Was steckt hinter dem Problem der Schusswaffengewalt in den USA?
Nach dem jüngsten Amoklauf an einer High School in Parkland ist die Debatte um das Problem der Schusswaffengewalt in den USA neu entbrannt. Was ist eine marxistische Antwort auf die Schusswaffendiskussion? Sollten wir die Forderung nach einem restriktiveren Waffengesetz unterstützen?
Nach einem weiteren schrecklichen Massaker, dieses Mal an einer High School in Parkland, im US-Bundesstaat Florida, ist ein leidenschaftlicher Aufschrei ausgebrochen, der eine Lösung für die mittlerweile weit verbreiteten Amokläufe in den USA verlangt. Die Überlebenden der Parkland-Tragödie haben Ausflüge und Kundgebungen organisiert, auf denen sie zur einer „Marsch für unser Leben“-Bewegung im nächsten Monat aufrufen. Diejenigen von uns, die eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft auf sozialistischer Basis anstreben, müssen auf diese Frage antworten und darüber nachdenken, auf welchem Weg Gewalt unsere Gesellschaft durchdringt.
Es gibt heute eine leidenschaftliche Debatte über Waffen: „Bewaffnete Lehrkräfte“ könnten Leben retten, sagt Trump und erwägt eine Politik, die viele als Widerspruch zur Forderung nach einem restriktiveren Waffengesetz sehen. Schüler*innen sind auf die Straße gegangen und in die sozialen Medien aktiv. Dort fordern sie allgemeine Reformen, wie ein Verbot halbautomatischer Waffen und verstärkte Hintergrundüberprüfungen bei Waffenkäufen (also weshalb der*die Käufer*in eine Waffe erhalten möchte und ob die Person geeignet erscheint, eine Waffe zu tragen).
Der Wunsch der Schüler*innen, Amokläufe zu beenden, ist völlig verständlich. Wenn Millionen Menschen sich fragen, ob sie nicht das nächste Opfer eines erneuten Amoklaufs werden, läuft etwas zutiefst falsch. Die Proteste haben sich bis jetzt jedoch fast ausschließlich auf die Frage der Waffengewalt, des Besitzes von Waffen und der Notwendigkeit irgendeiner Art von Reform des Waffengesetzes konzentriert. Während der einfache Zugang zu Waffen und ihre Verbreitung in den Vereinigten Staaten es möglichen Massenmörder*innen vereinfacht ihre mörderischen Phantasien in die Realität umzusetzen, kann die Fokussierung auf Waffengesetze von einer komplexeren Frage ablenken: Warum produziert die amerikanische Gesellschaft solch mörderische Wut?
Eine Gesellschaft, verwurzelt in Gewalt
Patriotische Aufrufe für parteiübergreifende Maßnahmen zur Bewältigung dieser Krise wurden gemacht, aber das Gewaltproblem in den USA ist nicht neu. Die jungen Aktivist*innen von heute müssen, wenn sie sich wirklich mit der Realität der US-amerikanischen Gewalt auseinandersetzen wollen, einen nüchternen Blick auf die Geschichte dieser Nation, ihre Politik und die kulturelle Reproduktion von Gewalt werfen. Die meisten jungen Menschen haben heute zumindest ein allgemeines Gespür dafür, dass die USA und die 13 Kolonien davor, auf der Vernichtung der indigenen Völker und der Versklavung der Menschen in Afrika gegründet wurden. Während die Schrecken der Sklaverei mit dem Amerikanischen Bürger*innenkrieg endeten, wurde die staatliche und institutionelle Gewalt fortgeführt und normalisiert.
Die gesamte Gesellschaft wurde Zeuge, wie schwarze und andere nicht-weiße Menschen täglich von Bullen brutal misshandelt und oftmals ermordet wurden, während nur selten Strafen dafür verhängt wurden. Hunderttausende mehr müssen in gewalttätigen und überfüllten Gefängnissen ausharren. Zusätzlich normalisierte die US-Regierung vor langer Zeit die Ermordung von im Ausland geborenen Menschen. Einerseits durch die Bombardierungen unter Georg W. Bush, die Furcht und Schrecken verbreiten sollten, um den Gegner zu lähmen und handlungsunfähig zu machen, wie es bei der Invasion des Iraks geschah und andererseits durch Obamas orwellschen Drohnenkrieg.
Die Zahl der Amokläufe auf US-Territorium ist gestiegen, aber sie müssen in dem größeren Kontext einer Kultur verstanden werden, die von struktureller, staatlich legitimierter Gewalt durchdrungen ist, die die meisten US-Amerikaner*innen akzeptieren, ohne mit der Wimper zu zucken.
