Warum Sexismus und Queerfeindlichkeit zunehmen und was wir dem entgegensetzen 

20.10.2024, Lesezeit 35 Min.
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Ihr Werk ist von verblüffender Aktualität: Alexandra Kollontai.

Über die Aktualität des Werks von Alexandra Kollontai, sozialistischen Feminismus als Antwort auf die Krise und gegenwärtige Potentiale für den feministischen Widerstand.

Vor einigen Wochen veröffentlichte der Spiegel einen erfolgreichen Artikel, in dessen Teaser es hieß: „Fast alle großen Probleme haben eine gemeinsame Ursache: Männer.“ Erschienen ist der Artikel in Bezug auf einige besonders grausame Fälle von patriarchaler Gewalt der letzten Monate. Er suggeriert darüber hinaus aber auch, Männer seien schuld an Rechtsruck und Krieg. Sind wirklich einfach nur „die Männer“ an patriarchaler Unterdrückung und weiterem schuld? Dieser Behauptung gilt es zu widersprechen. Doch was ist dann die eigentliche Ursache der Zunahme von Sexismus und Queerfeindlichkeit? 

In diesem Artikel wollen wir uns mit drei Dingen beschäftigen. Einerseits mit der Analyse der aktuellen Situation in Deutschland und international im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse und die Frage der Sexualität und Diversität. Andererseits mit der theoretischen Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Patriarchat sowie dem Zusammenspiel von Rechtsruck und Antifeminismus, was keineswegs ein Zufall ist. Zuletzt soll dieser Artikel einen strategischen Ausblick und Antworten auf die dringenden feministischen Fragen unserer Zeit liefern. Insbesondere hilft uns dabei die Auseinandersetzung mit den Ideen und Werken der sozialistischen Feministin Alexandra Kollontai, die bereits in der frühen Sowjetunion wichtige Hinweise, Studien und Lehren für den sozialistisch-feministischen Kampf lieferte. 

Ein internationaler antifeministischer Trend? 

Am 10. August standen sich im sächsischen Bautzen zwei Demonstrationen gegenüber. Einerseits die Pride Demonstration im Zeichen von „Vielfalt und dem Erhalt der Demokratie“, andererseits eine Demonstration von Faschist:innen, angeführt von einem Transparent mit dem Spruch: „Es gibt nur zwei Geschlechter.“ In den darauffolgenden Wochen kam es in Deutschland immer wieder zu Angriffen und organisierten Gegendemonstrationen von Rechten auf die CSDs. Die Queerfeindlichkeit ist ein bestimmendes Element in der aktuellen Politik der Rechten in Deutschland wie international.

Insbesondere richtet sich diese gegen trans Personen. In Frankreich und England etwa sind konservative bis rechte Kräfte dabei, die Regularien für die medizinische Transition zu verschärfen. In Deutschland soll bundesweit in allen Schulen die geschlechtersensible Sprache (Gendern) quasi verboten werden.

Femizide und patriarchale Gewalt stiegen im Jahr 2023 auf ein Rekordhoch: über 89.000 Femizide gab es weltweit, in Deutschland wurde an mehr als jedem zweiten Tag eine Frau ermordet. Darüber hinaus erleben wir international einen Trend in der Jugend, nach dem junge Männer häufiger zu rechten Positionen tendieren. In Südkorea gewann 2022 Yoon Suk-yeol unter anderem mit den Versprechen der Abschaffung des Ministeriums für Frauen und Familie sowie härteren Strafen für Verleumdung – zum Beispiel im Falle von sexuellem Missbrauch – die Wahlen, vor allem durch die Stimmen junger Männer. Das alles zeigt uns zunächst, dass es sich, ob bei Bautzen oder dem Genderverbot in Bayern, nicht um lokale Phänomene handelt, sondern dass sie einer internationalen Entwicklung folgen.

