Was geschieht in der Neuen Antikapitalistischen Partei in Frankreich?
Ein vor einigen Tagen in der französischen Tageszeitung Le Monde veröffentlichter Artikel von Sylvia Zappi spricht von der "Implosionsgefahr" der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA). Die Darstellung der Ursachen und Charakteristiken der Krise ist von einer verzerrten Sicht geprägt, die entscheidende Elemente, die wir erläutern wollen, außen vor lässt.
Dieser Artikel, wurde ursprünglich auf Französisch von der Redaktion der Onlinezeitung Révolution Permanente veröffentlicht, die wie Klasse Gegen Klasse Teil des Internationalen Zeitungsnetzwerks La izquierda Diario ist. Es handelt sich um eine Debatte mit einem Artikel, der in der Tageszeitung Le Monde erschien und in dem von einer drohenden Implosion der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) Frankreichs gesprochen wird. Die Website Révolution Permanente wird von der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (CCR) in der NPA betrieben.
Der Artikel in Le Monde basiert auf einem internen Papier, zu dem die Autorin Sylvia Zappi Zugang hatte. Sie erklärt die hohen Spannungen im Zusammenhang mit den Debatten innerhalb der NPA vor dem Kongress hauptsächlich als Ergebnis einer „Serie von wahltaktischen und strategischen Rückschlägen“ seit den Präsidentschaftswahlen 2017 und der Tatsache, dass die Partei „politisch isoliert sei, da sie sich in Opposition zu allen Strömungen der Linken aufbaute“.
Wir wissen nicht, ob diese Interpretation eine Art Voreingenommenheit der Autorin widerspiegelt, aber sie wird sicherlich von einer Reihe ehemaliger Mitglieder der Ligue Communiste Révolutionnaire [LCR, einer Partei der radikalen Linken in Frankreich, die sich 2009 auflöste, um die NPA zu gründen] oder der NPA geteilt. Einige von ihnen befinden sich heute in La France insoumise [LFI, deutsch: Unbeugsames Frankreich, einer Partei unter der Führung von Jean Luc Melenchon], der Kommunistischen Partei (PCF) und sogar der Sozialistischen Partei (PS). Diese Art der Argumentation ergibt sich aus einer Logik, die auf Wahlen und der Beziehung zur institutionellen Linken basiert. Dabei handelt es sich nicht um eine klassenkämpferische und revolutionäre Perspektive, welche eine große Mehrheit der NPA-Kämpfer*innen inspiriert. Die Erzählung, nach der eine Opposition der historischen Führung vorwirft, „sich den Freunden Jean-Luc Mélenchons nähern zu wollen und die ‚revolutionäre Reinheit‘ für einen für schuldig befundenen Reformismus aufzugeben“, bietet eine Erklärung, die zweifellos bequem, aber falsch ist und das Wesentliche verdeckt.
Sie ist falsch, weil sie überhaupt nicht zeigt, was auf dem Spiel steht. Im Gegensatz zu dem, was Sylvia Zappi sagt, wirft niemand dieser Führung vor, „sich den Freunden von Jean-Luc Mélenchon nähern zu wollen“. Die Genoss*innen, die von dieser Perspektive verführt wurden, haben dies schon längst getan, und zwar in mehreren Wellen von Austritten von NPA-Aktivist*innen und Anführer*innen in Richtung Front de Gauche [Linksfront, ehemaliges Projekt von Mélenchon] und dann in Richtung LFI.
Sie verbirgt das Wesentliche, denn die Realität ist viel komplexer. Die Ursachen für die gegenwärtige Krise der NPA liegen vielmehr in der Unfähigkeit ihrer alten Mehrheit, die historischen Mobilisierungen der letzten Jahre (die Bewegung gegen das Arbeitsgesetz von Hollande, die Eisenbahner*innenbewegung mit ihrem Tarifvertrag, die Gelbwesten und dann die Rentenreform von Macron) auszunutzen und sich in ihnen aufzubauen, und ganz allgemein im Scheitern des Gründungsprojekts der NPA.
