Was uns die Pariser Kommune über die Masken-Affäre lehren kann

18.03.2021, Lesezeit 10 Min.
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Heute vor 150 Jahren haben die Kommunard:innen in Paris die Regierungsgewalt in ihre eigenen Hände genommen. Dabei haben sie jegliche Privilegien abgeschafft, um die Arbeiter:innendemokratie zu garantieren. Angesichts der Korruptionsaffäre der Unionsparteien sind die Erfahrungen der Pariser Kommune umso interessanter.

Die erste Arbeiter:innenregierung der Geschichte

Es gibt eine Reihe von Ereignissen, die die Arbeiter:innen dazu gebracht haben, ihre eigene Regierung aufzubauen: Nahrungsmittelknappheit und die ständige preußische Bombardierung im Deutsch-Französischen Krieg führten zu allgemeiner Unzufriedenheit in der Pariser Bevölkerung. Im Oktober 1870 begannen in Paris Demonstrationen infolge des Kriegs gegen Preußen. Im Januar 1871 suchte Louis Adolphe Thiers, der spätere Generaldirektor der Regierung und Präsident der Dritten Republik Frankreichs, einen Waffenstillstand, der am 26. Januar im Schloss von Versailles unterzeichnet wurde. Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes Otto von Bismarck forderte die Abtretung der Provinzen Elsass und Lothringen an Preußen, die Zahlung von 200 Millionen Franc, die Entwaffnung der Nationalgarde und die Möglichkeit, nach Paris einzureisen, um eine Parade zu Ehren von Wilhelm I. zu veranstalten, der sich im Schloss von Versailles zum Kaiser Deutschlands erklärte.

Die Nationalgarde verweigerte die Entwaffnung und gemeinsam mit Arbeiter:innen und Bäuer:innen bauten sie Barrikaden auf und wandten ihre Waffen gegen die Regierung von Thiers. Die Stadt Paris erklärte sich für unabhängig, frei und als ihr eigener Eigentümer. In diesem Moment kristallisierte sich die Arbeiter*innenmacht heraus. Die Pariser Kommune stützte sich auf die Organe der direkten Demokratie, die von der proletarischen und bäuerlichen Stadtbevölkerung errichtet wurde. Angesichts der Machteroberung der Kommunard:innen flohen die Kapitalist:innen, der Ministerpräsident Adolphe Thiers und seine bewaffnete Truppe zunächst aus der Stadt. In seinem Pamphlet “Der Bürgerkrieg in Frankreich” stellte Karl Marx die Maßnahmen der Kommune zusammen:

Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.

Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbnen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die öffentlichen Ämter hörten auf, das Privateigentum der Handlanger der Zentralregierung zu sein. Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der Kommune gelegt. […]

Sämtliche Unterrichtsanstalten wurden dem Volk unentgeltlich geöffnet und gleichzeitig von aller Einmischung des Staats und der Kirche gereinigt. […]

Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, die nur dazu gedient hatte, ihre Unterwürfigkeit unter alle aufeinanderfolgenden Regierungen zu verdecken, deren jeder sie, der Reihe nach, den Eid der Treue geschworen und gebrochen hatten. Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein.

Hinzu kommen noch zwei Punkte, die Marx in dem Werk zwar nicht nennt, die in der Kommune ebenso dekretiert wurden: So wurde nicht nur ein allgemeines Wahlrecht eingeführt. Die Kommune erklärte außerdem die Gleichstellung von Männern und Frauen in Sachen Lohn. Die Frauen bildeten Netzwerke in den Stadtteilen und nahmen aktiv an Versammlungen teil, wobei sie sich gleichzeitig gegen patriarchale Ausgrenzungen innerhalb der Kommune engagieren mussten. So blieb ihnen das Wahlrecht vorenthalten. Sie spielten bei der Gestaltung und Verwaltung der Kommune eine fundamentale Rolle. Die revolutionären Umwälzungen ermutigten die unterdrückten Frauen, ihre Fesseln abzustreifen. Zudem wurden die Mietschulden erlassen. Alle leerstehenden Wohnungen wurden beschlagnahmt.

Es wird klar: die Pariser Kommune war um ein Vielfaches demokratischer, als wir es von jeglicher bürgerlicher Demokratie kennen, wo die Politik eine Kaste ist, die keinerlei Rechenschaft für ihre Taten trägt und der die Korruption auf diese Weise erleichtert wird.

