Was musst du über die Präsidentschafts­wahlen in Argentinien wissen?

17.10.2023, Lesezeit 15 Min.
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Mitte September gingen in Buenos Aires Tausende gegen den IWF auf die Straße. Mittendrin: die Kandidat:innen der FIT-U. Bild: PTS

Am kommenden Sonntag finden die Präsidentschaftswahlen in Argentinien statt. Welche Kandidat:innen stehen zur Wahl und was steht auf dem Spiel? Hier sind die wichtigsten Informationen im Überblick.

Am 22. Oktober findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Argentinien statt. Von den 47 Millionen Argentinier:innen sind 35 Millionen zur obligatorischen Stimmabgabe aufgerufen. Bei den Vorwahlen im August standen 27 Listen zur Wahl, von denen 5 die undemokratische Hürde von 1,5 Prozent überschritten und sich damit für die Präsidentschaftswahlen qualifizierten.

Dieser Text soll einen Überblick bieten über den sozialen und politischen Kontext, in dem sich die Wahlen abspielen und die verschiedenen bürgerlichen Kandidat:innen mit ihren Programmen vorstellen. Gleichzeitig zeigt er die weltweit höchst besondere Präsenz einer kämpferischen sozialistischen Alternative bei den Wahlen und ihre Bedeutung für den Klassenkampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen die bevorstehenden Angriffe auf.

Historische Krise

Die argentinische Wirtschaft befindet sich in einer dramatischen Krise mit immer verheerenderen Auswirkungen für die arbeitende Bevölkerung. Aktuell leben mehr als 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – vor acht Jahren waren es noch weniger als die Hälfte – und zwei von drei Kindern sind arm.

Ein zentraler Faktor in dieser Entwicklung sind die sinkenden Löhne. Denn obwohl die Arbeitslosigkeit nach der Pandemie zurückgegangen ist, sind vor allem prekäre Jobs ohne Arbeitsvertrag oder Tariflöhne entstanden. 50 Prozent der Beschäftigten arbeiten im informellen Sektor. Die Mehrheit von ihnen ist jung, weiblich und migrantisch.

Doch auch die Festangestellten haben in den vergangenen Jahren einen massiven Kaufkraftverlust erlebt. Büßten die Arbeiter:innen im Durchschnitt 20 Prozent ihrer Kaufkraft unter der Präsidentschaft des rechts-konservativen Mauricio Macri ein, sanken die Löhne unter dem peronistischen Alberto Fernández um weitere 9 Prozent.

Noch schlimmer steht es um Empfänger:innen von Sozialleistungen und Rentner:innen, die in den letzten acht Jahren 33 beziehungsweise 36 Prozent ihrer Zuschüsse verloren. Aktuell liegt der Mindestlohn bei umgerechnet 140 Euro, die Grundrente beträgt weniger als 100 Euro. Doch es geht nicht allen so schlecht: Während Arbeiter:innen, Jugendliche und Rentner:innen verloren, machen die großen Banken, Automobilkonzerne, das Agrobusiness und die Lebensmittelproduzent:innen riesige Gewinne.

Eine Studie der Stiftung CIFRA der regierungsnahen Gewerkschaft CTA ergab, dass sich die Verluste im Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung von 2015 bis 2023 auf 100 Milliarden US-Dollar belaufen, die nun dem Kapital zur Verfügung stehen. Ein Großteil dieser Summe eigneten sich die Kapitalist:innen unter der aktuellen Regierung im Zuge der Pandemie an, als sie Milliardengewinne auf Kosten der Bevölkerung einfuhren.

Der Hauptgrund für diese Entwicklung ist die immer schneller anwachsende Inflation, die in diesem Jahr weit über 150 Prozent liegen wird. Alleine im September stiegen die Preise um 12,7 Prozent, wobei die Lebensmittelpreise mit 30 Prozent in den letzten zwei Monaten besonders stark gestiegen sind.

Verursacher dieser Inflationsspirale ist der erdrückende Einfluss des Internationalen Währungsfonds (IWF) auf die lokale Wirtschaftspolitik. 2018 schloss der Ex-Präsident Macri einen Pakt mit dem IWF und erhielt den größten Kredit in der Geschichte der Institution im Wert von 45 Milliarden US-Dollar.

