Was ist die Gewerkschaftsbürokratie? [mit Nietzsche]
Die Arbeiter*innen von Real waren wütend: Sie wollten gegen Angriffe auf ihre Arbeitsbedingungen kämpfen. Aber ihre Gewerkschaft, ver.di, bot ihnen nur halbherzige Aktionen und faule Kompromisse an. Das ist auch keine Ausnahme. Warum handeln Gewerkschaften nicht im Interesse ihrer Mitglieder? Um das Funktionieren moderner Gewerkschaften zu verstehen, hilft ein Zitat von Friedrich Nietzsche.
„Gewerkschafter*innen“ ist ein seltsamer Begriff. Wer ist damit gemeint? Der Begriff umfasst zwei sehr unterschiedliche Gruppen:
1. „Gewerkschafter*innen“ können Lohnabhängige sein, die in eine Gewerkschaft eintreten, um für ihre Interessen zu kämpfen. Dazu zählen zum Beispiel die Kolleg*innen vom Botanischen Garten in Berlin, die bisher jeden Monat nur 1.500 Euro mit nach Hause nahmen. Sie organisierten sich bei ver.di, um diesen Zustand zu ändern.
2. „Gewerkschafter*innen“ können aber auch genauso gut Gewerkschaftsbosse wie der ver.di-Chef Frank Bsirske sein. Dieser bekommt jeden Monat etwa 15.000 Euro. Das ist etwa zehnmal so viel wie manche ver.di-Mitglieder. Der „Kollege Frank“ sitzt außerdem in verschiedenen Aufsichtsräten und bekommt dafür zusätzliches Geld.
Das ist nicht ein spezifisches Bsirke-Problem. Alle Gewerkschaftsvorsitzenden in Deutschland verdienen exorbitante Löhne. In den Medien kursieren verschiedene Zahlen, doch sie sind allesamt großzügig.
Aber es geht nicht nur um die Vorsitzenden: Bereits einfache Funktionär*innen verdienen oft doppelt oder dreifach so viel wie die Menschen, die sie vertreten sollen. Bei der IG Metall liegt der Einstiegsgehalt schon über 5.000 Euro im Monat.
In einem Arbeitskampf von prekarisierten Arbeiter*innen sind die Gewerkschaftsfunktionär*innen, sozial betrachtet, meist näher an den Manager*innen als an ihrer eigenen Basis. (Deswegen verteidigen sie auch die Millionengehälter von Topmanager*innen.)
Deswegen taugt der Begriff „Gewerkschafter*innen“ einfach nicht. Es gibt auf der einen Seite organisierte Arbeiter*innen – auf der anderen Seite sollte man lieber von „Gewerkschaftsbürokrat*innen“ sprechen. (Das Wort „Gewerkschaftsbonz*innen“ hat auch eine gute Tradition.)
Nicht nur Löhne
Aber wenn die Bürokrat*innen gute Arbeit machen, sollten sie nicht auch gutes Geld verdienen?
Das Problem ist, dass sie einer anderen sozialen Schicht angehören als Gewerkschaftsmitglieder. Frank Bsirske hat bei den Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst ein Ergebnis ausgehandelt, das weit unter den Forderungen der Kolleg*innen lag. Er sagte, die Arbeitslöhne müssten für Erzieher*innen erstmal reichen. Nur: Warum braucht er selbst fünf- oder zehnmal mehr zum Überleben?
Um mit Arbeitgebern auf Augenhöhe verhandeln zu können, müssen wir auch wie diese verdienen.
Das sagte Bsirske schon 2004 zur Begründung. Vielleicht müssen Gewerkschaftsmitglieder nun mal solche Löhne zahlen, um die klügsten Köpfe als ihre Interessenvertreter*innen zu engagieren? Das Perfide ist ja, dass die Löhne der Bürokratie einfach nicht hoch genug sein können, um sie vom Verrat abzuhalten. Norbert Hansen war schon als Vorsitzender der Gewerkschaft Transnet ein sehr reicher Mann. Als er dann zum Vorstand der Deutschen Bahn, also zum Klassenfeind, wechselte, war er plötzlich um ein Vielfaches reicher.
Gut bezahlte Expert*innen
Bürokrat*innen leben als Vermittler*innen zwischen Arbeit und Kapital – den zwei Polen in der kapitalistischen Gesellschaft, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Würde die Arbeiter*innenklasse die Produktionsmittel übernehmen und demokratisch verwalten, dann hätten die Bürokrat*innen keine Arbeit mehr. Hier kommen wir – endlich – zu Friedrich Nietzsche. Der Philosoph sagte einst:
Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, daß er am Leben bleibt.