Die Aktualität radikaldemokratischer Forderungen

In der Beschäftigung mit der Pariser Kommune formulierte Lenin das Prinzip aus, wie eine Arbeiter:innenregierung mit dem Verwaltungsapparat umgehen sollte: “Machen wir die Staatsbeamten zu einfachen Vollstreckern unserer Aufträge, zu verantwortlichen, absetzbaren, bescheiden bezahlten ‘Aufsehern und Buchhaltern’ (dazu natürlich Techniker jeder Art, jeden Ranges und Grades) – das ist unsere proletarische Aufgabe.”

Die Erfahrungen der Kommunard:innen sind wertvoll. Ihre radikaldemokratischen Maßnahmen markieren einen Übergang, indem die Arbeiter:innenklasse den Klassenkampf auf die Spitze treibt und damit die Bourgeoisie in die Ecke drängt. Als radikaldemokratische Forderungen bezeichnen wir “die radikalsten Formen, die die bürgerliche Demokratie annehmen kann”, wie Diego Lotito am Beispiel des Übergangsprogramms darlegt. Dazu zählen Punkte

“wie die Verfassungsgebende Versammlung, die Abschaffung des Präsidentenamts und die Vereinigung der Exekutive und Legislative in einer einzigen Kammer, die Abwählbarkeit von Mandatsträger*innen. Und dann gibt es noch ‘demokratische Übergangsforderungen’, die den Klassencharakter der bürgerlichen Demokratie in Frage stellen, wie zum Beispiel die Forderung, dass Träger*innen politischer Posten nicht mehr verdienen dürfen als einen Arbeiter*innenlohn, die als große historische Vorgängerin die Pariser Kommune von 1871 hat (die erste Arbeiter*innenregierung der Geschichte).”

In Anbetracht der jüngsten Korruptionsskandale in Deutschland müssen wir in unsere Anklagen gegen die Bundesregierung solche radikaldemokratischen Forderungen einbetten, um die Selbstorganisierung der Arbeiter:innen voranzutreiben. Die Bestechungen durch Nebeneinkünfte und Lobbyismus oder die Verstrickungen in zwielichtige Geschäfte durch die aktive Nutzung von Privilegien können nicht durch eine “Ehrenerklärung” gelöst werden. Die bürgerlichen Politiker:innen sind Vertreter:innen der kapitalistischen Klasse, das Problem liegt also tiefer.

Die jüngsten Korruptionsskandale haben erneut gezeigt, dass die privilegierte Stellung der Abgeordneten dazu beiträgt, dass sie sich auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter:innenklasse – bislang – ohne wirkliche Konsequenzen bereichern können. In den Skandalen um die Vergabe von Aufträgen für Masken, in die Abgeordnete der CDU/CSU verwickelt waren, sind die korrupten Politiker nicht absetzbar, sondern treten nur zurück – und kassieren trotzdem munter weiter monatlich Pensionen über mehrere tausend Euro. Die immensen Summen, mit denen sich Georg Nüßlein, Nikolas Löbel, Alfred Sauter und Co. bereichert haben sollen, sind noch nicht einmal zurückgezahlt worden. Nüßleins Beraterfirma soll 660.000 Euro, Sauter allein über eine Millionen Euro erhalten haben – eine unvorstellbare Menge Geld für die meisten von uns, das in der Pandemie vielen Menschen, die durch die Krise ihre Jobs verloren haben und von Existenzängsten geplagt sind, zugute kommen könnte.

Jede:r Bundestagsabgeordnete erhält 10.000 Euro im Monat. Dazu gibt es noch steuerfrei eine Aufwandspauschale von 4.560,59 Euro monatlich – während die Menschen in systemrelevanten Berufen wie Pfleger:innen und Reiniger:innen, die tagtäglich und besonders in der Pandemie Leben retten, nur einen Bruchteil davon erhalten. Die Abgeordneten befinden sich, auch bedingt durch die hohen monatlichen Bezüge weit über einem durchschnittlichen Arbeiter:innenlohn, in einer bürokratischen Sonderstellung. Auch deshalb verlieren die Abgeordneten den Bezug zu denen, die sie vertreten sollen, und handeln stattdessen als Handlanger des auf Profit ausgelegten kapitalistischen Staates.

Es braucht umfassende Transparenz, die bei Weitem nicht mit dem verabschiedeten Lobbyregister oder dem heuchlerischen Ehrenkodex der CDU/CSU hergestellt werden kann. Die unternehmerischen Tätigkeiten von Abgeordneten müssen verboten werden. Es braucht eine unabhängige Kommission, die mit der Offenlegung der Zuwendungen aus Industrie und Handel beauftragt ist. Alle Nebeneinkünften müssen auch rückwirkend zurückgezahlt werden und sollen genutzt werden, um Ermittlungen durch eine solche Kommission voran zu treiben.

