Weder Gefängnis noch Outcalling: Wie bekämpfen wir patriarchale Gewalt?

04.02.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Tabea Krug

Als sozialistische Feministinnen kämpfen wir gegen jegliche Unterdrückung und Ausbeutung. Wir sind dagegen, Männer als Feinde der Frauen zu betrachten. Warum sind wir gegen die Bestrafungslogik und gegen die Umwandlung öffentlicher Anprangerungen in eine Strategie gegen patriarchale Gewalt?

Das verrechtlichte Leben: Wenn der Staat uns als Opfer stigmatisiert

Die Strategie der Bestrafung, die im Feminismus dominant ist, ist nicht in der Lage, das zu verhindern, was sie sanktionieren will. Denn: In verzerrter Anerkennung der Existenz einer besonderen Gewalt gegen Frauen, erkennt der kapitalistisch-patriarchale Staat sie als Opfer an und verschärft Straftatbestände. Doch macht er sie nicht nur auf Polizeistationen und vor Gerichten erneut zu Opfern. Er ist auch unfähig, die Anzahl an Femiziden zu verringern – geschweige denn, sie zu verhindern.

In den USA schlägt ein Feminismus, der schon wegen seiner puritanischen Werte hinterfragt wird, den Frauen der Mittelschicht vor, „mit einem Anwalt unter dem Kopfkissen zu schlafen“. Die Hoffnung ist, dass die Justiz alle Widrigkeiten im Leben der Frauen in dieser kapitalistischen, wettbewerbsorientierten, sexistischen und rassistischen Gesellschaft ausgleichen wird.

Hingegen weiß die Mehrheit der jungen Frauen aus der Arbeiter:innenklasse und den ärmsten Schichten aus eigener Erfahrung, dass die Justiz und die Polizei keine Institutionen sind, die zu ihrer Verteidigung und zu ihrem Schutz vor sexistischen Übergriffen tätig werden: Denn die Aufgabe dieser Institutionen es, die kapitalistische und patriarchale Gesellschaftsordnung zu verteidigen, in der das Privateigentum mehr wert ist als unser Leben.

Während in Argentinien jede Woche fünf Femizide begangen werden, werden Jugendliche aus den Armenvierteln fast im gleichen Verhältnis von der schießwütigen Polizei ermordet; Mobilisierungen und Kämpfe der Arbeiter:innen werden unterdrückt.

Der kapitalistische Staat bietet uns einen umfangreichen Katalog von Straftaten, die mit Gefängnis zu bestrafen sind. Doch gegen die Drogenmafia und die Menschenhandelsnetze, die immer unter dem Schutz oder der Mitwirkung von politischen Funktionär:innen und Polizeikräften handeln, geht der Staat nicht „mit der vollen Härte des Gesetzes“ vor. Ebenso wenig gegen den brutalen Missbrauch durch die Ränge der Kirche, die Komplizin der mörderischen Diktatur war und den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen vertuschte.

Die Gefängnisse sind voll von armen Menschen, die in Haft und durch vielfältige Folter „lernen“, sich selbst zu entmenschlichen und sozial stigmatisiert werden. Währenddessen wird bei den Mächtigen ein Auge zugedrückt, es sei denn, die Fälle werden willkürlich manipuliert, um dem politischen Gegner zu schaden.

Und während einige wenige Männer für ihre Verantwortung bei Gewalttaten gegen Frauen verurteilt werden, spricht sich der Staat selbst von Schuld und Verantwortung in dieser Angelegenheit frei. Wir respektieren und unterstützen das Recht der Frauen, in jedem Fall zu verlangen, dass die Gerichte bei jeder Anklage für Gerechtigkeit sorgen. Aber die Heuchelei dieses Systems stößt uns ab.

