Was wäre, wenn wir die Polizei abschaffen?
Viele Menschen erschrecken sich, wenn sie die Forderung nach einer Abschaffung der Polizei hören. Doch mit der Abschaffung der Polizei ist auch die Abschaffung des Kapitalismus verbunden – und damit der Weg für die befreite Gesellschaft.
Chaos, Gewalt und nicht weniger als das Ende der modernen Zivilisation. Fordert man die Abschaffung der Polizei, bekommt man oft einiges zu hören. Es sei eine reine Utopie, aber im „echten Leben“ leider nicht möglich. Irgendwer müsse ja da sein, wenn man vom „Kriminellen“ ausgeraubt oder bedroht wird.
Eine kleine Geschichte der Polizei
Um zu verstehen, warum diese Argumente an der Realität vorbeigehen, lohnt es sich, in die Geschichte zu schauen, wann und warum die Polizei überhaupt entstanden ist: In der Zeit vom Übergang des Feudalismus zum Kapitalismus. In dieser Zeit kam es zur gewaltvollen Enteignung vieler Menschen, denen ihr Land und ihre Produktionsmittel entrissen wurden. Diese Menschen wurden damit gezwungen, ihre Arbeitskraft an andere Menschen zu verkaufen, also an jene Menschen, die Produktionsmittel besaßen – die herrschende Klasse. Die Polizei entstand in dieser Phase, um zu gewährleisten, dass die Menschen ohne Produktionsmittel das auch wirklich taten. Wenn Arbeiter:innen sich selbst ermächtigen wollten und beispielsweise gegen den 14-Stunden-Tag, Hungerlöhne oder Kinderarbeit streikten, war die Polizei da, um sie zu disziplinieren. So ist es heute auch noch so, dass ein Mensch, der im Supermarkt Heidelbeeren im Wert von 3,98 Euro klaut, keine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft darstellt. Es ist die Ausbeutung, die beim Produzieren der Heidelbeeren stattfindet, in welcher das eigentliche Verbrechen liegt. Die Ausbeutung wird aber als vollkommen natürlich hingenommen, während eine Rentnerin für zwei Monate in den Knast musste, weil sie Heidelbeeren gestohlen hat.
Wenn wir also fordern, die Polizei abzuschaffen, muss das Hand in Hand mit der Forderung gehen, auch das Privateigentum abzuschaffen. Das eine ohne das andere ergibt keinen Sinn.
Kapitalismus vs. Sozialismus
Mit der Aufhebung des Privateigentums würden die allermeisten der zurzeit stattfindenden Verbrechen wegfallen, nämlich die der Eigentumsdelikte. Kein Mensch sollte dafür bestraft werden, dass er aus Hunger Essen klaut, sondern stattdessen ausreichend Zugang dazu bekommen. Und auch die übergroße Mehrheit der anderen Straftaten in unserer Gesellschaft, welche nicht direkt mit der Frage des Eigentums zusammenhängen, ergeben sich aus der Ellbogengesellschaft, in der wir groß werden. Denn im Kapitalismus stehen nicht nur die einzelnen Unternehmen zueinander in Konkurrenz, sondern auch die Arbeiter:innen. Dieses Denken wird schon früh in der Schule verankert und zieht sich durch das ganze Leben. Menschen sind also voneinander entfremdet und werden nicht einfach mit „bösen“ oder „guten“ Ideen geboren.
Es sind materielle Bedingungen, welche bestimmte Ideen produzieren. Würden wir in einer Gesellschaft leben, in der wir unsere Produktion und unser Zusammenleben selbst regeln, so würden sich daraus auch ganz andere Ideen ergeben: Ideen der Selbstbestimmung und -verantwortung. Der Erfahrung, solidarisch und kollektiv zu entscheiden. Dem Gefühl, in der Gesellschaft aufgenommen und gehört zu werden, ohne dafür absurden Schönheitsidealen entsprechen zu müssen und einen deutschen Namen zu haben. Dieser Gesellschaft würde die materielle Grundlage fehlen, auf der die verschiedensten Unterdrückungsformen und Diskriminierung gedeihen können. Natürlich würden nach einer Revolution und der Selbstorganisierung der Arbeiter:innen die alten Ideen nicht einfach von heute auf morgen verschwinden. Das zu denken, wäre naiv. Das sagen wir aber auch nicht. Jedoch bietet sich erst durch die Neugestaltung der Gesellschaft die Möglichkeit, die alten Ideen verschwinden zu lassen.
Für Konflikte, die bspw. mit Sexismus zusammenhängen, soll in einer neugestalteten Gesellschaft gemeinschaftlich in Arbeiter:innenräten eine Lösung getroffen werden. Der Fokus liegt dabei auf der Aufklärung und Verbesserung für die Gemeinschaft, und nicht auf der Bestrafung, wie es derzeit in unserer Gesellschaft der Fall ist. Dass Max-Josef Meier aufgrund sexueller Belästigung als CEO von seinem unnötigen Start-Up zurücktreten musste, scheint auf den ersten Blick nicht schlecht zu sein. Allerdings macht es ihn und die Gesellschaft nicht weniger sexistisch: Denn es werden nicht die eigentlichen Grundlagen angegriffen. Ebenso können wir uns alle jeden Tag aufs Neue versuchen, uns selbst zu reflektieren und diskriminierungsfrei zu denken. Doch die heutige Gesellschaft und das Wirtschaftssystem werden mit derselben Härte Frauen, Queers und migrantische Menschen ausbeuten und unterdrücken, und dabei Ideen des Sexismus und Rassismus reproduzieren. Erst durch eine durch Arbeiter:inennräte organisierte Gesellschaft wird allen unterdrückten Sektoren der Arbeiter:innenklasse, welche migrantisch, queer und weiblich wie noch nie zuvor ist, die Möglichkeit gegeben, selbstbestimmt für ihre Interessen einzutreten.
