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Warum verlangt die Antifa Neukölln Loyalität zum Staat?

05.11.2016, Lesezeit 10 Min.
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Wir von der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO) benutzen seit mehr als einem Jahr regelmäßig den Projektraum in der Hermannstraße 48 (H48) in Berlin-Neukölln für politische Treffen. Im September stellte die Autonome Antifa Neukölln (ANA) und Theorie, Kritik & Aktion (TKA) einen Antrag an das Plenum der H48, uns aus ihren Räumen zu verweisen. Wir spiegeln hier ihren Antrag und unsere Antwort darauf wieder. Vor wenigen Tagen fand das entscheidende Plenum statt: Wir wurden ausgeschlossen – wegen "Antisemitismus".

Antrag von ANA und TKA an die H48

Wie schon beim letzten Großplenum angekündigt, fordern wir einen Ausschluss von der Gruppe RIO aus dem Projektraum. Die Forderung hat zwei Dimensionen – eine organisatorische und eine politische.

RIO hat Anfang Juni unabgesprochen eine öffentliche Veranstaltung im PR durchgeführt, obwohl im Vorfeld klar kommuniziert wurde, dass Veranstaltungen nur nach Absprache mit dem (Orga-) Plenum stattfinden dürfen. Hierzu gab es einen Mailwechsel über den Verteiler, die Veranstaltung wurde jedoch öffentlich angekündigt, bevor nach einem Okay gefragt wurde. Weiterhin wurde sich auf einem Gesamtplenum über den Zustand des Raumes nach dem Plenumstermin von RIO beschwert. Auch die Schmierereien auf der Toilette sind erst aufgetaucht, als RIO den Projektraum nutzte. Darin werden unter anderem Terrororganisationen wie die PFLP verherrlicht. Die PFLP war in den 60er- und 70er-Jahren an diversen (antisemitischen) Flugzeugentführungen und Attentaten beteiligt, die sich auch gegen die Zivilbevölkerung richteten. Weiterhin stellen wir uns die Frage, wieso RIO und ihre Jugendorganisation RKJ den Projektraum überhaupt nutzen. Auf der Facebookseite der RKJ kritisiert ein Nutzer die Raumwahl der Gruppe: „Seid ihr sehr stolz in Antideutschen-Schuppen eure Treffen zu machen?“ (sic!). Die Antwort darauf lautet: „(…) Wir nehmen gerne Vorschläge entgegen, für bessere Orte. Vieles ist oft besetzt, kostet Geld, ist nicht offen für Menschen unter 18 oder bietet keine Arbeitsatmosphäre…“ (sic!). Für uns ist der Projektraum ein politischer Raum, dessen Nutzung primär aus politischen Gründen erfolgen sollte und nicht, weil sich nichts Besseres findet.

Die Forderung nach einem Ausschluss basiert jedoch vor allem darauf, dass RIO sich mehrfach antisemitisch geäußert hat und dementsprechend agiert. Sie unterstützen Gewaltaufrufe gegen Israelis, erfüllen die drei Kriterien des israelbezogenen Antisemitismus durch Delegitimierung, Dämonisierung und das Anwenden doppelter Standards und arbeiten mit klar antisemitischen Gruppen innerhalb Berlins zusammen, wie zum Beispiel F.O.R. Palestine und Jugendwiderstand.

Auf der Website von RIO und RKJ wird Israel in unzähligen Artikeln über den Nahen Osten als „Apartheitsregime“ oder „Kolonialstaat“ bezeichnet. Damit wird nicht nur real existierender Kolonialismus verharmlost, sondern auch der Staat Israel dämonisiert. Bei der Gründung des Staates Israel ging es mitnichten um Profitinteressen und Ausbeutung, sondern um die Bildung eines Schutzraumes für von Antisemitismus Betroffene. Mit der Verwendung dieser Begriffe wird Israel delegitimiert.

In weiteren Artikeln auf der Website werden bewaffnete Attentate auf Israelis als legitime Form politischen Widerstandes angesehen. Solche Attentate beinhalten in Israel auch beispielsweise den Mord an einer 13-jährigen in ihrem Kinderzimmer Ende Juni 2016. Es finden sich auch Beiträge, in denen solche Gewaltexzesse nicht auf die antisemitische Einstellung der Täter*innen zurückgeführt werden, sondern als direkte Konsequenz aus dem Verhalten der israelischen Regierung gesehen werden. Jüd*innen bleiben also selbst Schuld am Antisemitismus anderer.

Auf der Website veröffentlicht Dror Dayan, der Mitglied der antisemitischen Gruppe F.O.R. Palestine ist, regelmäßig Artikel. Die beiden Gruppen arbeiten auch regelmäßig zusammen und unterstützen die gleichen Aufrufe.