Die wahren Gründe für die gegenwärtige Krise
Doch der Schwerpunkt der Situation liegt woanders: Wenn die bisherige Leitung jetzt die Möglichkeit einer Spaltung erwägt, von denen einige hoffen, dass sie „freundlich“ verläuft, dann deshalb, weil sie in der Basis der Organisation zu einer Minderheit geworden ist und ihre Bilanz als relative Mehrheit ab dem Kongress 2018 es ihr nicht erlaubt, mit dem geringsten Optimismus an den nächsten Kongress heranzugehen.
Diese Einschätzung bezieht sich nicht so sehr auf die Wahltermine, sondern vielmehr auf die Intervention der Partei in den letzten Sequenzen des Klassenkampfes und angesichts der neuen politischen Phänomene, die in diesem Bereich hätten auftreten können. Abgesehen von den oft korrekten Interventionen von Olivier Besancenot in den Medien hatten die NPA und ihre Anführer*innen große Schwierigkeiten, die Situation zu verstehen, richtig zu intervenieren und vor den Augen Tausender Menschen, die an diesen Mobilisierungen teilnahmen, als glaubwürdige Alternative zu erscheinen.
Diese Einschätzung ist weniger negativ, was andere Strömungen in der NPA betrifft. Gaël Quirante, der in dem Artikel in Le Monde erwähnt wird, spielte eine führende Rolle bei den Mobilisierungen von Postarbeiter*innen und anderen Sektoren in der Region Hauts-de-Seine. An seiner Seite finden wir die meisten derjenigen Aktivist*innen der NPA, die laut dem Artikel „Einfluss auf bestimmte Jugendmobilisierungen oder radikale Sektoren der sozialen Bewegung“ haben.
Dies ist besonders Fall unseres Genossen Anasse Kazib, einer führenden Figur im Kampf der Eisenbahner*innen gegen den Eisenbahnpakt 2018 (d.h. gegen die Prekarisierung des Sektors), und des historischen Streiks der Transportarbeiter*innen im Rahmen der Bewegung gegen die Rentenreform im vergangenen Dezember-Januar. Im Rahmen dieser Bewegung war Anasse Sprecher der RATP-SNCF-Koordination zwischen Beschäftigten der Eisenbahnen und des Nahverkehrs, die eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung des Transportstreiks und damit der Bewegung spielte, während die Gewerkschaftsbürokrat*innen am Jahresende zu einem Waffenstillstand aufriefen.
Dies ist auch der Fall der Aktivist*innen, die über die Intergare (ein Kollektiv von gewerkschaftlich und nicht-gewerkschaftlich organisierten Eisenbahner*innen, das aus dem Kampf gegen den Eisenbahnpakt 2018 hervorgegangen ist) und seine Verbindungen zum Adama-Komitee am Ursprung des Pôle Saint-Lazare standen. Dieser Pol vereinte Eisenbahn- und Transportarbeiter*innen mit sozialen und antirassistischen Aktivist*innen, insbesondere denen des Adama-Komitees, das Gerechtigkeit für den von der Polizei getöteten jungen Adama Traoré fordert.
Der Pôle Saint-Lazare brachte Tausende Aktivist*innen aus der Arbeiter*innenbewegung und den Arbeiter*innenvierteln zusammen, um neben den Gelbwesten zu demonstrieren. Eine offensive Politik, die zu einer Zeit durchgeführt wurde, als die Gewerkschaftsbosse alles Mögliche taten, um die Annäherung zwischen der Gewerkschaftsbewegung und den Gelbwesten zu verhindern. Das ging soweit, dass sie in einer Pressemitteilung vom 6. Dezember die „Gewalt“ der Gelbwesten verurteilten, woran sich ein Teil der NPA-Führung leider angepasst hat.
Es ist in diesem Zusammenhang nicht überraschend, dass die meisten Genoss*innen, die der NPA aufgrund der jüngsten Bewegungen sowohl im Bereich der Arbeiter*innenbewegung als auch im Bereich der Jugend beigetreten sind, dies auf Einladung von Genoss*innen taten, die anderen Tendenzen angehörten als der früheren Führung der LCR.
