Was ist Bolschewismus?
Der Begriff "Bolschewismus" bedeutet auf Russisch erstmal nur "Mehrheit". Was steckt dahinter? Eine blutige Diktatur? Ein Wegbereiter des Stalinismus? Oder ein Werkzeug für die Weltrevolution?
Als Strömung des politischen Denkens und als politische Partei besteht der Bolschewismus seit dem Jahre 1903. Nur die Geschichte des Bolschewismus in der ganzen Zeit seines Bestehens vermag befriedigend zu erklären, warum er imstande war, die für den Sieg des Proletariats notwendige eiserne Disziplin zu schaffen und sie unter den schwierigsten Verhältnissen aufrechtzuerhalten.
(Lenin, „Der linke Radikalismus…“, 1920)
Historisch ist der Bolschewismus eine politische Strömung innerhalb der russischen Arbeiter*innenbewegung. Er entstand auf dem zweiten Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1903, als sich die Partei in Anhänger der Mehrheit (Bolschewiki) und Minderheit (Menschewiki) spaltete. Die von Wladimir I. Lenin angeführten Bolschewiki vertraten die Idee, dass nur aktive Mitglieder (Berufsrevolutionär*innen) Teil der Partei sein dürften und führten damit das Konzept der Partei ein, die demokratisch-zentralistisch aufgebaut ist. Der demokratische Zentralismus ist ein Organisationsprinzip, nach dem Entscheidungen partei-intern vollkommen demokratisch getroffen werden, jedoch für alle bindend sind, sobald sie festgelegt wurden. Das unterschied sie von den Menschewiki, die für laxe Organisationsprinzipien und das Massenpartei-Konzept eintraten, das unter den sozialdemokratischen Parteien verbreitet ist und bei dem Entscheidungen der Parteileitung für niemanden bindend sind.
Bolschewiki und Menschewiki
Die Parteispaltung fand also vordergründig aufgrund rein organisatorischer Vorschläge statt. Doch Lenin selbst schlug immer wieder eine konkrete Neubewertung der Aufnahmekriterien abhängig von der politischen Situation vor. Reichten diese organisatorischen Prinzipien also aus, um den Bolschewismus als eigene historische Strömung zu rechtfertigen? Die Bedeutung des Bruchs bestätigte sich anhand der historischen Erfahrung der drei russischen Revolutionen, der von 1905 und der Februar- und der Oktoberrevolution 1917. Die Menschewiki charakterisierten die russische Revolution als bürgerlich-demokratisch und sahen deshalb die Rolle der Arbeiter*innenklasse darin, der Bourgeoisie zum Sturz der Zarenherrschaft und der Großgrundbesitzer*innen zu verhelfen. Deshalb setzten sie auf ein Bündnis mit den „fortschrittlichen“ Kapitalist*innen, die jedoch in Russland eine konterrevolutionäre Rolle angenommen hatten und sich gegen die Erfüllung der bürgerlich-demokratischen Aufgaben (Sturz der Monarchie, Einführung des Parlamentarismus, Agrarreform, usw..) stellte.
Die Bolschewiki hingegen traten bis zum April 1917 dafür ein, das die Arbeiter*innenklasse gemeinsam mit der Bauernschaft eine führende und von der Bourgeoisie unabhängige Rolle in der bürgerlich-demokratischen Revolution einnimmt. Nach der Februarrevolution übernahmen die Bolschewiki mit Lenins Aprilthesen die von Leo Trotzki formulierte Theorie der Permanenten Revolution. Diese besagt, dass in der Epoche des Imperialismus auch in einem rückständigen Land, in dem noch keine Revolution die bürgerlich-demokratischen Aufgaben erledigt hat, „die volle und wirkliche Lösung ihrer [des kolonialen und halbkolonialen Landes] demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.“ (L. Trotzki, Die permanente Revolution, 1929)
Oktoberrevolution 1917
Den größten historischen Ausdruck fand der Bolschewismus also in der Oktoberrevolution von 1917, als die Partei, gestützt auf die in Räten organisierten Arbeiter*innen, Soldat*innen und Bauern*Bäuerinnen, die erste erfolgreiche proletarische Revolution anführte. Das Privateigentum an Produktionsmitteln wurde aufgehoben, die Industrie ging in Staatshand über und die Ländereien wurden der Bauernschaft übergeben. In deren Folge entstand eine neue revolutionäre sowjetische (russisch für Räte) Staatsform, die auf der aktiven Beteiligung der Massen fußte und mit dem Fortschritt der wirtschaftlichen Entwicklung zum Absterben des Staates und der Klassen und dem Übergang zum Kommunismus führen sollte. Doch der erste Weltkrieg und der darauf folgende Bürger*innenkrieg, in dem der junge Arbeiter*innenstaat die Invasion zahlreicher imperialistischer Mächte und konterrevolutionärer Armeen besiegte, hinterließen das Land verwüstet und die revolutionäre Arbeiter*innenklasse geschwächt. Die Niederlagen der revolutionären Bewegungen weltweit und besonders in Deutschland isolierten die Sowjetunion international und verhinderten den wirtschaftlichen Fortschritt, der für den Aufbau des Sozialismus nötig war. Auf diesen Entwicklungen aufbauend übernahm eine konservative bürokratische Schicht die Macht im Staatsapparat und der Kommunistischen Partei (KPdSU), die zur Erhaltung ihrer Herrschaft die Ausweitung der Weltrevolution verhinderte, die Sowjetdemokratie erstickte und die fortschrittlichsten Teile der russischen Arbeiter*innenklasse vernichtete.
Erbe des Bolschewismus
Doch auch nach der Abkehr der KPdSU und der gesamten Dritten Internationale von den Prinzipien des Bolschewismus versuchte Leo Trotzki und die von ihm angeführte Linke Opposition, die Lehren der Bolschewiki mit der Gründung der Vierten Internationale 1938 zu bewahren und weiterzuentwickeln. Das Gründungsmanifest der Vierten Internationale, das Übergangsprogramm, stellt eine wichtige Fortführung des Bolschewismus dar. Trotzki hat in seiner Schrift „Bolschewismus und Stalinismus“ von 1937 einige der Errungenschaften des Bolschewismus aufgezählt:
[Er] lieferte einen wertvollen Beitrag zum Marxismus durch seine Analyse der imperialistischen Epoche als einer Epoche von Kriegen und Revolutionen; der bürgerlichen Demokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus; des Verhältnisses zwischen Generalstreik und Aufstand; der Rolle der Partei, der Sowjets und der Gewerkschaften in der Epoche der proletarischen Revolution; durch seine Theorie des Sowjetstaates, der Übergangswirtschaft, des Faschismus undBonapartismusin der Epoche des kapitalistischen Verfalls; schließlich durch die Analyse der Bedingungen für die Entartung der bolschewistischen Partei und des Sowjetstaates selber.