Der direkt von der US-Regierung beeinflusste IWF – die USA sind der größte Geldgeber der Institution mit Sitz in Washington – wurde von dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump dazu gedrängt und verstieß sogar gegen die eigenen Statuten, um diese historische Summe zu genehmigen. Das Geld konnte jedoch durch Kapitalflucht problemlos von Unternehmer:innen außer Landes geschaffen werden, sodass die Bevölkerung nun einen Schuldenberg abzahlen muss, der nie zu ihnen gelangte.

Trotz dieser Umstände verpflichtete sich die aktuelle Regierung dazu, die Schulden zu bezahlen und handelte ein neues Abkommen mit dem IWF aus, das eine Tilgung bis 2032 vorsieht. Dafür kontrolliert der IWF in regelmäßigen Abständen die Wirtschaftspolitik und setzte unter Leitung des aktuellen Wirtschaftsministers Sergio Massa Steigerungen der Wasser-, Strom- und Transportpreise durch.

Am Tag nach den Vorwahlen verkündete Massa, gleichzeitig Kandidat der Regierungskoalition „Unión por la Patria“ (UP, Einheit für das Vaterland), zudem eine Entwertung des argentinischen Peso von 22 Prozent, die vom IWF gefordert wurde. Sowohl die Preissteigerungen als auch die Entwertung hatten jeweils einen rapiden Anstieg der Preise zufolge, die sich in der Inflation niederschlugen.

Ablehnung der bürgerlichen Politiker:innen

Der kontinuierliche Verfall der Lebensbedingungen der breiten Massen hat zu einer Ablehnung den beiden großen bürgerlichen Koalitionen der letzten 20 Jahre geführt, sowohl vom links-nationalistischen Kirchnerismus/Peronismus (heute UP) als auch der neoliberalen Rechten „Juntos por el Cambio“ (JxC, Gemeinsam für den Wandel). Beide haben die Interessen der imperialistischen und nationalen kapitalistischen Gruppen vor die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung gestellt.

Dazu kommen eine Reihe von Korruptionsskandale, welche alle bürgerlichen Parteien betreffen. Erst kürzlich zirkulierten die Bilder eines peronistischen Bürgermeisters einer Vorstadt von Buenos Aires, die ihn Champagner trinkend auf einer Jacht im Mittelmeer zeigten, während über 60 Prozent der Bevölkerung seines Wahlkreises unter der Armutsgrenze leben.

Auf diese Ablehnung konnte der ultra-rechte Javier Milei aufbauen, dessen Wahlverein „La Libertad Avanza“ (Die Freiheit schreitet voran) bei den Vorwahlen mit fast 30 Prozent überraschend die stärkste Kraft wurde. Er wurde von den bürgerlichen Massenmedien als Outsider stilisiert und konnte mit seinen wütenden Anklagen gegen die politische „Kaste“ Bekanntheit erlangen.

Sein Programm verbindet jedoch den Neoliberalismus der 1990er Jahre mit dem Negationismus der Militärdiktatur von 1976-1983 und den unter ihrem Regime begangenen Gräueltaten gegen die Arbeiter:innenklasse und die Linke. Milei bezeichnet sich selbst als „Anarchokapitalisten“ und will mit einer Motorsäge Sozialausgaben kürzen und staatseigene Konzerne privatisieren.

Als Lösung auf die Inflation schlägt der Ökonom die Schließung der Zentralbank und die Aufgabe der eigenen Währung zugunsten des US-Dollar vor, eine Maßnahme, die nur mit einer Hyperinflation in den kommenden Monaten durchzuführen wäre und die vollkommene Aufgabe der nationalen Souveränität gegenüber dem US-Imperialismus mit sich bringen würde. Ein Frontalangriff auf die letzten Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse, um die Krise zugunsten des internationalen Finanzkapitals zu lösen. Mit diesem Programm sicherte sich Milei zudem die Unterstützung vieler Repräsentant:innen der von ihm so hart kritisierten „Kaste“ zu, von Unternehmer:innen über Gewerkschaftsbosse bis hin zu neoliberalen Politikern.

Rechtsruck des politischen Systems

Die Stimmen für Milei drücken jedoch nur bedingt einen Rechtsruck in der Gesellschaft aus. Viele seiner Wähler:innen lehnen Mileis Vorhaben der Privatisierung des Bildungs- und Gesundheitswesens kategorisch ab. Dass ein Politiker mit solchen Forderungen der meist gewählte Kandidat werden könnte und Chancen hat, auch bei den Wahlen am kommenden Sonntag vorne zu liegen und somit in die Stichwahlen einziehen könnte, ist gleichwohl Ausdruck einer Rechtsverschiebung des politischen Systems.

