„Warum wir als Sozialist:innen für den Bundestag kandidieren“

21.02.2025, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Juergen Nowak/shutterstock.com

Als Teil der strategischen Debatten innerhalb der politischen Linken anlässlich der Bundestagswahl spiegeln wir unser Diskussionsbeitrag im Lower Class Magazine.

Als KlasseGegenKlasse/Revolutionäre Internationalistische Organisation wollen wir durch unsere gemeinsamen Wahlfront mit der Revolutionären Sozialistischen Organisation mit unseren Kandidaturen zu der Bundestagswahl eine klassenkämpferische Perspektive der Arbeiter:innen und Unterdrückten aufwerfen. Im folgenden spiegeln wir unser Diskussionsbeitrag für das Lower Class Magazine vom 20. Februar 2025.

Sozialist:innen für den Bundestag kandidieren – ein Diskussionsbeitrag von Klasse Gegen Klasse

Unterstützen wir die Linkspartei? Bauen wir ein eigenes Wahlbündnis auf? Ignorieren wir das Parlament einfach? Wie bekämpfen wir effektiv den real im Parlament stattfindenden Rechtsruck und aufsteigenden Faschismus? Wie ist das Verhältnis von parlamentarischer zu außerparlamentarischer Politik in einer revolutionären Gesamtstrategie?

Als LowerClassMagazine begreifen wir unsere Aufgabe und die Rolle dieses Mediums auch darin, Debatten über Strategie- und Organisierungsfragen der (revolutionären) Linken eine Plattform zu bieten und diese mit anzustoßen.

Anlässlich der Bundestagswahlen am 23. Februar haben wir verschiedene Gruppen und Organisationen gebeten, ihre politische Strategie bezüglich des Themenkomplexes Wahlen und parlamentarische Parteipolitik darzulegen, mit dem Ziel durch produktive Diskussion eine Verständigung und gemeinsame Stoßrichtung der revolutionären Linken für die Zukunft zu stärken.

Eine Strategiediskussion der gesellschaftlichen und revolutionären Linken ist nötig, da das Problem des faschistischen Raumgewinns in Staat und Parlament nicht wegzuwünschen ist, wir uns jedoch gleichzeitig natürlich auch nicht den Illusionen und Fallstricken des Parlamentarismus hingeben sollten. Somit sollten wir uns die Frage nach der Rolle parlamentarischer Politik in unserer antifaschistischen und sozialistischen Gesamtstrategie für die nächsten Jahre und Jahrzehnte in Deutschland stellen.

Wir freuen uns, wenn sich aufeinander bezogen, zugestimmt, kritisiert, widersprochen, Gedanken weiter entwickelt und kontrovers diskutiert wird!

Den Anfang macht Andrés Garcés von der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO) / Klasse Gegen Klasse:


Warum wir als Sozialist:innen für den Bundestag kandidieren – ein Diskussionsbeitrag von Klasse Gegen Klasse

Im aktuellen Wahlkampf scheinen große Teile der deutschen Linken sich entweder der Linkspartei unterzuordnen, oder die Wahlen vollständig außer Acht zu lassen. Inés Heider und Leonie Lieb von der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO) / Klasse Gegen Klasse und Franziska Thomas von der Revolutionär Sozialistischen Organisation (RSO) kandidieren in drei Wahlkreisen für Direktmandate für den Bundestag. Im folgenden Text wollen wir erklären, warum wir dies tun, warum Sozialist:innen uns unterstützen sollten und warum es mehr solcher Initiativen braucht.

Die Bedeutung der aktuellen Wahlen

Die aktuelle politische Situation erscheint so schlimm wie lange nicht mehr: alle Parteien wandern nach rechts, die Hetze gegen Migrant:innen und Geflüchtete ist fast Konsens und das alles passiert inmitten einer immer instabileren Weltordnung, mit Figuren wie Trump, Musk und Milei, die genauso aus einem dystopischen Satirefilm kommen könnten.

Die Wahlen sind Ausdruck von nicht mehr und nicht weniger als der Führungskrise des deutschen Imperialismus. Die Ampel zerbrach an dieser Frage: nämlich, welche Finanzpolitik nötig ist, um das deutsche Kapital gut über die nächsten Jahre zu bringen. War Deutschland während der letzten globalen Krise 2008-09 ein Kern der Stabilität gewesen – auf Kosten der südeuropäischen Länder, die von deutschen Banken ausgepresst wurden – so ist es heute eher der Vorreiter der Krise: Inflation, Rezession und Orientierungslosigkeit prägen die Lage.