Gewerkschaftsbürokrat*innen werden bezahlt, um das Kapital zu bekämpfen. Deswegen haben sie kein Interesse daran, dass das Kapital tatsächlich besiegt wird. Statt Klassenkampf propagieren sie Sozialpartnerschaft. Auch wenn Nietzsche eindeutig ein Reaktionär war, können Revolutionär*innen über seine Aussage reflektieren.
Die wohlhabende Schicht, die unsere Gewerkschaften anführt, bezieht ihre Privilegien als „Expert*innen“ des Klassenkompromisses. Bei jedem Arbeitskampf merkt man auch ihre Angst davor, dass sich die Kolleg*innen selbst organisieren. Wenn ein Arbeitskampf von Basismitgliedern geführt wird, dann werden die nicht-gewählten „Expert*innen“ schnell überflüssig. Ein*e Gewerkschaftssekretär*in, der*die sicherlich nicht zitiert werden möchte, merkte selbstkritisch an: „Wir sind ziemlich besessen davon, alles zu kontrollieren.“
Deswegen erzählen Bürokrat*innen gern und oft davon, wie überlastet sie sind: Sie haben so viel Arbeit, außer ihnen macht niemand etwas, die Kolleg*innen selbst sind ja komplett desinteressiert. Aber während sie nörgeln, tun sie ihr Möglichstes, um die Basis zu entmutigen.
Das gilt auch für die „linken“ Bürokrat*innen mit autonomem oder sozialistischem Selbstverständnis. Gern reden sie über Streikversammlungen oder Flashmobs – aber in letzter Instanz entscheiden sie alleine, wie die Arbeitskämpfe geführt werden. Alles andere würde ihre Privilegien in Frage stellen: Wenn alle gleichberechtigt den Streik organisieren, warum sollte der*die „Experte*in“ dreimal mehr verdienen als andere? Und auch der*die tiefröteste Bürokrat*in bleibt im Zweifel dem eigenen Arbeitgeber, d.h. der Gewerkschaftsbürokratie, loyal.
Können Gewerkschaften anders funktionieren?
In Deutschland gibt es keine großen Gewerkschaften ohne riesige bürokratische Apparate. Aber ein Blick in andere Länder zeigt, dass es auch anders gehen kann. Die klassenkämpferische Basisgewerkschaftsbewegung in Argentinien funktioniert nach einfachen Prinzipien: Alle wichtigen Entscheidungen werden in Versammlungen der Mitglieder getroffen. Funktionär*innen werden von der Versammlung gewählt und sind rechenschaftspflichtig. Sie können jederzeit abgewählt werden. Sie verdienen den gleichen Lohn wie die Arbeiter*innen, die sie vertreten. Und nach zwei Jahren müssen sie ihre Posten wieder räumen und zurück an die Arbeit gehen.
Diese Basisgewerkschaftsbewegung bringt konkrete Resultate: Wenn Betriebe geschlossen werden sollen, zum Beispiel die Keramikfabrik Zanon oder die Druckerei Donnelley, werden sie von den klassenkämpferischen Arbeiter*innen besetzt und unter Arbeiter*innenkontrolle weiter betrieben.
Als Revolutionär*innen arbeiten wir in den Gewerkschaften, wo die Massen organisiert sind (eine „Gewerkschaft“ ohne Massen ist gar keine). Aber innerhalb dieser Gewerkschaften arbeiten wir für den Sturz der Bürokratie. Dass solche „radikalen“ Forderungen auch bei durchschnittlichen Gewerkschaftsmitgliedern auf Verständnis stoßen, zeigt die Basisgruppe ver.di aktiv bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), die zum Beispiel schreibt:
Es soll nicht über unsere Köpfe entschieden werden, wie Aktionen und Kampagnen organisiert werden können. Eine zentrale Kritik, die gerade aus unserer Erfahrung erwächst, ist: Wir Aktive und auch Andere haben in der Frage, wer der/die nächste Gewerkschaftsekretär/in sein wird, keine Entscheidungsmöglichkeit – das ist undemokratisch! Nicht nur verantwortliche SekretärInnen sondern auch alle VertreterInnen müssen gewählt werden können. Ebenso müssen sie auch abwählbar sein.