Der Zusammenhang von Patriarchat, Krise und Kapitalismus 

Über den Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Ordnung, die gekennzeichnet ist durch die organische Krise des Neoliberalismus und den Anstieg von Sexismus, schrieb die argentinische Feministin Andrea D’Atri kürzlich in ihrem Artikel Begehren unter Verdacht

Der Neoliberalismus hat mit zur Verfestigung der Spaltung zwischen den sozialen Bewegungen, die für die Emanzipation kämpfen, und der Arbeiter:innenklasse, die mit den Folgen der kapitalistischen Pläne (Prekarisierung, Flexibilisierung, Verlagerung von Arbeitsplätzen, Arbeitslosigkeit usw.) konfrontiert ist, beigetragen, wobei beide jeweils ihre eigenen Bürokratien haben. Das schafft laut Nancy Fraser letztlich die Bedingungen dafür, dass sich Teile der Lohnabhängigen ‚dem Rechtspopulismus zuwenden‘. Diese zutiefst regressive Politik des Neoliberalismus, die zu einem exponentiellen Wachstum der wirtschaftlichen Ungleichheit führte, wurde von einer ’scheinbar inklusiven Politik der Anerkennung‘ begleitet. Während also die Welt Zeuge von Deindustrialisierung, zunehmender Armut und der massiven Eingliederung von Frauen und Arbeitsmigrant:innen unter äußerst prekären Bedingungen wurde, wurden Multikulturalismus, Respekt für Vielfalt und die Rechte von Frauen und der LGBTIQ+-Gemeinschaft zum offiziellen Diskurs der ‚politischen Korrektheit‘. Ohne diesen ‚Pakt‘ (der Regierbarkeit) – der für die meisten wohlmeinenden Aktivist:innen nicht immer explizit sichtbar war, der aber die Kooptation und Bürokratisierung von Bewegungsanführer:innen durch zahlreiche Operationen der NGO-isierung, Projektfinanzierung, Subventionen, Institutionalisierung usw. beinhaltete – wäre die Umsetzung dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik nicht nachhaltig gewesen.

Dieser internationale Trend steht in enger Verbindung zu den ökonomischen Entwicklungen und den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus. Bereits im Jahr 1921 analysierte Alexandra Kollontai, dass in Zeiten, in denen die Bourgeoisie in einer Herrschaftskrise steckt, sie die Struktur der Familie stärkt, um Stabilität zu garantieren.1 Die Zeit, in der Kollontai zu dieser Erkenntnis kam, war an Umbrüchen reich; kurz nach dem Ersten Weltkrieg und der großen Russischen Revolution waren die Geschlechterverhältnisse ins Wanken geraten, etwa durch die Abschaffung der Kriminalisierung der Homosexualität. Sie argumentiert, dass dies nicht das erste Mal sei, dass die Menschheit in eine „Geschlechterkrise“ gerät: 

Es ist nicht das erste Mal, dass die Menschheit eine sexuelle Krise durchlebt. Es ist nicht das erste Mal, dass der Druck einer stürmischen Flut neuer Werte und Ideale die klare und eindeutige Bedeutung moralischer Gebote über soziale Beziehungen verwischt hat. Die ’sexuelle Krise‘ war zur Zeit der Renaissance und der Reformation besonders akut, als ein großer sozialer Fortschritt den stolzen und patriarchalischen Feudaladel, der an absolute Herrschaft gewöhnt war, in den Hintergrund drängte und den Weg für die Entwicklung und Etablierung einer neuen sozialen Kraft frei machte – der Bourgeoisie.2

In der feudalen Gesellschaft wurde die Familie durch Adelshierachien und Geburtsrechte bestimmt. Die Ehe war unauflösbar und die Kirche spielte eine bestimmende Rolle. Ein männliches Oberhaupt regierte die Familie, die in der Regel ein größerer kommunaler Bund war. Von diesen Bedingungen ausgehend entwickelte sich unter der Herrschaft der neu entstandenen Bourgeoisie die sogenannte Kernfamilie: 