Virtuelle Lynchmorde ohne Recht auf Verteidigung: Ein nicht endender Krieg, bei dem niemand gewinnt

Aber genau aus dieser Vorstellung, dass es eben keine Gerechtigkeit gibt, machen einige Feminismen die Rechtfertigung, die Strategie der outcallings (dt. in etwa “öffentliche Anprangerung”, Anm. d. Ü.) als einen Weg zu etablieren, in den verschiedensten Fällen „Gerechtigkeit durch eigene Hand“ zu erlangen. „Wo es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es outcallings“, heißt es oft, was einen virtuellen oder symbolischen Akt darstellt, der aber mitunter so reale Folgen haben kann wie die soziale Isolierung und Stigmatisierung eines Jugendlichen oder den Selbstmord eines Täters, der sich durch die öffentliche Anprangerung in die Enge getrieben fühlt.

Aber selbst wenn wir nur vom Blickwinkel der Effektivität ausgehen, sind öffentliche Anprangerungen nicht in der Lage, der patriarchalen Gewalt ein Ende zu setzen. Heute prangern wir öffentlich einen Missbraucher an, morgen einen Vergewaltiger, übermorgen einen Stalker, doch nächste Woche wird jemand anderes einen neuen Missbrauch begangen haben. Und zwar deshalb, weil die Gewalt gegen Frauen – selbst die tödlichste Gewalt, die in einem Femizid endet, oder der sexuelle Missbrauch und die Vergewaltigung, die manchmal in den intimsten persönlichen Beziehungen vorkommen – das letzte Glied in einer langen Kette patriarchaler Gewalt gegen Frauen ist, die vom kapitalistischen Staat und den Institutionen seines politischen Regimes begründet, legitimiert und reproduziert wird.

Das Recht der Frauen, über ihr eigenes Leben und ihren Körper zu entscheiden, wird ihnen verwehrt. Sie werden zu „Bürgerinnen zweiter Klasse“ degradiert. Sie werden dazu verurteilt, der am meisten ausgebeutete, prekärste Sektor mit den schlechtesten Arbeitsbedingungen zu sein, mit Gehältern, die unter denen ihrer Partner liegen. Und die Stereotypen, die sie zu Objekten machen, werden von der Kulturindustrie und den Medien bis zum Überdruss wiederholt. So werden die Bedingungen geschaffen, unter denen diese Gewalt – die dann als singuläres Ereignis zwischen zwei Individuen dargestellt wird – ausgeübt werden kann, von ihren subtilsten bis zu ihren brutalsten Erscheinungsformen.

Gewalt gegen Frauen, einschließlich sexualisierter Gewalt, ist keine Abweichung von der sozialen Ordnung, sondern ein Mechanismus, der sie konstituiert. Und das ist nicht abstrakt: Die Verantwortung liegt bei den Institutionen, Gesetzen und der konkreten gesellschaftlichen Ordnung.

Während die Kirche ihre ganze politische Macht unter Beweis stellte, indem sie beispielsweise in Argentinien lange Zeit die Legalisierung der Abtreibung verhinderte – und damit dafür sorgte, dass arme Frauen weiterhin durch illegale und unsichere Abtreibungen sterben –, erlebte sie in den letzten Jahren den größten Skandal ihrer Geschichte, mit der Öffentlichmachung von hunderttausenden Fällen von Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen, die mit dem heiligen Mantel der schlimmsten Straflosigkeit überdeckt worden waren.

So wie die argentinische Schauspielerinnenvereinigung “Actrices Argentinas” die Ungleichheit und Prekarität der Arbeit als Hintergrund für Machtmissbrauch anprangerte, haben Millionen von Arbeiterinnen nicht einmal die Möglichkeit, die Übergriffe von Vorarbeitern, Bossen und Managern, denen sie zum Opfer fallen, öffentlich zu kommunizieren.

Wie groß sind die Misshandlungen und Demütigungen, denen Hausangestellte ausgesetzt sind, die allein inmitten von fremden Familien leben und deren Chef:innen, Richter:innen, Politiker:innen, Unternehmer:innen oder Funktionär:innen des Staates sind?