Der russische Revolutionär W.I. Lenin nannte Bürokrat*innen mal die „Agenten der Bourgeoisie“ in den Reihen der Arbeiter*innen. In der Tat sind sie immer „realistisch“ und „pragmatisch“: Als „Expert*innen“ plädieren sie konsequent für schlechte Kompromisse und mobilisieren mit angezogener Handbremse. Sie müssen von den Arbeiter*innen anerkannt werden, da sie von ihren Mitgliedsbeiträgen leben – aber genauso müssen sie von den Kapitalist*innen als „vernünftige“ Verhandlungspartner*innen anerkannt werden.
Wenn wir unsere Interessen als Arbeiter*innen durchsetzen, wird es nicht reichen, die Gewerkschaftsbürokratie von einer anderen, kämpferischen Politik überzeugen zu wollen. Denn die Sozialpartnerschaft entspricht schlicht den Interessen der Bürokratie. Deswegen müssen wir die Bürokratie stürzen, indem wir überall die demokratische Selbstorganisierung der Basis vorantreiben.
Trotzkismus
Der Trotzkismus kämpfte immer gegen jede Art von Bürokratie. Nach der russischen Revolution kämpften die Trotzkist*innen gegen die sowjetische Partei- und Staatsbürokratie unter Stalin, und für die Herrschaft der Arbeiter*innenräte als Voraussetzung für den Sozialismus. Auch in den Gewerkschaften kämpfen wir für die Unabhängigkeit vom bürgerlichen Staat und die demokratische Selbstverwaltung der Arbeiter*innen.
Deswegen ist es traurig, dass die größten Organisationen in Deutschland, die aus der trotzkistischen Tradition kommen, nämlich Marx21 und die SAV, praktisch das Wort „Gewerkschaftsbürokratie“ aus ihrem Vokabular gestrichen haben. (Und sie können die Arbeiter*innen nicht zum Kampf gegen etwas aufrufen, ohne dieses „etwas“ zu benennen.)
Dabei hatte Tony Cliff, der Gründer jener Strömung, aus der Marx21 hervorgegangen ist, seinerzeit recht deutliche Worte gesprochen: Eine revolutionäre Organisation müsse „deutlich machen, dass die Basis den linken Funktionär*innen trotz ihrer radikalen Rhetorik nicht glauben darf“. Stattdessen müsse man immer daran erinnern, dass „Bürokrat*innen, selbst wenn sie sich an die Spitze einer Bewegung von Arbeiter*innen stellen, das nur deswegen tun, um die Bewegung besser kontrollieren zu können.“ Cliff schlug radikale Maßnahmen gegen die Bürokratie vor, zum Beispiel die Wahl von Funktionär*innen und eine Begrenzung ihrer Löhne.
Doch diese Ideen sind bei Marx21 in Vergessenheit geraten, die stattdessen eine Art permanente Einheitsfront mit linken Bürokrat*innen aufrechterhält. Ihr Ziel ist die sogenannte „Partizipation“: Bürokrat*innen sollen hin und wieder mit ihrer Basis Rücksprache halten, bevor sie ihre Entscheidungen treffen. Doch wirkliche Streikdemokratie, wie Leo Trotzki oder Tony Cliff gefordert haben, sieht komplett anders aus.
Nicht viel anders ist es bei der SAV. Richtigerweise fordert die SAV, dass Parlamentsabgeordnete nur einen Arbeiter*innenlohn für sich behalten sollten. Aber diese Forderung erstreckt sie nicht auf Gewerkschaftsbürokrat*innen – nicht unwichtig, da ihre internationale Strömung (CWI) nicht wenige Bürokrat*innen in ihren Reihen organisiert, darunter die Mehrheit des Vorstandes der Gewerkschaft PCS in Großbritannien. Die Forderung nach dem Sturz der Bürokratie lehnt sie ab.
Marx21 und SAV teilen eine strategische Konzeption: Revolutionär*innen sollten Überzeugungsarbeit bei den Gewerkschaftsbürokrat*innen leisten, damit diese sich nach und nach von der Ideologie der Sozialpartnerschaft lösen. Doch das ignoriert vollständig die materiellen Grundlagen dieser Ideologie, nämlich die Privilegien der Bürokratie.
Zur Theorie und Praxis des Marxismus gehört es, für den Rauswurf der Bürokratie aus unseren Gewerkschaften zu kämpfen – nicht in der fernen Zukunft, sondern im Hier und Jetzt.