Die bürgerliche Familie entwickelte sich unter anderen Bedingungen; ihre Grundlage war nicht das gemeinsame Eigentum am Familienvermögen, sondern die Akkumulation von Kapital. Die Familie war die Hüterin dieses Kapitals; damit die Akkumulation so schnell wie möglich erfolgen konnte, war es wichtig, dass der Mann mit den Ersparnissen sorgfältig und geschickt umging. Mit anderen Worten, dass die Frau nicht nur eine gute Hausfrau, sondern auch Freundin und Helferin ihres Mannes war. Mit der Etablierung kapitalistischer Verhältnisse und des bürgerlichen Gesellschaftssystems musste die Familie, um stabil zu bleiben, nicht nur auf wirtschaftlichen Überlegungen gründen, sondern auch auf der Zusammenarbeit aller ihrer Mitglieder, die ein gemeinsames Interesse an der Anhäufung von Reichtum hatten. Und die Zusammenarbeit konnte als mächtigerer Faktor dienen, wenn Mann und Frau und Eltern und Kinder durch starke emotionale und psychologische Bindungen zusammengehalten wurden.3

Die bürgerliche Familie hat demnach einen klaren Nutzen für den Kapitalismus und ist für diesen in Krisenzeiten eine besonders schützenswerte „Festung“. Diese Tendenz der Stärkung der Familie gegenüber anderen Lebensentwürfen und Beziehungsformen erleben wir heute wie damals. So steht der „Schutz“ der Familie sowohl im Programm und der Ansprache der AfD als auch bei der Rechten international, wie beispielsweise bei Donald Trump, ganz weit oben im Kurs. Das führt zu verschiedenen sexistischen Vorstellungen und Phänomenen, wie der Diskreditierung nicht-heteronormativer Partnerschaften, da diese beispielsweise aufgrund der angeblich fehlenden Fähigkeit, Nachkommen zu bestimmen, nicht die gleiche Funktion erfüllen könnten. 

Kollontai arbeitet hier also besonders stark die Ausweitung des kapitalistischen Privateigentums auf familiäre Beziehungen beziehungsweise Vorstellungen aus. Die bürgerliche Moral geht so weit, die kapitalistischen Besitzverhältnisse auch auf die eigene Vorstellung von Liebe und Partnerschaft zu übertragen. So wurde damals die Idee „des absoluten Besitzes des Partners, sowohl emotional, spirituell als auch physisch“4 gestärkt. Desweiteren schreibt Kollontai: „Die ‚Ungleichheit‘ der Geschlechter – die Ungleichheit ihrer Rechte, der ungleiche Wert ihrer körperlichen und emotionalen Erfahrung – ist der andere bedeutende Umstand, der die Psyche des heutigen Menschen verzerrt und ein Grund für die Vertiefung der ‚sexuellen Krise‘ ist.“5

Die extreme, emotionale Grenzen überschreitende Inbesitznahme des:der Partner:in erleben wir noch heute in verschiedensten Formen. Laut Kollontai ist sie ein Resultat der kapitalistischen Familienkonzeption, die die Partner:innen von der Gesellschaft isoliert, sowie der existierenden Einsamkeit und Individualisierung der Gesellschaft. Auch heute beobachten wir, wie eingangs beschrieben, einen Anstieg sexualisierter Gewalt, die eben eine Folge genau dieses Verhältnisses ist (mehr als jeder zweite Femizid wird von einem Ex-Partner verübt). Dass die meisten Femizide also aus Partnerschaften heraus erfolgen, denen oft bereits eine Kette der Gewalt – von Stalking bis hin zu häuslicher Gewalt – vorausging, zeigt die enge Verbundenheit von patriarchaler Unterdrückung und kapitalistischer Beziehungs- und Familienkonzeption. 

