Warum Trotzkismus?
Am Jahrestag der Ermordung Leo Trotzkis beschäftigen wir uns mit der Frage: Warum ist der Trotzkismus heute noch von Bedeutung?
Heute vor 80 Jahren verübte ein stalinistischer Agent einen Mordanschlag auf den marxistischen Revolutionär Leo Trotzki. Einen Tag darauf erlag der Gründer der Roten Armee und Anführer der Vierten Internationale seinen Verletzungen. Während der Kapitalismus sich weltweit in einer Krise befindet, sind Trotzkis Ideen heute von besonderer Bedeutung. Anlässlich des Jahrestages seiner Ermordung, veröffentlichen wir die Übersetzung eines Artikels über die Bedeutung seines politischen Erbes, der 2018 bei Left Voice erschienen ist.
Am 21. August jährt sich die Ermordung des Revolutionärs Leo Trotzki – und das zu einem historischen Zeitpunkt, an dem ausreichende objektive Bedingungen für eine Revolution vorliegen. Die kapitalistische Krise, die inter-imperialistischen Widersprüche, das Wiederaufleben des rechten Nationalismus unter Donald Trump und das wachsende Interesse an sozialistischen Ideen in imperialistischen Ländern wie den Vereinigten Staaten zeigen, dass die Welt für eine Revolution reif ist. Die heutige Frage lautet: Warum Trotzkismus?
Trotzkis Rolle in der Oktoberrevolution und seine revolutionäre Praxis wurden sowohl zu seinen Lebzeiten als auch nach seinem Tod verleumdet und ignoriert. In seinem Verlangen, jede Opposition innerhalb der Sowjetunion zu zerstören, versuchte der Stalinismus, das Erbe des Bolschewismus auszulöschen. Die prominentesten Anführer*innen und Kämpfer*innen der Oktoberrevolution wurden als „Trotzkisten“ beschimpft. Stalinist*innen verfolgten, deportierten, ermordeten jeden Einwand innerhalb und außerhalb der UdSSR. Um Lenins Erbe seiner revolutionären Schärfe zu berauben, machten sie Lenin zu einer zentralen Figur der staatlichen Ideologie, sie errichteten Statuen und feierten ihn. Die wahren Lehren des Autors der „Aprilthesen“ wurden hinter Stein und Beton versteckt. Trotzki hingegen wurde aus der Geschichte gelöscht. Hunderte von Dokumenten wurden gefälscht, Lenins letztes Testament in der UdSSR verboten. Und das zeigt bis heute Wirkung: Vor nur wenigen Jahren wurde die Trotzki-Biographie des Historikers Robert Service aus dem Jahr 2009 erneut veröffentlicht – eine Schrift voller Unwahrheiten, Falschdarstellungen und grober Fehler über den Chef der Roten Armee.
Interessant ist der Trotzkismus aber nicht nur für diejenigen von uns, die sich als Revolutionär*innen in der Tradition Trotzkis sehen. Bei einer genaueren Betrachtung der Bedeutung Trotzkis geht es auch allgemeiner darum, die Geschichte zu bewahren und historische Wiedergutmachung zu schaffen.
Warum wurden Trotzki und angebliche „Trotzkisten“ verfolgt? Warum erreichte diese Verfolgung Mexiko-Stadt, wo Trotzki ermordet wurde? Warum beinhaltete diese Verfolgung sogar den Mord an Trotzkis Kindern?
Die Bolschewiki-Leninisten, wie sie sich nannten, verkörperten die Lehren der Oktoberrevolution und stellten die einzige organisierte politische Strömung auf, die eine Alternative gegen das bürokratisierte Sowjetrussland und die Kommunistische Partei vorschlug. Sie taten dies zuerst als Linke Opposition und später, indem sie die Bewegung für die Vierte Internationale organisierten.
Es war Trotzki, der erbittert gegen die Idee des „Sozialismus in einem Land“ kämpfte – die ideologische Tarnung des bürokratischen Konservatismus. Es war Trotzki, der eine Arbeiter*innendemokratie und ein sowjetisches Mehrparteiensystem verteidigte und die internationale Revolution als Schutz der Sowjetunion selbst und als zentrale Aufgabe des Kommunismus propagierte. Es war Trotzki, der das Programm der politischen Revolution und den wirtschaftlichen und politischen Kampf gegen die parasitäre Bürokratie vorschlug. Der Stalinismus konnte die sogenannten „Trotzkisten“ in Konzentrationslagern einsperren, ihre Anführer*innen töten, aber am Ende konnte er die Ideen der Erben der sowjetischen Revolution nicht auslöschen.