Neben Milei konkurriert Patricia Bullrich der rechts-konservativen Opposition mit einem Law-and-Order-Wahlkampf um die Stimmen der Unzufriedenen. Die ehemalige Sicherheitsministerin verspricht zwar keine Dollarisierung, doch auch ihr Programm sieht eine enorme Entwertung der Währung, die Privatisierung staatseigener Konzerne und die Kürzung von Sozialausgaben vor. Um dies durchzusetzen, will sie protestierende Gewerkschafter:innen und Vertreter:innen von sozialen Bewegungen, die Straßenblockaden durchführen, ins Gefängnis setzen.

Auch wenn dieses Angebot lange als aussichtsreichste Option für die nächste Präsidentschaft erschien, hat Bullrich der Wahlerfolg besonders zugesetzt. Zwar war ihre Koalition bei den Vorwahlen mit 28 Prozent knapp die zweitstärkste Kraft, doch hat sie als Kandidatin nur 16 Prozent der Stimmen erhalten, weshalb sie um den Einzug in die Stichwahl kämpfen muss.

Der Kandidat der Regierungskoalition, Sergio Massa, stammt vom rechten Flügel des Peronismus und ist für seine guten Beziehungen nach Washington bekannt. Im Wahlkampf versuchte er, mit einigen sozialen Maßnahmen die Konsequenzen der Entwertung des Pesos gutzumachen, die er selbst zu verantworten hat. Doch damit kann er nicht über die katastrophale Bilanz seiner Regierung, in der die Arbeiter:innen ärmer und die Reichen reicher wurden, hinwegtäuschen.

Er spricht davon, die Schulden des IWF aus den Gewinnen des Rohstoffexports von Lithium, Kupfer und den Erträgen der Soja-, Weizen- und Maisernte abzubezahlen und dabei die Löhne anzuheben, Sozialausgaben und Investitionen sicherzustellen und die Inflation zu senken. Dafür strebt er eine „Regierung der nationalen Einheit“ mit Vertreter:innen der rechten Opposition und sogar der libertären Rechten an. Eine Quadratur des Kreises, die in Anbetracht der eigenen Regierungsbilanz nur die engsten Verbündeten überzeugen wird.

Trotzdem setzt Massa auf die Polarisierung zwischen ihm und Milei und hofft darauf, gegen dieses Schreckgespenst die Stimmen derer zu erhalten, die nicht für ihn, sondern gegen die extreme Rechte abstimmen. Dies könnte ihm den Einzug in die Stichwahlen ermöglichen, auch wenn er mit 27 Prozent für sein Bündnis weit von einem Wahlerfolg entfernt ist. Zudem ist diese Kampagne besonders perfide, da selbst Persönlichkeiten aus seiner eigenen Koalition nach den Vorwahlen zugaben, dass Vertreter:innen von Massa Milei dabei halfen, seine Wahllisten aufzustellen, um damit die klassische Rechte zu schwächen.

Widerstand ist gewiss

Alle bürgerlichen Parteien vertreten mit verschiedenen Abstufungen ein Programm der Kürzungen und des Sozialkahlschlags. Doch ist schon jetzt absehbar, dass keiner von ihnen über eine stabile Regierungsfähigkeit verfügen wird, um die geplanten Angriffe durchzuführen. Ex-Präsident Macri erlebte dies am eigenen Leib, als er nach dem Wahlsieg in den Zwischenwahlen eine Rentenreform durchsetzen wollte und eine Massenrevolte im Dezember 2017 auslöste, die ihn beinahe die Präsidentschaft kostete.

Die Arbeiter:innenklasse ist angeschlagen und wird von den bürokratischen Gewerkschaftsführungen, die den sozialen Zerfall der vergangenen Jahre kampflos hinnahmen, stillgehalten. Doch sie ist nicht geschlagen und weiß sich im Falle von Angriffen zur Wehr zu setzen. Das Konfliktpotential wurde erst vor wenigen Monaten in der im Norden gelegenen Provinz Jujuy ersichtlich.

Nach seinem Wahlerfolg wollte der konservative Gouverneur Gerardo Morales eine undemokratische Verfassungsreform durchsetzen, um den internationalen Bergbau-Konzernen den Abbau der Lithiumreserven auf Kosten der dort ansässigen indigenen Gemeinschaften zu ermöglichen. Die Rebellion von Indigenen, Arbeiter:innen und Jugendlichen konnte die Reform zwar nicht verhindern, doch machte sie den Widerstand von breiten Teilen der Bevölkerung gegen die Ausplünderung der Ressourcen auf Kosten der lokalen Gemeinschaften und der Umwelt deutlich.