Die Analyse von Kollontai legt dar, wie tief diese Gewalt in unserer Gesellschaft verwurzelt ist: Es sind eben keine „tragischen Einzelfälle“ von Gewalt, sondern es handelt sich um strukturelle Gewalt, die noch dazu von der neoliberalen Sparpolitik – beispielsweise durch Kürzungen der Mittel für Frauenhäuser – befördert wird. Zu dem psychologischen Mechanismus, über eine:n Partner:in oder Expartner:in verfügen und diese:n kontrollieren zu wollen, kommt, wie oben beschrieben, noch eine sexistische Ideologie als zentraler Faktor hinzu. Männer und Frauen werden eben nicht als gleichwertig erachtet und ihr Verhalten sowie ihre Interessen mit anderen Maßstäben bemessen. Das alles zeigt letztendlich, dass es nicht ausreichend oder zielführend ist, nur den einzelnen Täter zu betrachten oder zu bestrafen. Es bedarf grundsätzlicher Veränderungen der Art, wie wir zusammenleben, damit „nicht eine mehr“ zur Realität wird. 

Als ein weiteres wichtiges Element in der Krisensituation arbeitet Kollontai die erstarkende Perspektive eines individuellen Ausweges heraus. Sie beschreibt, dass im Laufe der sich verschärfenden Krise Menschen in immer hoffnungslosere Situationen geraten und verzweifelt versuchen, eigene Lösungen zu finden. Doch laut Kollontai gibt es keinen persönlichen Ausweg: „Das sexuelle Problem ist wie ein Teufelskreis. Und egal, wie verängstigt die Menschen sind und wie sehr sie auch hin und her rennen, es gelingt ihnen nicht, auszubrechen.“ Diese Erkenntnis ist äußerst wichtig, denn wie wir später sehen werden, steht sie im Widerspruch zu diversen feministischen Strömungen und Theorien, die sich Gleichheit zwischen den Geschlechtern und sexuelle Freiheit innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft vorstellen können; ob durch politische Maßnahmen (Reformismus) oder durch individuelle Praktiken (Individualismus). 

In ihrer Analyse zum Zusammenspiel von Klassenkampf und Sexismus schreibt Kollontai weiterhin über die Rolle und das Potential der Liebe. Für Kollontai existierte Liebe in allen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung. Selbst die Bourgeoisie, die Liebe als eine private Angelegenheit sah, war in der Lage, sie für ihre Klasseninteressen zu nutzen. Für uns als Sozialist:innen ist Liebe nicht nur eine private Angelegenheit, die zwei liebenden Personen betrifft, sondern sie trägt ein vereinendes und voran treibendes Element in sich, was wichtig für kollektive Kämpfe und Visionen ist. Liebe kann unseren Beziehungen und Ambitionen Auftrieb verleihen; sie ist nicht nur Teil sexueller Beziehungen in der heteronormativen Sphäre, sondern geht weit darüber hinaus und verfügt über ein mannigfaltig nutzbares Potential. Liebe wird uns von der Bourgeoisie als rein familiär verkauft, als Sozialist:innen glauben wir hingegen an vielfältige Formen, wie genossenschaftliche und freundschaftliche Liebe. In allen Stufen der Entwicklung hat die Gesellschaft Normen definiert, wann und unter welchen Umständen geliebt werden darf. Es gilt daher in der aktuellen Situation, den einengenden patriarchalen Antworten auf die soziale Krise eine Perspektive von sozialistischer Liebe und Kampf entgegenzustellen. 

Über Misogynie, Queerfeindlichkeit und den Rechtsruck 

In den letzten Jahren erschütterten unterschiedliche Krisen die Gesellschaft, von der Corona-Pandemie über die Inflation bis hin zum Klimawandel. Politisch profitierte dabei international in der Regel die extreme Rechte, die neue Parteien, Regierungen und Koalitionen erschuf und sich eines immer größer werdenden gesellschaftlichen Einflusses erfreut. Dies ging einher mit einer Reihe von sexistischen und queerfeindlichen Angriffen. 