Obwohl Trotzkis Denken heute unbestreitbar relevant ist, ist es notwendig, seine Ideen in ihrem Kontext zu betrachten. Wir können Trotzkis Ideen nicht dogmatisch wiederholen, weil dies seiner eigenen historisch-materialistischen Methode widersprechen würde. Seine Herangehensweise an die Realität war zutiefst ganzheitlich, flexibel, dialektisch und kompromisslos darin, die revolutionären Ziele der Arbeiter*innenklasse zu verfolgen.
Trotzki gehörte zur dritten Generation der klassischen Marxist*innen. Zusammen mit Lenin und Rosa Luxemburg war er einer der scharfsinnigsten Vertreter*innen des Marxismus. Diese Generation besaß dem Historiker Perry Anderson zufolge ein wesentliches Merkmal, das das Denken der Begründer*innen des Marxismus widerspiegelte: die Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Marx und Engels mussten zu einer Zeit theoretisieren und organisieren, als bürgerliche Revolutionen noch möglich waren und die Arbeiter*innenklasse ihre ersten Organisationen, politischen Ideen und Kämpfe aufbaute. Lenin, Trotzki und Luxemburg lebten jedoch zu einer Zeit der Krisen, Kriege und Revolutionen. Sie setzten die Waffen ihrer Lehrer*innen in dem historischen Moment, in dem sie lebten, ein, indem sie die proletarische Revolution organisierten.
Trotzki und Lenin verstanden auch, dass der Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase erschütternde Kräfte hervorbrachte, was zu einer Zeit der großen Kriege, wirtschaftlicher Zusammenbrüche und natürlich revolutionärer Prozesse führte. Sie verstanden, dass es notwendig war, das Erbe derjenigen, die in Zeiten des Friedens von Taktiken besessen waren, hinter sich zu lassen und sich stattdessen auf die Strategie zu fokussieren – die Kunst, isolierte Manöver zu organisieren, um den Krieg zu gewinnen. Und für die Sozialist*innen bedeutete den Krieg zu gewinnen, den Kapitalismus zu zerstören und eine andere Form der sozialen Ordnung zum Wohle der großen Mehrheit zu errichten. Mit der Revolution von 1905 in Russland, als die Arbeiter*innen von Petrograd ihre eigenen demokratischen Organe (die Sowjets) schufen, war es unerlässlich, darüber nachzudenken, wie das Proletariat die Macht übernehmen würde.
So haben die damaligen Marxisten die Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik in das marxistische Denken eingeführt, wie Trotzki selbst beschrieb:
Vor dem Kriege haben wir nur von der Taktik der proletarischen Partei gesprochen. Dieser Begriff entsprach ganz den damals herrschenden gewerkschaftlich-parlamentarischen Methoden, welche nicht über den Rahmen der laufenden Tagesforderungen und Aufgaben hinausgingen. Unter dem Begriff der Taktik wird das System von Maßnahmen, welches einer einzelnen aktuellen Aufgabe oder einem einzelnen Zweig des Klassenkampfes dient, verstanden.
Für Trotzki umfasste die revolutionäre Strategie im Gegenteil ein kombiniertes System von Handlungen, die in ihrer Verbundenheit, Folgerichtigkeit und in ihrer Steigerung das Proletariat zur Eroberung der Macht führen müssen.
Politisches Handeln und marxistische Theorie bilden eine unteilbare Einheit, die durch die konkrete Aufgabe der proletarischen Revolution gekennzeichnet ist. Der revolutionäre Marxismus konzentriert sich im Wesentlichen auf die Strategie, und Trotzki ist zweifellos einer seiner wichtigsten Denker*innen. Der Marxismus ist für uns die praktische und theoretische Synthese der Erfahrungen des Proletariats in den letzten 150 Jahren. In seiner zeitgenössischen Erscheinungsform bedeutet dies, dafür zu kämpfen, die Macht zu übernehmen und demokratisch organisierte Übergangsstaaten aufzubauen. Diese Kämpfe stellen uns vor große Aufgaben: die Kapitalist*innen zu enteignen, die Produktionsmittel und den Wohlstand der Gesellschaft in die Hände der Menschen zu begeben, damit sie ihre sozialen Bedürfnisse befriedigen können.