Denn der deutsche Wohlstand ist Geschichte. Er basierte auf fünf Pfeilern, die allesamt weggebrochen oder instabil sind: das günstige russische Gas, der große chinesische Absatzmarkt, die geopolitische und militärische Rückendeckung durch die USA, die unangefochtene Hegemonie in der EU und ein riesiger Niedriglohnsektor im Inland.

Die rassistische Hetze, der soziale Kahlschlag und die massive Aufrüstung müssen in diesem Lichte verstanden werden. Es geht darum, die Stabilität des deutschen Staates im In- und Ausland zu garantieren. Daher die Angriffe auf die Migration, der Ausbau der Polizei, die Debatten über die Einschränkung des Streikrechts und die Repression gegen die Palästinasolidarität. Die bürgerlichen Parteien sind sich darin einig, dass es mehr Angriffe auf Arbeiter:innen und Migrant:innen braucht, soviel steht fest. Doch wie die langfristige, vor allem außenpolitische, Ausrichtung sein soll, ist unklar.

In dieser Situation steht für Sozialist:innen fest: ein linker, revolutionärer Weg muss gegen den Rechtsruck standhalten und konsequente antiimperialistische Politik betreiben. Genau aus diesem Grund haben wir uns dazu entschieden, zu den Bundestagswahlen anzutreten. Das Wahlbündnis mit der RSO war das Resultat aus längeren Diskussionen und mehreren Veranstaltungen, die wir gemeinsam geführt haben. Hiermit gehen wir einen anderen Weg als die meisten Gruppen aus der radikalen Linken, die sich entweder dem geringeren Übel – verkörpert durch die Linkspartei – unterordnen, oder aber die Wahlen vollständig ignorieren.

Aktion Silberlocke und Co. – ein Feigenblatt für imperialistische Politik

Als die Ampel zusammenbrach und wir kurz darauf unsere Kandidaturen öffentlich machten, schien die Linkspartei kurz vor dem Aus zu sein. Trotz neuer Führung und neuem Social Media Auftritt kam sie nicht weit über 3% in den Umfragen. Und dennoch rannten viele linke Gruppen, wie zu vorigen Wahlen, zu ihr und meinten: ich finde euch zwar nicht großartig, aber ihr seid das Beste, was es gibt.

Und das, obwohl die Partei in Landesregierungen zeigt, dass sie höchstens die bessere SPD ist. Obwohl die Vorsitzende Ines Schwerdtner die Ampelregierung, diese Ansammlung an Ausbeuter:innen und Kriegsverbrecher:innen, dazu aufforderte, zuammenzubleiben. Obwohl die Partei bekennende Israelfans in ihren Reihen hat und Teile ihrer Gruppe im EU-Parlament für die Lieferung von Taurusraketen in die Ukraine gestimmt haben.

Für uns ist klar: Nicht nur ist Die Linke eine sozialdemokratische Regierungspartei, sondern auch in der Opposition ist sie keineswegs eine konsequente linke Kraft. Sie enthielt sich bei der skandalösen Abstimmung der sogenannten “Antisemitismusresolution”, deren eigentliches Ziel es ist, die Palästinasolidarität zu kriminalisieren, und stimmte sogar für ein Verbot palästinensischer Organisationen. Die Linke ist keine emanzipatorische Kraft, sie ist der linke Flügel der deutschen Staatsräson.

Daran ändert der relative Aufschwung, den sie gerade erleben, auch nichts Wesentliches. Heidi Reichinnek ist zwar um einiges charismatischer als ein Haufen alter Männer, lässt sich in ihren Positionen jedoch nicht groß von den alten Parteiapparatschiks unterscheiden. Vertreter:innen des linken Flügels wie Nam Duy Nguyen und Ferat Koçak sind zwar oft um einiges linker als der Rest der Partei und seriöse Aktivist:innen, die wir von der Straße kennen, lassen im Wahlkampf jedoch ihre linken Positionen zu kontroversen Themen, wie der Palästinapolitik, links liegen und helfen der reformistischen Partei, sich am Leben zu halten – und dabei Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Aktivist:innen in den Mühlen des Reformismus zu zerreiben.