Ein Hauptproblem der letztgenannten Strömung besteht darin, dass sie es weitgehend aufgegeben hat, sich mit einer von den politischen und gewerkschaftlichen Bürokratien unabhängigen Politik an Kämpfen zu beteiligen, das Vertrauen der Akteur*innen in diesen Kämpfen durch konkrete kämpferische Handlungen zu gewinnen und diesen Aktivist*innen vorzuschlagen, sich zusammenzuschließen und eine Partei aufzubauen, die eine revolutionäre Alternative und eine kommunistische Perspektive verteidigt. Diese „altmodische“ Politik ist durch die Illusion ersetzt worden, dass eine Wahlbeteiligung mit einem guten Kandidaten automatisch ein Wachstum der Mitgliedschaft in (und bei Wahlen mehr Stimmen für) eine „antikapitalistischen Partei“ auslösen würde.
Das allgemeinere Problem, dem die NPA gegenübersteht, ist das Scheitern ihres Gründungsprojekts, das auf diesen Illusionen beruht. Darüber hinaus spielen die Vorstellungen eine große Rolle, die im Laufe der Jahre von derjenigen internationalen Strömung entwickelt wurden, die sich selbst als „die Vierte Internationale“ bezeichnet, und auf die sich die meisten Aktivist*innen immer noch mit ihrem ursprünglichen Namen „Vereinigtes Sekretariat“ (VS) beziehen. Dieses in den frühen 1990er Jahren geborene Projekt bestand darin, „breite“, „strategisch undefinierte“ Parteien aufzubauen, d.h. Parteien, die keine klare Position zwischen Reform und Revolution, zwischen den „fortschrittlichen“ Reformen des Kapitalismus und dem revolutionären Sturz des Systems in sozialistischer oder kommunistischer Perspektive einnahmen.
Diese Politik, die zu verschiedenen Arten von Bündnissen mit den so genannten „linken“ reformistischen Strömungen geführt hat, hat auch eine Reihe von Katastrophen für die VS-Organisationen verursacht, vom Verlust einer Organisation in Brasilien („Sozialistische Demokratie“), die 2003 die sozialliberale Regierung Lula unterstützte und sich an ihr beteiligte, bis zum kürzlichen Austritt von Anticapitalistas aus Podemos im spanischen Staat und, in Italien, der Katastrophe von Rifundazione Comunista.
Mit dieser Konzeption des Parteiaufbaus müssen wir heute endgültig brechen, wenn wir wollen, dass die elf Jahre des Bestehens der NPA dazu dienen, die revolutionäre Bewegung voranzubringen und nicht in einem völligen Scheitern wie in den oben zitierten Erfahrungen enden.
„Wer den Hund töten will, beschuldigt ihn, Tollwut zu haben“?
In dieser Situation schreiten die linken Strömungen innerhalb der NPA voran und tragen die Früchte ihrer Intervention in den Klassenkampf, während das relative Gewicht der ehemaligen Mehrheit der LCR von Kongress zu Kongress abnimmt. Dies versucht die scheidende Führung zu verbergen. Mit Manövern wollen sie eine echte politische Bilanz der NPA elf Jahre nach ihrer Gründung ignorieren: Dazu gehört der Versuch, neue Mitglieder, die der Partei nach den letzten großen Bewegungen beigetreten sind, daran zu hindern, für den nächsten Kongress zu stimmen, oder die Verwendung von „Tendenzen“ als Sündenböcke – gegen die Vorwürfe gerichtet werden wie jener, dass sie getroffene Entscheidungen in Frage stellten und ihre Beiträge nicht richtig bezahlen würden –.
Der wirkliche Grund der Sache ist, dass die historische Mehrheit der ehemaligen LCR nicht bereit ist, zu akzeptieren, eine Minderheit innerhalb der ursprünglich von ihr geschaffenen Organisation zu sein. Die Mehrheit der Aktivist*innen der NPA ist jedoch gegen die Spaltung und beabsichtigt, die NPA aufrechtzuerhalten und neu zu gründen – und zwar auf der Grundlage einer Analyse, die den radikalen Wandel der Situation, die anhaltende Rückkehr des Klassenkampfes und die Aussicht auf große soziale Umwälzungen mit revolutionärem Potenzial berücksichtigt. All dies sind Elemente, die die vagen strategischen Abgrenzungen des ursprünglichen Projekts in Frage stellen und geschärft werden müssen.