Wie schaffen wir die Polizei also ab?
Um die Polizei abzuschaffen, reicht es nicht nur die Forderung zu stellen. Es reicht auch nicht, autonome „Freiräume“ aufzubauen, die ohne die Polizei funktionieren. Solange die Polizei und der Staat zeitgleich zu diesen existieren, geht die Ausbeutung von Millionen von Arbeiter:innen parallel weiter. In diesem Zustand hat der Staat auch immer noch genügend Macht, um mithilfe der Polizei alle „Freiräume“ gewaltvoll räumen zu lassen. Von einem auf den anderen Tag können so „utopische“ Räume zerschlagen werden, wie wir in Lützerath gesehen haben. Darum ist die Frage nach der Abschaffung der Polizei auch ganz klar eine Frage darum, wer die Macht hat: Die Arbeiter:innen oder die herrschende Klasse. Dies ist nicht so, weil wir Herrschaft irgendwie toll finden. Sondern weil wir sie als Notwendigkeit begreifen. Es wäre kein Zustand des „Chaos“, wie sich viele Menschen eine Gesellschaft ohne Polizei vorstellen. Sondern eine Gesellschaft, in der die Macht bei den Arbeiter:innenräten liegt. Ebenso müssten diese auch die Feinde der Gesellschaft bekämpfen, welche die neue Ordnung angreifen. Denn es stimmt, dass es nach einer Revolution noch Feinde der Gesellschaft geben wird. Allerdings sind dies nicht jene Menschen, die heute vom Staat aus als „Verbrecher“ bezeichnet werden: Sondern nun der alte Staatsapparat selbst. Uns ist bewusst, dass es eine riesige Aufgabe ist, die Gesellschaft durch eine Revolution neu zu strukturieren, sie kollektiv zu gestalten und von den alten Ideen der Unterdrückung und Diskriminierung zu befreien. Aber: Wir haben gar keine andere Wahl.
Unsere jetzige Aufgabe ist es allerdings nicht nur die zukünftige, befreite Gesellschaft der Polizei gegenüberzustellen. Damit Arbeiter:innen, Jugendliche, Frauen, migrantisierte Menschen und so weiter, wirklich die Welt unter ihre Kontrolle bringen können und damit die Polizei abschaffen, müssen wir ein anderes Bewusstsein erzeugen. Heute sind sie oft demoralisiert und akzeptieren es, dass irgendwelche Bosse und Politiker:innen total willkürlich über sie entscheiden. Wir müssen sie vom Gegenteil überzeugen. Dafür müssen wir uns organisieren und ein Programm aufstellen, das über die heutige Gesellschaft hinaus zeigt. Derzeit haben die Betroffenen von Polizeigewalt de facto keine Chance auf Aufarbeitung. Fälle von Polizeimorden, wie die grausamen Ermordungen von Oury Jalloh, Sammy Baker und vielen weiteren, wurden nie aufgeklärt. Die Polizei ist vollkommen unwillig dies zu tun. Wieso sollten sie auch gegen ihre eigenen Kolleg:innen ermitteln? Wir schlagen deshalb vor, dass Hinterbliebene, Gewerkschaften und Betroffene von Polizeigewalt unabhängige Untersuchungskommissionen aufbauen. Dort können sie nicht nur die sogenannten „Einzelfälle“ anklagen, sondern die gesamte Polizei und ihre systematische Gewalt. Diese Selbstorganisation kann eine Basis für die oben genannten Arbeiter:innenräte im Sozialismus sein.
Damit die Gewerkschaften dieser Aufgabe gerecht werden können, müssen wir die Gewerkschaft der Polizei (GdP) aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) rauswerfen. Die Polizei ist der Schlagstock der herrschenden Klasse und kein Teil der Arbeiter:innenklasse, darum haben sie im DGB auch nichts zu suchen. Doch die Bürokratie, also privilegierte Funktionär:innen in den Gewerkschaften, die als Vermittlungsinstanz zum Staat dienen, stellen sich dagegen. Sie haben kein Interesse daran, die Gewerkschaften wieder zu echten Kampforganen der Arbeiter:innenklasse werden zu lassen. Durch ihre materiellen Privilegien sind sie an das kapitalistische System gebunden. Aus diesem Grund brauchen wir im Kampf gegen die Polizei und die GdP eine antibürokratische Strömung in den Gewerkschaften. Weder auf die Bürokratie, die Polizei noch den Staat in seiner Gesamtheit können wir uns verlassen.
Nein, wir brauchen keine Lügengeschichte von „Freund und Helfer“. Nur wir selbst können uns helfen, und das werden wir auch. Das bestehende System nährt in uns oft den Gedanken, dass sich Freiheit und Sicherheit ausschließen würden. Doch wenn wir die Aufgabe der Sicherheit in unsere eigene Hand nehmen, bedeutet dies zugleich auch Freiheit. Das gute Leben ist beides in einem – und zwar für alle Menschen. Es liegt an uns, dies zu beweisen.