Wenn diese patriarchale Unterdrückung der Frauen fortbesteht, dann deshalb, weil der Kapitalismus ihre Unterwerfung braucht, um sich kostenlos ihre Arbeit der Reproduktion der Arbeitskraft anzueignen. Und außerdem, weil die herrschenden Klassen durch das Beibringen, Aufrechterhalten und Legitimieren des Sexismus, der die ausgebeuteten Männer von den ausgebeuteten Frauen trennt, ihre Herrschaft aufrechterhalten können. Genauso sind Xenophobie, Rassismus, Heterosexismus und alle Formen der Diskriminierung für sie funktional.

Als sozialistische Feministinnen sind Männer nicht unsere Feinde. Unser Feind ist der patriarchale Kapitalismus und seine Agent:innen: der Staat der Kapitalist:innenklasse, das politische Regime und die Regierungen, die die Ausbeutung der großen Mehrheiten, aus denen sie ihre Millionengewinne ziehen, garantieren und aufrechterhalten.

Daher gibt es für patriarchale Gewalt keine individuelle Lösung, weder durch Bestrafungsmaßnahmen noch durch persönliche Rache. Es bedeutet auch: Wir müssen ein Bündnis mit unseren Kollegen und Genossen schmieden, um dem Sexismus gemeinsam entgegenzutreten und zu kämpfen – nicht nur gegen das System, das ihn legitimiert und reproduziert, sondern auch gegen diejenigen Männer, die die brutalste Gewalt gegen Frauen ausüben.

Ein starkes Bündnis von Frauen und Männern aus der Arbeiter:innenklasse mit allen unterdrückten Sektoren gegen diese schändliche Gesellschaftsordnung

Wir glauben auch nicht, dass es möglich ist, dieses politische und gesellschaftliche System durch eine „geschlechtersensible“ Ausbildung der Streitkräfte, der Polizei, des Justizsystems, des Strafvollzugs usw. zu „reformieren“. Es geht darum, diesem kapitalistisch-patriarchalen System entgegenzutreten, es zu stürzen und die Grundlagen für eine wirklich egalitäre Gesellschaft zu schaffen.

Doch dazu bedarf es einer Kraft, die die großen ausgebeuteten Mehrheiten, die die Macht haben, diese Gesellschaft zu stürzen, mit allen unterdrückten Sektoren zusammenbringt. Wie können wir ein solches Bündnis aufbauen?

In unserem Kampf gegen Gewalt müssen wir unterscheiden zwischen dem kritikwürdigen und unangemessenen Verhalten eines Teenagers, der etwas Obszönes sagt oder eine Mitschülerin in der Schule hartnäckig belästigt, und der institutionellen Maschinerie, die die kirchlichen Hierarchien zum Schutz missbräuchlicher Priester einsetzen, oder der Arroganz der Macht eines Vorgesetzten gegenüber einer Arbeiterin, die, wenn sie nicht den Mund hält, am Ende ihre eigene Existenz aufs Spiel setzt.

Es ist nicht alles dasselbe. Aber wir dürfen außerdem nicht zulassen, dass unser Kampf gegen Unterdrückung und Gewalt dazu benutzt wird, uns von den Rechten und Freiheiten zurückzudrängen, die wir für unser eigenes Leben, unsere Sexualität, unser Begehren und unser Vergnügen gewonnen haben.

Deshalb darf unser feministischer Kampf beim Aufbau dieser sozialen und politischen Kraft gegen den Sexismus nicht zu dem werden, was wir in Frage stellen und an der Wurzel ausreißen wollen.

Wir schlagen die Einführung von Verfahrensplänen vor, die ein Eingreifen in Fällen von Gewalt in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz und in den Gewerkschaften ermöglichen, wobei die Unterschiede im Umgang mit minderjährigen Gleichaltrigen, erwachsenen Gleichaltrigen oder Machtverhältnissen berücksichtigt werden. In diesen Verfahrensplänen, die eine Konfliktlösung mit Zustimmung des Opfers ermöglichen, ist auch das elementare und demokratische Recht auf Verteidigung des Beschuldigten eindeutig festgelegt. Wir fördern aber auch die Einrichtung von Frauenkomitees an allen Arbeitsplätzen, Universitäten, Schulen und in den Gewerkschaften.