Warum Anti-Parlamentarismus nicht die Antwort ist

Viele radikale Linke teilen die Kritiken an der Linkspartei und lassen sich nicht von ihr vereinnahmen und instrumentalisieren, was natürlich begrüßenswert ist. Doch um den Opportunismus zu vermeiden, verfallen viele ins Sektierertum und verhalten sich nicht zu den Wahlen oder rufen zum Wahlboykott auf.

Das Problem an dieser Position ist, dass Millionen Menschen so oder so wählen gehen, egal was eine kommunistische Gruppe ihnen sagt. Und tatsächlich verändern Wahlen etwas: zwar nicht den Klassencharakter des Staates, aber sehr wohl seine konkreten Vertreter:innen.

Auch können wir uns die Illusionen in die bürgerliche Demokratie nicht wegdenken. Weiterhin stellen Wahlen – und vor allem der Wahlkampf – die Momente dar, in denen meist die größte Politisierung stattfindet, in der Millionen Menschen auf der Arbeit, in der Schule oder am Küchentisch über die politische Lage und Antworten darauf diskutieren.

Millionen Arbeiter:innen sehen in Talkshows und auf Social Media Vertreter:innen der herrschenden Klasse reden, glauben zum Teil viele ihrer Inhalte und Argumente. Sie denken, dass sie selbst nicht in der Lage sind, Politik zu machen, und das lieber denjenigen überlassen sollten, die sich damit „auskennen“.

Diese Illusionen stellen Revolutionär:innen vor die Aufgabe, einerseits die Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs mit bürgerlichen Parlamenten zu erklären und andererseits das aktuelle Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse zu berücksichtigen.

Unsere Antwort: revolutionärer Parlamentarismus

Dass wir zu den Wahlen antreten, hat einerseits konkrete Gründe, andererseits auch eine lange Tradition.

Unsere Position basiert auf dem revolutionären Marxismus und der Tradition der Dritten Internationale von Lenin und Trotzki. Wir bezeichnen sie als revolutionären Parlamentarismus – eine Taktik innerhalb einer revolutionären Strategie. Das Parlament dient nicht als Hauptfeld revolutionärer Politik, kann aber als Bühne für sozialistische Agitation genutzt werden. Dabei bleibt die politische und materielle Unabhängigkeit von Kapital, Regierung und Staat zentral.

Das heißt: Wir wollen mit dem Wahlkampf unsere Ideen leicht verständlich für viele zugänglichmachen. Im konkreten Fall waren das beispielsweise die Zerschlagung der AfD, offene Grenzen und Bleiberecht für alle, die Enteignung von Großkonzernen wie RWE, Deutsche Wohnen, VW und Rheinmetall und die Blockade von Waffenlieferungen und Aufrüstung. Wir konnten diese Inhalte auf Dutzende Social Media Posts, Hunderte Plakate und Tausende Flyer bringen, in Interviews und Reden verbreiten und somit Zehntausende Menschen erreichen. Alleine das ist ein gutes Argument für die Teilnahme an Wahlen: Arbeiter:innen sehen, dass wir das, was wir wollen, ernst meinen und jeden möglichen Weg nehmen, um unsere Inhalte an sie zu bringen.

Wir bekommen diese Inspiration nicht nur von der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung, sondern auch von unseren internationalen Genoss:innen. Ein Beispiel dafür ist die argentinische FIT-U (Front der Linken und Arbeiter:innen), ein Bündnis von vier sozialistischen Parteien, deren Teil auch unsere Schwesterpartei PTS ist. Sie erzielte 2021 fast 1,5 Millionen Stimmen. Ihre Abgeordneten stehen an vorderster Front sozialer Kämpfe und spenden einen Großteil ihrer Diäten an Streikbewegungen. Sie nutzen das Parlament, um auf Klassenkämpfe aufmerksam zu machen, verurteilen Repression und stärken und schützen somit Arbeiter:innen und ihre Kämpfe. Die FIT-U ist die drittstärkste Kraft im Land und kann darauf zählen, dass so gut wie alle Arbeiter:innen sie kennen. Nicht nur aus den Talkshows, sondern auch von Streikposten und der Straße.