Mitte Mai 2016 nahm die Gruppe RIO an der antisemitischen Nakba-Demonstration durch Neukölln teil. Die Demonstration soll vorgeblich an die Vertreibung der Palästinenser*innen 1948 erinnern, es wurde jedoch mit der Forderung nach der „Entkolonialisierung Palästinas“ und der „Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand in all seinen Formen“ de facto die Auslöschung Israels propagiert. Die israelsolidarische Gegendemonstration wurde von vier Personen aus dem Umfeld des Neuköllner Jugendwiderstandes angegriffen. Als diese dann zur Nakba-Demonstration stießen, wurden sie unter Jubel empfangen. An anderer Stelle werden derartige physische Übergriffe auf eine israelsolidarische Person als solidarische Abwehr eines vermeintlichen Angriffs verharmlost.

Wir denken, dass sich die Aktivitäten der Gruppe RIO nicht mit dem Selbstverständnis des Projektraumes, welches für linke und emanzipatorische Politik steht, vereinbaren lassen. Daher fordern wir den Ausschluss von RIO aus den Räumen.

Diese Ausführung stellt lediglich einen kurzen Überblick über die Problematik dar. Für weitere Informationen und Textbelege stehen wir gerne zur Verfügung.

Solidarische Grüße,

Autonome Neuköllner Antifa [ANA] & Theorie, Kritik & Aktion [TKA], September 2016

Antwort von RIO

 


Die Vorwürfe von ANA und TKA weisen wir – erschrocken und empört – zurück. Zwar könnten wir die vielen einzelnen Unwahrheiten in ihrem Brief auseinandernehmen. Es erscheint uns jedoch sinnvoller, gleich zum politischen Kern ihrer Vorwürfe überzugehen.

Wir von RIO sind eine Gruppe internationalistischer Kommunist*innen. Wir lehnen jeden bürgerlichen Staat ab. Wir bekämpfen den US-Staat. Den griechischen. Den türkischen. Den argentinischen. Usw.. Unserer besonderen Aufmerksamkeit gilt allerdings dem deutschen Staat, da wir – auch wenn wir Teil einer internationalen Organisation sind – in Deutschland arbeiten. Der deutsche Staat nutzt rassistische, sexistische und homophobe Gesetze, um die Ausbeutung aufrechtzuerhalten. Noch schlimmer, der deutsche Staat sichert seine imperialistische Herrschaft in aller Welt mit kriegerischen (neo)kolonialen Mitteln. Diesen Staat wollen wir – genauso wie alle anderen – mittels der sozialistischen Weltrevolution zerstören.

Das scheint der ANA und der TKA nicht zu stören. Immerhin. Sie verlangen allerdings bedingungslose Staatstreue gegenüber einem bestimmten bürgerlichen Nationalstaat, nämlich dem israelischen. Sie fordern, dass Menschen aus dem Projektraum ausgeschlossen werden, wenn sie diesen Staat „kolonialistisch“, „rassistisch“ oder „Apartheid-ähnlich“ nennen.

Haben sie ihre Forderung zu Ende gedacht? Wer wäre denn von einem solchen Verbot betroffen? RIO, ja. Aber wer sonst? Die Antifa Tel Aviv ging dieses Jahr am 1. Mai mit dem Transparent auf die Straße: „Stop Racism! Destroy Zionism!“. Das ist sowas wie die israelische „Schwestergruppe“ der ANA und von TKA – zumindest der Ästhetik nach. Aber selbstverständlich sind israelische Antifas antinational und deswegen antizionistisch. Wollen ANA und TAK sie wirklich ausschließen?

Die gesamte radikale Linke in Israel – wie in allen Teilen der Welt – zeichnet sich durch ihre Gegener*innenschaft zu ihrem Staat aus. Also das von ANA und TKA geforderte Verbot würde sich auch gegen “Anarchists Against The Wall” richten. Genauso gegen die “Maki” (die kommunistische Partei). Sogar die linksliberale “Meretz” (Schwesterpartei der deutschen Linkspartei) wäre ausgeschlossen.

Aber nicht nur das. Ehud Barak, ehemaliger Generalstabschef der IDF und ehemaliger Premierminister der israelischen Regierung, heute der Anführer einer rechten Abspaltung von der Sozialdemokratie, sagte 2010 in einer Rede: „Wenn Millionen Palästinenser*innen nicht abstimmen dürfen, wird das ein Apartheidstaat sein.“ Heute dürfen Millionen Palästinenser*innen nicht abstimmen. Also: Sehen die ANA und TKA auch Barak als Antisemiten? Theodor Herzl, Gründer des Zionismus, bezeichnete seine Pläne in „Der Judenstaat“ als „Coloniaismus“. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Linke Israelis wollen ANA und TKA ausschließen – sogar nicht-religiöse Zionist*innen. Aber dann beziehen sie sich positiv auf den 3D-Test gegen Antisemitismus. Nach diesem Muster werfen sie uns Delegitimierung, Dämonisierung und Doppelstandards“ in Bezug auf Israel vor. Das soll möglicherweise wie eine akademische Forschungsmethode klingen. Aber in Wirklichkeit stammt es von einem Likudnik, nämlich von Natan Sharansky, einem Politiker der rechten, national-religiösen Partei von Benjamin Netanjahu.