Sicher ist jedoch, dass unter den gegenwärtigen Umständen das Verschwinden der NPA als unabhängige antikapitalistische Organisation der institutionellen Linken zugute käme, insbesondere La France Insoumise, die bereits die Präsidentschaftswahlen im Blick hat und ungern einen Kandidaten links von ihnen sehen möchte, der durchaus ein gewisses Publikum erreichen könnte.
Aus diesem Grund schrieb Adrien Quatennens als Vertreter von LFI vor einigen Wochen an die NPA-Führung und schlug ein Treffen vor, um die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu erörtern. Bei der Wahl hoffen sie darauf, Mélenchon in die zweite Runde zu bekommen, indem sie auf geringere Stimmenhürden für die zweite Runde im Vergleich zu 2017 setzen.
Die NPA erhalten und sie zu einem Werkzeug für den Aufbau einer großen revolutionären Partei machen
Im Gegensatz zu dieser Logik der Teilung und Spaltung, die zu einer kleinen Partei mit fast keiner Präsenz in der Arbeiter*innenbewegung und sogar zum völligen Verschwinden der NPA führt, sollte die politische Situation die Antikapitalist*innen zu einer völlig anderen Logik drängen. In dieser neuen Situation, die durch das Wiederaufleben des Klassenkampfes auf internationaler Ebene gekennzeichnet ist, in der ein erbitterter Kampf darum geführt wird, wer die Kosten der Gesundheits- und Wirtschaftskrise tragen wird, in der die institutionellen Parteien immer weniger Glaubwürdigkeit bei den Massen finden und in der auf verschiedenen Wegen die Notwendigkeit eines Endes dieser rassistischen, patriarchalen und umweltzerstörerischen kapitalistischen Gesellschaft deutlich wird, wird die Existenz unabhängiger antikapitalistischer und revolutionärer Organisationen mehr denn je ein entscheidender Faktor sein.
Das bedeutet nicht, dass die NPA perfekt ist, weit davon entfernt. Aber sie kann zu einem Instrument der Neuzusammensetzung einer radikalen Linken werden, die für eine große revolutionäre Partei kämpft und aus Kämpfer*innen verschiedener Traditionen und Tausender Arbeiter*innen und Jugendlichen besteht, die in den letzten Mobilisierungen politisch erwacht sind. Es ist von grundlegender Bedeutung, sich nicht auf die Seite von LFI und EELV (Grüne) zu begeben, sondern auf der Seite der kämpfenden Arbeiter*innen und ihrer Interessen für den Sturz des kapitalistischen Systems und eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung.
Wir wollen nicht einfach die Fortsetzung der „Debatten zwischen den Strömungen“ vorschlagen, die als verantwortlich für die Krise der NPA angesehen werden. Vielmehr glauben wir, dass eine Periode des Klassenkampfes wie die, die seit 2016 begonnen hat, eine neue Perspektive für den Aufbau einer großen revolutionären Partei in Frankreich bietet. In dieser Perspektive müssen den verschiedenen Sektoren und Aktivist*innen, die bei den Mobilisierungen der letzten Jahre mutig den Kopf erhoben haben, die Türen der Partei geöffnet werden (anstatt sie zu schließen). So kann auch über die strategischen Bilanzen der jüngsten Kämpfe und die Möglichkeiten des Wiederaufbaus einer antikapitalistischen und revolutionären radikalen Linken diskutiert werden, die der Situation gewachsen ist.
Das ist das politische Ziel, das die Kämpfer*innen von Révolution Permanente in der NPA zusammen mit anderen Strömungen innerhalb der NPA auf dem nächsten Kongress und darüber hinaus verteidigen wollen.
Dieser Artikel auf Französisch bei Révolution Permanente und auf Spanisch bei La Izquierda Diario.