Die Stärke, die aus der Organisation erwächst, ermöglicht es den Frauen, gemeinsam mit ihren Kollegen und Genossen für alle ihre Forderungen zu kämpfen und sich den Chef:innen, den Behörden und auch den Gewerkschaftsbürokratien entgegenzustellen. Das zeigten beispielsweise die Angestellten des öffentlichen Dienstes in Argentinien, die ihre eigenen Gewerkschaftsführer:innen kritisierten, weil sie sich mit der Kirche verbündet hatten, während die Beschäftigten für das Recht auf Abtreibung kämpften; oder bei den Arbeiter:innen des Maschinenherstellers SIAM, die sich aktiv um die Solidarität der Journalist:innen des Kollektivs Ni Una Menos mit ihrem Kampf bemühten, weil sie wissen, dass die Frauenbewegung eine Unterstützung ist, die sie darin bestärkt, sich den Bossen und der Repression des Gouverneurs Vidal entgegenzustellen.

Die Erfahrungen der Frauenkomitees sind beispielhaft: Als vor einigen Jahren eine Arbeiterin des Lebensmittelkonzerns Kraft die Belästigung durch einen Vorarbeiter anzeigte und das Unternehmen beschloss, die Arbeiterin zu suspendieren, reagierten ihre Kolleg:innen mit einem Streik ihrer gesamten Schicht. Das wurde auf schnellstem Wege in einer Versammlung beschlossen, die auf Initiative der Delegierten des antibürokratischen Betriebsrats zustande kam. Der Streik erreichte, dass der Belästiger versetzt und die Arbeiterin nicht bestraft wurde.

Wie könnten wir nicht auf ein Bündnis mit unseren Kollegen und Genossen setzen, wenn wir gesehen haben, wie in der multinationalen Druckerei Donnelley, in der nur Männer beschäftigt waren, es die kämpferischen und anti-ibürokratischen Delegierten waren, die sich den Bossen entgegenstellten, um einer trans Frau zu erlauben, die Fabrik in der Kleidung ihrer Wahl zu betreten, und die den Bau einer Toilette und eines Umkleideraums ausschließlich für sie forderten?

Die Politik und die Methoden, die wir heute wählen, um die patriarchale Gewalt zu bekämpfen, die Art und Weise, wie wir die Taten bestrafen, kontrollieren oder lösen, denen Frauen in dieser kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft zum Opfer fallen, können nicht im Gegensatz zu der zukünftigen Gesellschaft stehen, die wir uns wünschen und für die wir kämpfen.

Ein Feminismus, der die kapitalistisch-patriarchale Ordnung stürzen will und eine Gesellschaft anstrebt, die frei von allen Formen der Unterdrückung und Ausbeutung ist, welche heute die menschlichen Beziehungen zersetzen, kann nicht vorschlagen, die Methoden der Unterdrücker anzuwenden, um die schädlichen Folgen dieser Unterdrückung zu lösen.

In der kollektiven Aktion und dem Aufbau eines starken Bündnisses zwischen den Ausgebeuteten aller Geschlechter, die die gesellschaftlich mehrheitliche Klasse bilden, zusammen mit den Armen und allen von diesem System unterdrückten und geschädigten Sektoren, liegt der Keim für eine zukünftige Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr die Feinde anderer Menschen sind.

Eine Gesellschaft, in der das Geschlecht, das Alter, die Hautfarbe oder andere Gründe, die heute als Grundlage für Diskriminierung dienen, zu so irrelevanten Daten für die Beziehungen zwischen den Menschen werden, dass sogar die Worte, die diese Unterschiede heute benennen, den künftigen Generationen als archaische Beispiele der untergegangenen Sprache der menschlichen Vorgeschichte beigebracht werden.

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