Sharansky steht selbst auf dem rechten Flügel der Likud und trat aus der Regierung von Ariel Sharon aus, als dieser die israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen räumen ließ. Dieser Test passt auch zur rechten Ideologie der Likud, in dem es alle jüdischen Menschen auf der Welt mit dem israelischen Staat gleichsetzt. In Wirklichkeit sind aber etwas weniger als die Hälfte der Juden*Jüdinnen israelische Staatsbürger*innen – und ein deutlich geringerer Teil sind Anhänger*innen von Netanjahu.

Hier kommen wir zum Kern der Sache. Ein Vorwurf gegen uns ist nämlich wahr: In der Tat veröffentlichen wir gern Texte und Interviews von möglichst vielen israelischen Linken. Dazu gehört Dror Dayan, Filmregisseur und Aktivist von FOR Palestine. Die ANA und TKA wollen also Texte von israelischen Linken boykottieren, während sie sich selbst positiv auf Texte von Rechtsaußen in Israel beziehen?

Die Netanjahu-Regierung führt gerade eine große Kampagne gegen NGOs, Menschenrechts- und Friedensgruppen in Israel durch – ebenfalls mit Vorwürfen des Antisemitismus. ANA und TAK bezeichnen sich selbst als „israelsolidarisch“. Aber das wirft nur die Frage auf: Was verstehen sie unter „Israel“? In der Praxis solidarisieren sie sich mit der rechten Regierung Israels. Wir dagegen solidarisieren uns mit der radikalen Linken, mit den Queers, mit den Geflüchteten, die gegen diese Regierung kämpfen. Denn Israel ist unserer Meinung nach eine Klassengesellschaft. Wie überall auf der Welt solidarisieren wir uns nicht mit Regierungen, sondern mit den Unterdrückten.

Kann eine Gruppe in Deutschland links, in Israel rechts sein? Wir halten das für nicht machbar. Hanz-Christian Strache von der FPÖ hat sich mit Vertreter*innen der Likud getroffen. Kein Wunder: Beide Parteien betreiben rassistische Hetze gegen Geflüchtete.

Die israelische Rechte solidarisiert sich mit europäischen Rechtsparteien, und umgekehrt. Logisch. Befremdlich ist es allerdings, wenn Gruppen wie mit linkem Selbstverständnis wie ANA oder TKA sich mit der israelischen Rechten solidarisieren.

In dieser Frage vertreten die ANA und TKA die gleiche Position wie das deutsche Establishment – von der FDP bis zum rechten Flügel der Linkspartei: bedingungslose Solidarität mit dem israelischen Staat wird seit Jahrzehnten zur deutschen Staatsräson erklärt. Wir denken, dass ein linker und emanzipatorischer Raum immer kritisch gegenüber Staaten sein muss, und solidarisch mit den Menschen, die von Staaten unterdrückt werden.

Uns ist bewusst, dass sich Antisemitismus manchmal hinter einem Gewand des Antizionismus versteckt. Dieses Verhältnis in der heutigen Welt ist kompliziert. Manche deutsche Antisemit*innen inszenieren sich als „Antizionist*innen“ (Wolfgang Gedeon). Noch mehr geben sich aber betont israelsolidarisch (Frauke Petry, Pegida usw.). Die Lösung kann aber unserer Meinung nicht sein, einen bürgerlichen Staat zu unterstützen. Die Lösung für uns besteht darin, uns auf linke Aktivist*innen in der Region zu beziehen.

So kommen wir unserer Meinung nach in dieser Diskussion weiter: Im heutigen Berlin haben wir die einzigartige Möglichkeit, mit buchstäblich allen Strömungen der israelischen Linken zu diskutieren. Zehntausende meist junge Israelis hier. Wir denken, dass das die beste Möglichkeit ist, um die Diskussion über Antisemitismus und Antizionismus zu diskutieren. Wir möchten uns dabei nicht auf national-religiöse Poltiker*innen beziehen. Sondern auf Antifas, Anarchxs, Kommunist*innen und Queers aus der Region.

Deswegen schlagen wir vor: Lass uns in der H48 zu einer großen Diskussionsversammlung mit möglichst vielen linken Aktivist*innen aus Israel und Palästina einladen. Je mehr Linke aus der Region, desto besser! Nicht weil wir im Sinne der Identitätspolitik glauben, dass nur diese Menschen sich dazu äußern können. Aber diese Diskussion wird im deutschen Kontext tatsächlich meist meilenweit von der Realität linker Israelis und Palästinenser*innen geführt und missachtet ihre eigene Subjektivität. Im Mittelpunkt sollen nicht die Meinungen deutscher Antifas mit einem Katalog der Likud stehen, sondern die Betroffenen selbst. Denn unsere Maxime, ganz im Sinne von Karl Marx, lautet: Krieg den deutschen Zuständen!

Mit internationalistischen Grüßen,
RIO Berlin, Oktober 2016

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