Insbesondere die Jugend war in den vergangenen Jahren von den Auswirkungen der Krise betroffen. Die Trendstudie Jugend in Deutschland hat ergeben, dass die 14-29 Jährigen so pessimistisch wie noch nie und besonders unzufrieden sowie unsicher sind. Die Mehrheit von ihnen klagt über Stress, viele fühlen sich hilflos und ganze acht Prozent haben Suizidgedanken. Die politische und materielle Krise ist längst auch zu einer Krise geworden, die sich in drastischer Art und Weise auf die Psyche junger Menschen und ihre sozialen Beziehungen auswirkt. 

Wir erleben gerade, wie aktuelle Krisen nicht einfrieren, sondern weiter, mitunter sprunghaft, voranschreiten – seien es der Rechtsruck, Kürzungen und soziale Angriffe in Deutschland, der Genozid und die Offensiven Israels in der Region oder auch der autoritäre Umbau des Staates, der sich anhand von Streikverboten und der Repression gegen die Palästinabewegung am deutlichsten zeigt.

Das bedeutet nicht nur eine Verschärfung des Leids, sondern auch die Möglichkeit für intensivere Klassenkämpfe, wie der Streik der Erzieher:innen in Berlin oder die bevorstehenden Kämpfe bei VW und Thyssenkrupp unter Beweis stellen. Wir müssen aber konstatieren, dass Arbeitskämpfe allein kein Allheilmittel gegen den Rechtsruck und die Krisen darstellen; so wählen beispielsweise gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen häufig auch die AfD. Die bewusste Intervention von Revolutionär:innen in den Klassenkampf mit dem Ziel der Politisierung ist in der aktuellen Periode also dringender denn je. 

Wir befinden uns in einer Situation der organischen Krise, in der es der Bourgeoisie immer schwerer fällt, die Bevölkerung hinter einer kohärenten ideologischen Vision zu versammeln, wovon gerade in überwältigender Mehrheit die Rechte profitiert. Das bedeutet im Umkehrschluss für uns als revolutionäre Feminist:innen, dass wir selbstbewusst unsere Vorstellungen von einer kommunistischen Gesellschaft präsentieren müssen. Hierbei gilt es, nicht nur auf der strategischen Ebene und aus der Notwendigkeit von Abwehrkämpfen heraus zu argumentieren. Vielmehr müssen wir in unseren Reihen und weit darüber hinaus Überzeugung und Enthusiasmus dafür schaffen, dass der Kampf für eine befreite sozialistische Gesellschaft die beste Antwort auf die derzeitigen objektiven, aber insbesondere auch subjektiven Krisen bieten kann.

In der Krise Anfang der 1920er Jahre, die Unterschiede aber auch zentrale Gemeinsamkeiten zur heutigen Periode aufweist, analysierte Kollontai sehr präzise die drei Auswege, die von den jeweiligen politischen Lagern vorgeschlagen wurden:

Der konservativ eingestellte Teil der Menschen argumentiert, wir sollten zu den glücklichen Zeiten der Vergangenheit zurückkehren, die alten Grundlagen der Familie wiederherstellen und die bewährten Normen der Sexualmoral stärken. Die Verfechter des bürgerlichen Individualismus sagen, wir müssten alle heuchlerischen Beschränkungen des überholten Kodex für Sexualverhalten zerstören. Diese unnötigen und repressiven ‚Lumpen‘ sollten in die Archive verbannt werden – nur das individuelle Gewissen, der individuelle Wille jedes Einzelnen kann über derart intime Fragen entscheiden. Sozialisten hingegen versichern uns, dass sexuelle Probleme erst dann gelöst werden können, wenn eine grundlegende Neuorganisation der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft in Angriff genommen wird.6

