solcher Zusammenschluss bei einer Verschärfung des Klassenkampfs äußerst schnell wieder in die Krise geraten – die genannten Beispiele zeigen dies anschaulich.

Welche Einheit?

Bei aller Notwendigkeit von Einheit ist es unserer Ansicht nach ein großes Missverständnis, zu glauben, dass die radikale Linke eine gemeinsame Organisation bräuchte, um zusammenarbeiten zu können. Wir dagegen sind der Meinung, dass eine politische Organisation immer eine gemeinsame Strategie – ob bewusst oder unbewusst – voraussetzt. Wir haben zum Beispiel mit der SIB im Rahmen des Griechenland-Solikomitees Berlin zusammengearbeitet und konnten hin und wieder erfolgreiche Aktionen mitorganisieren. Doch wir haben riesige strategische Differenzen mit den GenossInnen, etwa bei der Frage, ob eine „linke Regierung“ von SYRIZA in Griechenland ein Ziel von RevolutionärInnen sein soll – diese unterschiedlichen Strategien können wir nicht im Rahmen einer Organisation verfolgen. Wir wollen mit den Gruppen im NAO-Prozess und möglichst vielen anderen eine Einheit in allen Aktionen, in denen wir gemeinsame Ziele teilen. Aber eine politische Organisation bilden wir anhand eines gemeinsamen Verständnisses der Lehren der wichtigsten Ereignisse des Klassenkampfes. Wir wollen nicht nur abstrakt über die marxistische Position zum Staat, sondern über die Konsequenzen für die Politik von RevolutionärInnen heute diskutieren.

So haben sich viele RevolutionärInnen neuen linksreformistischen Phänomenen angepasst: isl, SIB und GAM setzen in absteigendem Ausmaß Hoffnungen in SYRIZA[9] und das eröffnet Möglichkeiten für eine Vereinigung unter sich, jedoch nicht mit uns. Die GenossInnen der GAM und ihrer internationalen Strömung, der Liga für die Fünfte Internationale, argumentieren, dass RevolutionärInnen aus diesen Projekten neue revolutionäre Parteien schaffen können. Wir dagegen meinen, dass die eigene Erfahrung der LFI dagegen spricht: Die Neue Antikapitalistische Linke (NAL) in Tschechien führte nur dazu, dass die LFI ihre eigene Sektion verlor, und die Anticapitalist Initiative (ACI) in Großbritannien half nur ehemaligen LFI-Mitgliedern, mit ihrer revolutionären Vergangenheit zu brechen. Selbst in der NPA, wo die LFI einen Genossen hat, unterstützt sie die zentristische Plattform Y, anstatt die revolutionäre Plattform Z mit uns aufzubauen.

Aktuell ist zu beobachten, dass sich ein kleiner linker Flügel im Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale herausbildet, der gegen die rechte Entwicklung ihrer Führung Widerstand leistet. Dazu gehört die griechische Sektion OKDE-Spartakos, die Plattform Y in der NPA, die US-amerikanische Sektion Socialist Action und auch der RSB in Deutschland. Wir halten diese Entwicklung für interessant und suchen die Zusammenarbeit und die Diskussion gerade mit diesen Kräften – doch nicht in der Form einer überstürzten organisatorischen Einheit, und schon gar nicht im Rahmen eines „breiten“ Projektes zusammen mit ReformistInnen. Wir wollen aus gemeinsamen Erfahrungen und den Lehren des Klassenkampfes eine politische Vereinigung, die erst dann organisatorische Konsequenzen hätte. Das ist genau der Sinn des Aufrufs für eine Bewegung für eine Internationale der Sozialistischen Revolution – Vierte Internationale, den wir lanciert haben.

Die revolutionäre Methode

Genau diese Methode verwendete die Internationale Linke Opposition um Leo Trotzki, als sie in den 30er Jahren versuchte, nach der Degeneration der Komintern Kräfte für eine neue revolutionäre Internationale zu sammeln. Die „Erklärung der Vier“, die die ILO im Jahr 1934 zusammen mit vier zentristischen Organisationen unterschrieb, bestand nicht aus allgemeinen Aussagen über den Sozialismus und die Revolution, sondern arbeite die Ereignisse der letzten Periode politisch auf und legte die Aufgaben der RevolutionärInnen für die nächste Periode fest. Deswegen betonen wir in unserem Manifest auch den BürgerInnenkrieg in Syrien und die Prozesse des „arabischen Frühlings“, das Hervortreten der ArbeiterInnenbewegung in Lateinamerika, und die Jugendbewegung in verschiedenen Teilen der Welt – das sind Themen, über die sich RevolutionärInnen einigen müssen, und über die sich die NAO-Gruppen nicht geeinigt haben, obwohl sie schon eine gemeinsame Organisation besitzen.

So möchten wir eine Einheit der Linken erreichen: Eine Linke, die für die völlige politische Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse von jedem Flügel der Bourgeoisie und auch von ihrem Staat kämpft; eine Linke, die konsequent auf eine sozialistische Revolution zielt; eine Linke, die taktisch flexibel ist und Zusammenarbeit mit allen Kräften der ArbeiterInnenbewegung anstrebt, jedoch keine Kompromisse mit ihrem Programm macht. Auf diesem Weg wollen wir die Vierte Internationale wieder aufbauen.

Fußnoten

[1]. RIO: Neue Revolutionäre ArbeiterInnenpartei!

[2]. NAO: NaO-Prozeß geht künftig getrennte Wege.

[3]. Claudia Cinatti: Welche Partei für welche Strategie?

[4]. K.A. Stern: Neuer Antikapitalismus in der Krise. In: Klasse Gegen Klasse Nr. 4.

[5]. Zum Zeitpunkt der Redaktion dieses Artikels noch nicht veröffentlicht.

[6]. Und auch bei den Grundsätzen gibt es Unklarheiten über die Notwendigkeit des revolutionären Aufstandes, der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und der Diktatur der Proletariats. Siehe die sehr ausführliche Auseinandersetzung von DGS und systemcrash.

[7]. Tino P. und Michael Sankari: Faschismus-Gefahr in Griechenland heute – wie 1930 in Deutschland?

[8]. Wladek Flakin: Rosa und Karl: Bündnis gegen Bündnis.

[9]. Victor Jalava: Für eine linke Regierung? Klasse Gegen Klasse Nr. 7.

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