Die Parteien der Massenmörder*innen können keine Lösung sein
Emma Gonzales, eine der Überlebenden des Parkland-Massakers, die durch ihren Aufruf für eine Reform des Waffengesetzes bekannt wurde, kritisierte richtigerweise Politiker*innen, die finanzielle Zuwendungen von der Waffenlobby erhalten. Sie argumentierte, dass für große Teile des politischen Establishments die Leben von Schüler*innen nur eine Finanzkalkulation darstellen. Tatsächlich, das politische Etablishment, Demokrat*innen, wie Republikaner*innen, interessieren sich einen Dreck für junge Menschen – insbesondere nicht für die schwarze und nicht-weiße Jugend der Arbeiter*innenklasse. Die Essenz von Gonzales Kritik an Trump – dass er und Seinesgleichen, sich mehr um Geld sorgen, als um Menschenleben – ist korrekt.
Die Demokrat*innen würde gerne mithilfe der waffenkritischen Antwort auf das Massaker 2018 wieder ins Amt kommen, in dem sie verkünden, sie seien die „vernünftige“, pragmatische, unbestechliche Stimme der US-amerikanischen Politik. Die finanziellen Zuwendungen der Waffenlobby gaben den Demokrat*innen ein einfaches Schreckgespenst, um ihr republikanisches Gegenstück zu verunglimpfen und für die sinnlose Waffengewalt verantwortlich zu machen. Die Debatte über ein strengeres Waffengesetz gibt den Demokrat*innen die Möglichkeit die Massen davon abzulenken, wofür die Demokrat*innen in der Vergangenheit standen und wofür sie heute stehen.
Die Demokrat*innen sind verantwortlich für viele der schlimmsten Episoden der Gewalt in der Menschheitsgeschichte: die Unterstützung des nuklearen Bombenabwurfs auf Japan, die Bombardierung von Korea, die Flächenbombardierung Vietnams und in der jüngeren Geschichte, der Krieg im Irak und in Afghanistan und die Fortführung des „Kriegs gegen den Terrorismus“. Selbst „progressive“ Demokrat*innen, wie Elizabeth Warren, stimmten für die Kriegsfinanzierung, während der gesamte Kongress, auch Bernie Sanders, ihre Unterstützung für Israels brutalen Krieg gegen den Libanon und in Gaza zusagten. Die Jugend von heute, die nach Antworten auf Gewalt sucht, sollte diese Politiker*innen fragen: Wie viele imperialistische Kriege habt ihr unterstützt?
Auch im Inland haben beide Parteien es zugelassen, dass subtilere Formen struktureller Gewalt durch die Übernahme des Neoliberalismus und die Abschaffung der Sozialfürsorge fortbestehen. Angriffe, die Millionen verarmter, ängstlicher und verärgerter Menschen hinterlassen haben. Es ist richtig, die Republikaner*innen dafür zu verurteilen, dass sie Werkzeuge von bestimmten Interessengruppen sind, aber eine konsequente Analyse muss viel weiter gehen und die Demokrat*innen einbeziehen.
Entfremdung, Ungleichheit und aufgestaute Wut
Der Anstieg der Amokläufe ist ein komplexes Thema, das sich nicht einfach erklären lässt. Viele Faktoren spielen gleichzeitig eine Rolle. Aber es ist nicht unmöglich, grob diejenigen Aspekte der Gesellschaft zu skizzieren, die wahrscheinlich zu dem Problem beigetragen haben. Wir stellten oben fest, dass Gewalt in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelt ist und in verschiedenen Formen reproduziert wird. Es gibt auch viele Faktoren, die dazu führen, dass sich große Teile der Bevölkerung zutiefst entfremdet fühlen und verärgert sind.
Auch im Jahr 2018 werden in Amerika Millionen von Menschen auf verschiedene Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Obdachlosigkeit, Opiate und andere Abhängigkeiten, Depressionen, düstere wirtschaftliche Aussichten für Arbeiter*innen (40 Millionen Menschen in Armut, laut dem Amt für Statistik der USA), der Aufstieg der sozialen Medien als primäre Form der menschlichen Verbindung, das historische Ausmaß der ungleichen Verteilung von Wohlstand – Faktoren wie diese tragen zu einem Szenario bei, in dem Millionen Menschen sich selbst Schaden zufügen und viele um sich schlagen. Der Staat weigert sich, denjenigen, die von der Wirtschaftskrise am stärksten betroffen sind, ein Sicherheitsnetz anzubieten, und fördert gleichzeitig die Politik der Masseninhaftierung.