Für Trotzki und die Marxist*innen von heute besteht das Ziel jedoch nicht nur darin, die Macht zu übernehmen. Der proletarische Staat ist ein Mittel zur Entwicklung der internationalen sozialistischen Revolution. Es schafft die Voraussetzungen, um den Kommunismus auf globaler Ebene aufzubauen und die sozialen Klassen und den Staat selbst zu zerstören.
Die nächste Aufgabe besteht darin, die toxischen sozialen Beziehungen zu zerstören, die der Kapitalismus geschaffen hat, und neue zu aufzubauen. Heute saugen 200 Monopole den gesamten weltweit produzierten Wohlstand auf. Wir werfen jedes Jahr über eine Milliarde Tonnen essbare Lebensmittel weg, während Millionen von Menschen weltweit mit Ernährungsunsicherheit und Hungersnöten zu kämpfen haben. Das kapitalistische Narrativ lässt uns glauben, dass die Erde ihre wachsende Bevölkerung nicht versorgen kann, während diese Monopole in Wirklichkeit genug Nahrung produzieren, um alle Menschen auf der Welt mehrfach zu versorgen.
In dieser imperialistischen Phase der kapitalistischen Entwicklung besteht unsere Aufgabe darin, uns auf den bevorstehenden Aufstand, die Machtergreifung und die Diktatur des Proletariats vorzubereiten. Daher ist es notwendig, eine Organisation aufzubauen, die diese Aufgaben übernehmen kann, eine Organisation zur Vorbereitung auf die Revolution. Einerseits wurde die Oktoberrevolution durch die bolschewistische Partei ermöglicht, eine revolutionäre Partei, die in der Arbeiter*innenklasse verwurzelt und in marxistischer Theorie geschult war. Andererseits verhinderte das Fehlen einer starken kommunistischen Partei in Deutschland, dass das mächtigste Proletariat Europas dem Weg der russischen Arbeiter*innen folgte. Obwohl der Marxismus heue organisatorisch schwach ist, besteht die dringende Aufgabe darin, das marxistische Denken durch den Aufbau revolutionärer Organisationen mit der kämpferischen Jugend und der Arbeiter*innenklasse zu verbinden. Obwohl wir bis zu einem Aufstand noch einen langen Weg vor uns haben, sollten wir jeden noch so kleinen Kampf als Kriegsschule betrachten, um uns auf diese entscheidenden revolutionären Momente vorzubereiten.
Die Partei ist nicht von der bewussten Handlung des Proletariats getrennt; es sind die Arbeiter*innen, die die wesentlichen Fäden der kapitalistischen Wirtschaft in Industrie, Produktion, Dienstleistungen, Kommunikation, Häfen und Verkehr bewegen. Die Arbeiter*innenklasse ist der Schlüssel, um den kapitalistischen Staat zu lähmen und ihm den Rücken zu brechen. Kampfmethoden der Arbeiter*innenklasse wie der Streik sind von grundlegender Bedeutung. Es reicht jedoch nicht aus, sich an den Kämpfen der Arbeiter*innenklasse zu beteiligen. Die Arbeiter*innen müssen auch für die politische Unabhängigkeit kämpfen und mit bürgerlichen Führungen brechen – kapitalistischen und reformistischen Politiker*innen sowie bürokratischen Gewerkschaftsführer*innen, die die Kapitalist*innen unterstützen.
Der unabhängige Kampf der Arbeiter*innenklasse ist der Schlüssel zum Aufbau einer neuen Art der Macht und einer neuen Art von Gesellschaft, die auf der Demokratie der Arbeiter*innen basiert. Die Sowjets, eine Manifestation der Arbeiter*inneneinheitsfront, sind Organe der direkten Demokratie der Arbeiter*innenklasse und die Grundlage der Diktatur des Proletariats. Die Partei hat ihren Platz in den Sowjets und muss im entscheidenden Moment die Arbeiter*innenklasse zur Machtübernahme drängen, indem sie die Sowjets von der Verteidigung der Arbeiter*innenklasse zur Zerstörung des kapitalistischen Staates bewegt.
Der Stalinismus hat den Marxismus massiv zurückgeworfen und den revolutionären Gedanken Lenins und Trotzkis ausgelöscht. Ohne Trotzki wäre die revolutionäre Tradition des Marxismus von den Schrecken des Stalinismus völlig unsichtbar geworden. Der Marxismus lebte nach dem Zweiten Weltkrieg im Schatten des Stalinismus, verlor seine Verbindung zur Praxis und wurde von vielen als akademische Disziplin betrachtet. Während der revolutionären Aufschwünge, die die Welt in den späten 1960er Jahren erschütterten, wurden marxistische Ideen wieder Teil des Bewusstseins der Jugend und von Sektoren von Arbeiter*innen. Dem Kapitalismus gelang es jedoch, aus der Krise herauszukommen, wurde nach dem Fall der Sowjetunion stärker und etablierte den Neoliberalismus auf weltweiter Ebene.