Für den reformistischen Parlamentarismus sind Arme und Arbeiter:innen nur Bittsteller:innen, die alle paar Jahre zur Urne gebeten werden, um ihre Interessen für sie durchzusetzen. Die Linkspartei macht das aktuell sehr deutlich: ihre Angebote gehen nicht über Mietberatung und Haustürwahlkampf hinaus. Die arbeitende Bevölkerung soll eine Manövriermasse sein. Revolutionärer Parlamentarismus ist das genaue Gegenteil. Sein Ziel ist es, die Arbeiter:innen und Unterdrückten zu aktivieren und zu ermutigen, selbst aktiv zu werden, da wir wissen, dass echte Verbesserungen nur auf der Straße und im Konflikt zu den Herrschenden und ihren Interessen erkämpft werden.

Genau das wollen wir bereits jetzt im Wahlkampf umsetzen: unser wichtigster Appell ist, dass unsere Wähler:innen – und auch die, die uns nicht wählen – selbst aktiv werden sollen. Neben Infoständen, Plakatieren und Haustürwahlkampf sind wir Teil der Streikbewegungen und organisieren Kundgebungen und Proteste. Unser Wahlkampf geschieht vollkommen selbstorganisiert. In Berlin und München haben wir Wahlkampfkomitees aufgebaut, an denen sich alle beteiligen können, die die Kandidaturen unterstützen. In regelmäßigen Treffen diskutieren wir über die politische Situation, unsere Antworten darauf und treten in Aktion. All das machen wir vollständig selbstorganisiert und -finanziert. Das heißt, jedes Plakat, das ihr auf der Straße seht, wurde von unseren Genoss:innen und Unterstützer:innen designt, von uns und unseren Spender:innen bezahlt und selbst aufgehängt.

Arbeiter:innen müssen selbst Politk machen

Wir wollen zeigen, dass wir Arbeiter:innen und Unterdrückte nicht dazu verdammt sind, uns von Bonzen regieren zu lassen, und auch keinen Reformist:innen hinterherlaufen müssen. Wenn wir – wie alle Kommunist:innen – wollen, dass die Arbeiter:innenklasse von einer Klasse an sich zur Klasse für sich wird, bedeutet das, dass Arbeiter:innen für Arbeiter:innen Politik machen. Wir wollen keine Berufspolitiker:innen werden, die sich von der Arbeiter:innenklasse entfremden. Unsere Kandidat:innen sollen aus den sozialen Kämpfen kommen, sich gegenüber den Massen legitimieren und Maßnahmen ergreifen, um Korruption zu verhindern: begrenzte Abgeordnetenlöhne, jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit und Rotationsprinzip.

Unsere Kandidatinnen sind daher nicht nur revolutionäre Sozialistinnen, sondern auch kämpfende Arbeiterinnen. Inés Heider, Sozialarbeiterin, kämpfte gegen ihre rechtswidrige Kündigung, weil sie zum Protest gegen die Haushaltskürzungen aufrief. Leonie, die als Hebamme in München arbeitet, kämpfte mit ihren Kolleginnen gegen die Schließung ihres Kreißsaals und konnte diese, wenn auch nur für eine Zeit, verhindern.

Wir denken, dass das wichtig ist: dass wir so Beschäftigten zeigen können, dass es eine Alternative gibt, die zwar nicht leicht, aber möglich und nötig ist. Und diese besteht darin, etwas völlig neues aufzubauen. Wir sind zwar noch wenige dafür, aber sehen die gemeinsame Front mit der RSO als einen Schritt in die richtige Richtung, der auch eine überreife Debatte in der radikalen Linken anstößt. Wir haben politische Unterstützung bekommen von vielen Arbeiter:innen und Aktivist:innen und gar ganzen Organisationen wie dem Bloque Latinoamericano Berlin.

Wir hoffen, dass die radikale Linke sich so umstrukturiert, dass sie nach den Wahlen besser aufgestellt ist, um die kommende Regierung und die Angriffe, die sie auf unsere Klasse vorbereitet, zu bekämpfen. Und hoffentlich führt dies dazu, dass zu den nächsten Wahlen viel mehr Organisationen gemeinsam mit uns den Weg einschlagen, unabhängige, sozialistische Kandidaturen aufzustellen.

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