Darüber hinaus gibt es auch ein stark geschlechtsspezifisches Element der jüngsten Amokläufe. Die US-Kultur fügt Männern von klein auf psychologischen Schaden zu, indem sie ihnen beibringt, dass die (eher zerbrechliche) männliche Identität, die sie annehmen müssen, von ihnen verlangt, „hart“ zu sein. Während die Gesellschaft den Frauen einen gewissen Raum bietet, um Emotionen zu verarbeiten und auszudrücken, übt das männliche Ideal einen Druck auf die Männer aus, ihre Gefühle zu verinnerlichen, keine Schwäche zu zeigen, was zu der „aufgestauten Wut“ führt, für die die jüngsten Amokläufer möglicherweise anfällig waren.
Marxistische Haltung gegenüber Waffenbesitz
Für die überwiegende Mehrheit der Befürworter*innen der heutigen Waffengesetze sind zur Reduzierung von tödlichen Amokläufen neue Richtlinien erforderlich, die einschränken, welche Waffen gekauft werden können, wo sie gekauft werden können und von wem. Die Jugend, die auf die Straßen geht, um eine Waffenreform zu fordern, will einfach nur am Leben bleiben und nicht in Angst leben, und wer kann es ihnen verübeln. Aber das wirft die Frage auf, nach welchen Kriterien wir entscheiden, wer die am meisten geschätzte Tötungsvorrichtung der US-Amerikaner*innen besitzen sollte und wer nicht? Wenn Waffenbesitz eine bestimmte Form von Macht begründet, wo wollen wir dann, dass diese Macht liegt?
Die Idee einer universell bewaffneten Gesellschaft war eine Tradition, die zumindest teilweise aus revolutionären Traditionen des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa übernommen wurde und einige fortschrittliche Elemente hatte. Nach der Amerikanischen Revolution erhob sich das entrechtete und arme Volk mehrmals, besonders in Shays‘ Rebellion und der Whiskey Rebellion. Die Versuche, die militärische Macht in den Händen des Staates zu konzentrieren, haben im Laufe der Geschichte vor allem reaktionären Zwecken gedient – mit dem Ziel, Aufstände der Armen und Arbeiter*innen, Sklav*innenaufstände oder Kämpfe indigener Völker zu verhindern.
Marxist*innen verstehen die USA als eine klassengeteilte Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung Teil der Arbeiter*innenklasse ist und eine Minderheit der Bevölkerung die herrschende Kapitalist*innenklasse verkörpert. Die amerikanische Geschichte ist voll von blutigen Beispielen des Klassenkampfes. Oft haben sich Arbeiter*innen friedlich organisiert, Proteste inszeniert, Sit-ins, Streiks, nur um dann mit Gewalt von Schlägern, die von den Bossen angeheuert wurden, oder von der Polizei verprügelt zu werden. Manchmal bewaffneten sich die Arbeiter*innen zur Verteidigung und wehrten Angriffe von den Schlägern der Bosse oder der Polizei nach bestem Wissen und Gewissen ab. In einer Gesellschaft, die auf Klassenkonflikten basiert, stellen Waffen ein wichtiges Element eines andauernden Machtkampfes dar.
Wenn wir die Gesellschaft im historischen Kontext betrachten und soziale Konflikte analysieren, muss die Waffenkontrolle als eine Maßnahme gesehen werden, die die Macht des kapitalistischen Staates stärkt – derselbe reaktionäre Staat, der Krieg führt, soziale Bewegungen kriminalisiert und einer Polizei Straffreiheit gewährt, die tötet, um unterdrückte Gemeinschaften und die Arbeiter*innenklasse zu entwaffnen und wehrlos zu halten. Aufrufe zum Verbot von Angriffswaffen und verstärkte Hintergrundüberprüfungen ermöglichen es beispielsweise dem kapitalistischen Staat (Polizei, Armee, Gerichte), seine Kontrolle über Waffen weiter zu monopolisieren.
Zur gleichen Zeit fördert die Waffenlobby eine individualistische, weiße rassistische Vision von Waffenbesitz, komplett antagonistisch zu den Rechten der Arbeiter*innenklasse, Menschen mit nicht-weißer Haut, Migrant*innen, LGBTI*-Menschen, und anderer Teile der Bevölkerung, die Opfer von Unterdrückung werden. Im Allgemeinen sind die Organisationen, die am aktivsten im Bereich der „Waffenrechte“ tätig sind, Teil der migrationsfeindlichen, rassistischen, politischen Rechten.