Der Neoliberalismus schuf einen Begriff des „gesunden Menschenverstandes“, der sogar die meisten Linken davon überzeugte, dass es nicht mehr möglich war, den Kapitalismus zu zerstören. Das Beste, was man nach Ansicht einiger Linker heute tun kann, ist den Kapitalismus menschlicher zu gestalten, seine Aggressionen zu zähmen und die Monopolmacht zu mindern. Es sei unmöglich, eine Revolution zu organisieren, der Kapitalismus bleibe angeblich für alle Zeit bestehen.
Wir aber denken, dass ein Verzicht auf den Kampf um eine Revolution gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf den Kampf darum, das globale Elend und die Ausbeutung zu beenden und jedes Streben der großen Mehrheit der Gesellschaft zu erfüllen. Auf die Organisation für die Revolution zu verzichten, bedeutet, im Dienste der Profite einer parasitären Minderheit zu handeln, die den großen Reichtum hortet, den die Arbeiter*innenklasse produziert. Mit dem Fall der Sowjetunion und der osteuropäischen Arbeiter*innenstaaten hat sich die Idee, dass es keine mögliche Alternative gibt, weiter festgesetzt. In Russland waren die Folgen der bürgerlichen Restauration katastrophal: Hat sie mehr Demokratie für die russischen Massen gebracht, wie pro-kapitalistische Ideolog*innen proklamierten? Absolut nicht.
Deshalb basiert das Ziel unserer Organisation auf dem revolutionären Erbe Trotzkis, in dem Wissen, dass die aktuellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Phänomene neue gesellschaftliche Krisen hervorrufen werden.
Es ist unmöglich, Trotzki zu verstehen, wenn wir nicht verstehen, dass die Schaffung einer revolutionären Partei für ihn Fehler, Erfolge, Fortschritte, Rückschläge und die Eroberung von Positionen beinhaltete – von der Gewerkschaftsführung bis zu den Parlamentssitzen. Alle Siege, vom Triumph eines Streiks bis zur Machtergreifung in einem Land, sind Mittel zur Vorbereitung oder Förderung der sozialistischen Revolution. Trotzki zu verstehen bedeutet daher, seine Arbeit im Lichte seiner politischen Praxis während seines gesamten Lebens zu verstehen. In Petrograd half er 1917 bei der Schaffung des ersten Arbeiter*innenstaates in der Geschichte, 1923 beriet er Anführer*innen in Deutschland und 1937 in Barcelona. In beiden Fällen drängte er auf die Machtergreifung der Arbeiter*innenklasse, die jedoch in Deutschland durch eine unerfahrene Führung vereitelt und vom konterrevolutionären Stalinismus in Spanien zerschlagen wurde. Während er durch die Länder reiste und sowohl vor den Kapitalist*innen als auch den Stalinist*innen Exil und Sicherheit suchte, theoretisierte und unterstützte er den Kampf gegen den Faschismus und den Stalinismus. Trotz der Verleumdung gegen ihn setzte er seine Energie für den Aufbau einer revolutionären Organisation ein. In diesen historischen Momenten können wir die Breite von Trotzkis revolutionärem Erbe verstehen.
Hoffen wir, dass das wachsende Interesse an sozialistischen Ideen auf internationaler Ebene und insbesondere in den Vereinigten Staaten die Jugend von heute – die weiß, dass der Kapitalismus nichts zu bieten hat – Trotzkis Theorie und Praxis näherbringt und mit der Vorstellung aufräumt, dass Kommunismus Mangel an Demokratie und die Fortsetzung von Unterdrückung und wirtschaftlichem Elend bedeute.
Wie Trotzki in seinen letzten Tagen schrieb:
Ich werde als proletarischer Revolutionär, als Marxist, als dialektischer Materialist und folglich als unbeirrbarer Atheist sterben. Mein Glaube an eine kommunistische Zukunft ist heute noch stärker als in meiner Jugend. Natascha hat das Fenster zur Hofseite noch weiter geöffnet, damit die Luft besser in mein Zimmer strömen kann. Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren blauen Himmel darüber und die Sonne überall. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.