Alle Zuwendungen von Unternehmen an Parteien und Abgeordneten müssen verboten werden. Abgeordnete dürfen nicht durch ihre persönliche Lebenssituation an die Interessen der Wirtschaft gebunden werden. Die Gelder aus Korruptionsskandalen müssen beschlagnahmt und genutzt werden, um sofort, unbürokratisch und sozial der Gesellschaft zu dienen, insbesondere den von der Coronapandemie betroffenen Arbeiter:innen, Obdachlosen, Kleinunternehmer:innen, Künstler:innen. Von den mindestens zwei Millionen Euro, die im Maskenskandal geflossen sind, könnte man Computer für tausende Schüler:innen kaufen, deren Eltern sich keine eigene Geräte leisten können.

Alle Abgeordneten sollten nicht mehr verdienen dürfen, als einen durchschnittlichen Facharbeiter:innenlohn und dürfen darüber hinaus keine Nebeneinkünfte erhalten. Sie müssen außerdem jederzeit abwählbar sein.

Es braucht öffentliche und vom Staat unabhängige Untersuchungsausschüsse der Gewerkschaften, die diese Korruptionsfälle aufklären. Es ist wichtig, dass die Kontrolle über diese Ausschüsse nicht denen überlassen wird, die von der Verzahnung von Politik und Kapital profitieren. Die Immunitäten aller Abgeordneten, denen gegenüber Korruptionsvorwürfe existieren, sollten durch diese Kommission aufgehoben und ihre Diäten eingefroren werden.

Die Verteidigung der Erfahrungen der Pariser Kommune

Am Vorbild der Pariser Kommune und im Blick auf die jüngsten (aber bei weitem nicht einzigen) Korruptionsskandale können wir klar erkennen, für welche Forderungen wir kämpfen müssen, um eine wirkliche Vertretung der Arbeiter:innenklasse und keine Handlanger des kapitalistischen Staates zu erhalten.

Sicherlich hatte die Pariser Kommune Schwächen: So zogen Marx und Engels die erste und wichtigste strategische Lehre, dass die Arbeiter:innen die kapitalistische Staatsmaschinerie nicht einfach in Besitz nehmen können, ohne sie zerschlagen und stattdessen “vollziehende und gesetzgebende arbeitende Körperschaften” eingeführt zu haben. Diese “arbeitende Körperschaften” fanden 46 Jahre später ihren höchsten Ausdruck in den Sowjets (Räten) nach der Oktoberrevolution in Russland.

Es gab in der Pariser Kommune keine revolutionäre Partei, die die ungeheure Dynamik der Revolution hätte leiten können. Das Zentralkomitee der Nationalgarde, die die Macht ergriffen hatte, war ein Rat von Arbeiter:innen, Bauerntum und städtischem Kleinbürgertum. Mit dem Hinweis auf die Schwäche, dass es dem Zentralkomitee der Nationalgarde nicht gelang, die Soldaten von den Offizieren loszureißen, die Kommune mit den Arbeiter:innenrevolten in Lyon und Marseille zu verbinden und sich letztlich auf die nationale Ebene auszubreiten, zog Trotzki folgende Schlussfolgerung: “Während großer Ereignisse können solche Entschlüsse nur von einer revolutionären Partei gefasst werden, die auf die Revolution vorbereitet ist und den Kopf nicht verliert, von einer Partei, die gewohnt ist, die politische Lage zu überblicken, und die keine Angst vor einer Aktion hat. Und gerade eine aktionsbereite Partei fehlte dem französischen Proletariat.”

Politische Rechte für die Arbeiter:innen, Frauen und Bäuer:innen, Zusammenführung der Legislative und Judikative, jederzeitige Abwählbarkeit der Mandate, Ende der Privilegien von Beamt:innen und Ersetzung durch einen durchschnittlichen Arbeiter:innenlohn, Wahl und Teilnahme des Volkes an den Gerichtsprozessen: Das sind also diejenigen Elemente, die die kapitalistische Demokratie gesprengt und der Arbeiter:innenregierung den Boden bereitet haben. Friedrich Engels und Karl Marx begrüßten daher die Pariser Kommune als erstes Beispiel der “Diktatur des Proletariats”.

Heute nach 150 Jahren bleibt die 72-tägige Erfahrung der Arbeiter:innenregierung als erstes einzigartiges Beispiel an direkter Demokratie immer noch lebendig.

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