Eine sozialistische Alternative des Klassenkampfes

Neben den bürgerlichen Kandidat:innen tritt mit Myriam Bregman jedoch auch eine sozialistische Kandidatin mit einem radikal entgegengesetzten Programm an. Bregman ist Menschenrechtsanwältin und Kandidatin der trotzkistischen Wahlfront „Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad“ (FIT-U, Front der Linken und Arbeiter:innen – Einheit). Bei den Vorwahlen setzte sie sich als Kandidatin der Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS, Partei Sozialistischer Arbeiter:innen), Schwesterorganisation der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO), gegen einen konkurrierenden Kandidaten in der Wahlfront durch und konnte als einzige Vertreterin der revolutionären Linken die undemokratische 1,5-Prozent-Hürde überschreiten. Im stark über die sozialen Medien ausgetragenen Wahlkampf, und besonders in den zwei TV-Duellen, konnte sie eine weit über den traditionellen Einflussbereich der Linken in kämpferischen Teilen der Arbeiter:innenklasse, der Studierenden und der Frauenbewegung reichende Bekanntheit erlangen.

Dabei erntete sie viel Sympathie für ihr konsequentes und kämpferisches Auftreten gegenüber den Vertreter:innen der bürgerlichen Parteien: Sie verurteilte Massa für seine Sparpolitik gegen Rentner:innen und seine geplante Koalition mit dem Unterdrücker Morales aus Jujuy, klagte Bullrich für die Ermordung des Aktivisten Santiago Maldonado durch die Bundespolizei zu ihrer Zeit als Sicherheitsministerin an und bezeichnete Milei, der sich gerne als „Löwe“ stilisiert, als „Schmusekätzchen“ der Großkonzerne. Zudem war sie die einzige Kandidatin, die sich mit der Klimabewegung solidarisierte und trat als Vertreterin der „grünen Welle“ auf, der Frauenbewegung, die 2021 das Recht auf Abtreibung erkämpfte.

Die FIT-U fordert neben einer sofortigen Lohn- und Rentenerhöhung und der sofortigen Anpassung der Löhne an die Inflation, die Verstaatlichung der Häfen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle und ein staatliches Außenhandelsmonopol, um die Kapitalflucht zu stoppen und die Inflation zu kontrollieren.

Außerdem fordert Bregman eine Arbeitszeitverkürzung auf eine 30-Stunden-Woche ohne Lohnverlust, um somit neue Arbeitsplätze für Arbeitslose zu schaffen und gleichzeitig die Arbeitslast auf alle Schultern zu verteilen. All diese Maßnahmen ließen sich jedoch nur mit einem Bruch mit den imperialistischen Geldgebern durchsetzen, weshalb sich die FIT-U für die Nicht-Zahlung der Auslandsschulden einsetzt und sich von Beginn an auf der Straße gegen das Abkommen mit dem IWF stellte.

In der Gesamtheit handelt es sich um ein Programm, das die Grenzen der bürgerlichen Demokratie aufzeigt und nur durch eine Arbeiter:innen-Regierung im revolutionären Bruch mit den Institutionen des bürgerlichen Staates durchzusetzen ist. Dafür braucht es die Selbstorganisierung der Arbeiter:innen und Unterdrückten und den Aufbau einer revolutionären Partei, die in den strategischen Positionen des gesellschaftlichen Lebens verankert ist und über eine kämpferische Schlagkraft verfügt, und gleichzeitig den ideologischen Kampf für einen Kommunismus des 21. Jahrhunderts gegen bürgerliche Ideologien vom Reformismus bis zum „Anarchokapitalismus“ führt.

Es ist schon jetzt ein großer Erfolg für die PTS und die revolutionäre Linke, mit einem solchen Programm eine solche Massenwirksamkeit erreicht zu haben. Damit versetzt sie die kämpferischen Sektoren der Arbeiter:innenbewegung und der Jugend in eine bessere Ausgangssituation, den kommenden Angriffen zu widerstehen und gleichzeitig eine Offensive vorzubereiten, die in den Massen die Begeisterung für revolutionäre Ideen wecken kann. In Zeiten des Rechtsrucks ist die Kandidatur von Myriam Bregman ein Beispiel für die Linke weltweit, sich gegen die Resignation und das kleinere Übel zu stellen und eine revolutionäre Alternative des Klassenkampfes aufzubauen.

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