Die Reform des Waffengesetzes wurzelt im Rassismus
Auf der anderen Seite ist die Geschichte der amerikanischen „gun control“ jedoch untrennbar mit der rassistischen Entschlossenheit verbunden, die schwarzen und nicht-weißen Gesellschaftsgruppen zu unterwerfen. Nach dem Amerikanischen Bürger*innenkrieg gab es eine Bewegung, die schwarze Familien dazu ermutigte, Gewehre zu kaufen, um sich vor umherziehenden rassistischen Banden zu schützen. In „Southern Horrors: Lynch Law in all his Phrases“ schrieb die Journalistin Ida B. Wells: „[…] ein Winchester-Gewehr sollte in jedem schwarzen Haus einen Ehrenplatz haben, und es sollte für den Schutz verwendet werden, den das Gesetz nicht gewähren will.“
Jedoch war eine der frühen Maßnahmen der Reform des Waffengesetzes ein Landesgesetz in Florida, eingeführt quasi unmittelbar nachdem ein Lynchen durch bewaffnete schwarze Leute verhindert wurde. Als Reaktion darauf verabschiedete der Florida-Gesetzgeber 1893 ein neues Gesetz, das eine Lizenz zum Besitz von Waffen einführte. Ein Richter des Obersten Gerichtshofs von Florida würde später erklären, dass „das Gesetz zum Zweck der Entwaffnung der schwarzen Arbeiter*innen verabschiedet wurde“ und es „nie beabsichtigt war, es auf die weiße Bevölkerung anzuwenden, und in der Praxis nie so angewandt wurde“.
Dies war ein Muster, das wiederholt im ganzen Land auftrat; Waffenkontrollgesetze wurden erlassen, um Schwarze daran zu hindern, sich selbst zu verteidigen, und wurden so nur gegen schwarze Familien durchgesetzt, mit einem blinden Auge für die rassistische Gewalt, die ihnen von rechten Gruppen und der Regierung angetan wurde.
Diese Unterdrückung verschärfte sich im Laufe der Jahre und gipfelte in strengeren Waffengesetzen, als Gruppen wie die Black Panthers die bewaffnete Selbstverteidigung ihrer Gemeinden gegen die brutale Unterdrückung der Polizei, organisierten. Als Reaktion auf die Anfechtung des Systems der rassistischen Unterdrückung, durch die Black Panthers Party wurden sofort Gesetze wie der kalifornische Mulford Act von 1967 verabschiedet, die das Recht auf offenes Tragen von Waffen einschränkte. Damals unterstützte die Waffenlobby diese rechtlichen Maßnahmen und offenbarte ihren Rassismus und ihre Heuchelei.
Während die Jugend von Florida und anderen US-Bundesstaaten, restriktivere Waffengesetze nicht aus rassistischen Beweggründen verlangt, müssen wir anerkennen, dass es bei strengeren Waffengesetzen, in der Geschichte der USA, vordergründig nie darum ging Menschenleben zu retten. Die Doppelmoral besteht darin, dass während die schwarzen Selbstverteidigungsgruppen kriminalisiert und staatlich unterdrückt wurden, die rechten Milizen sich hinter dem „Recht, Waffen zu tragen“ verstecken durften.
Keine einfache Lösung im kapitalistischen Amerika
Einige der Überlebenden des Parkland-Massakers haben eine Erhöhung der Zahl der Schulberater*innen und Psycholog*innen gefordert, zusätzlich zur Waffenreform. Die Forderung nach mehr Geld und Personal für psychische Gesundheit geht aber eher in die richtige Richtung, wenn auch in kleinem Maßstab. Aber damit würde man noch immer nicht die tief empfundene Entfremdung, Einsamkeit, Wut und Unterdrückung großer Teile der Gesellschaft ansprechen. Die bürgerliche Psychologie gibt die lediglich Tipps, wie Du Deine angestaute Wut noch besser und effizienter aufstauen kannst, um noch mehr Wut aufzustauen zu können, damit diese sich nicht entlädt und womöglich das System der Ausbeutung und Unterdrückung in Wanken zu bringen.
Eine Gesellschaft, die auf menschliche Bedürfnisse und nicht auf Profit ausgerichtet ist, könnte wichtige Schritte unternehmen, um die psychische Gesundheit und die persönliche Erfüllung aller menschlichen Bedürfnisse zu verbessern. Aber leider gibt es keine einfachen Lösungen innerhalb eines Systems, das seit Jahrhunderten in der gewaltsamen Unterwerfung von Schwarzen und Indigenen verwurzelt ist, und einer Nation, die nach den Worten von Martin Luther King weiterhin „der größte Lieferant von Gewalt in der heutigen Welt“ ist.
Das englische Original auf Left Voice.