Es gehört also, wie wir fast 100 Jahre später wissen, in gewisser Weise zur „Natur“ der kapitalistischen Krisen, dass rechte Kräfte sie nutzen und für ihre reaktionäre, antifeministische Agenda instrumentalisieren. An der Vereinsamung von Menschen sei natürlich der Feminismus schuld. Laut Maximilian Krah von der AfD finde man erst wieder eine Freundin, wenn man ein „echter Mann“ und rechts geworden sei, wie er auf TikTok propagierte. „An schlecht bezahlter Arbeit ist das Gendern schuld, denn die Politik in Berlin macht ja nichts anderes“, wird wutentbrannt immer wieder in sozialen Netzwerken vorgetragen. Solche Beispiele lassen sich unendlich fortführen, wir alle kennen sie und sind täglich damit konfrontiert. Natürlich ist klar, dass „der Feminismus“ nicht an emotionalen und sozialen Problemen der heutigen Generation schuld ist, sondern oftmals als Sündenbock verwendet wird. 

Die Angriffe auf die algerische Boxerin Imane Khelif fanden in genau diesem Kontext des gegenwärtigen internationalen Rechtsrucks statt. Konservative und rechte Kräfte versuchen mit besonders hoher Intensität, heteronormative gesellschaftliche Formationen wie die Kernfamilie oder das binäre Geschlechterbild aufrechtzuerhalten. Das tun sie aus einem ökonomischen Interesse heraus, denn ein binäres Geschlechterbild erlaubt es, feminisierte Arbeit abzuwerten und – vermeintlich unproduktive – reproduktive Arbeit weiterhin feminisierten Personen zuzuschreiben. Für die Krise des Kapitalismus sollen wir also mit der Aufgabe von körperlicher und sexueller Selbstbestimmung bezahlen, denn die bloße Existenz von queeren Menschen oder Personen, die nicht heteronormativen Normen entsprechen, widerspricht den Anforderungen des patriarchalen Kapitalismus fundamental. 

Der Kampf für die Befreiung der Frau und die Rechte von trans Personen ist also eng mit dem Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse verbunden. Aus der aktuellen Situation gilt es vor allem, diesen Schluss zu ziehen und sich unter einem Programm des revolutionären sozialistischen Feminismus zu organisieren, der für die Befreiung aller Ausgebeuteten und Unterdrückten eintritt. Sasha Yaropolskaya von der sozialistisch-feministischen Gruppe Du Pain et des Roses (Brot und Rosen) sagte in diesem Sinne: „Was ihre Geschichte zeigt, ist, dass die extreme Rechte nicht bei trans Personen aufhören wird. Sie wird es auf alle absehen, die nicht in ihre zutiefst sexistische und rassistische Vision von Weiblichkeit passen.“

Was wir aus diesen Beobachtungen schließen können, ist, dass der Kapitalismus auf vielfältige Art und Weise zum Hass auf Frauen und Queers beiträgt beziehungsweise diesen überhaupt erst ermöglicht. Kollontai geht in ihrem Werk auch besonders stark auf psychologische Faktoren ein. So schreibt sie etwa: 

Vielleicht haben die Menschen in keinem Zeitalter jemals so tiefe und anhaltende spirituelle Einsamkeit empfunden wie heute. Wahrscheinlich sind die Menschen noch nie so deprimiert und so vollständig dem betäubenden Einfluss dieser Einsamkeit verfallen. Es könnte kaum anders sein. Die Dunkelheit erscheint nie so schwarz wie dann, wenn direkt vor uns Licht scheint.7

Diese Gefühle von Einsamkeit, Depression und Ohnmacht erleben wir, wie bereits ausgeführt, auch in der heutigen Zeit. So gibt es etwa in der Jugend einen zunehmenden Wunsch nach „Normalbiografien“ und ein Comeback von klassischen Geschlechterrollen, was sich etwa daran zeigt, dass fast 40 Prozent der jungen Männer möchte, dass die Partnerin ihre eigenen Ansprüche zurückstellt, um ihnen den Rücken freizuhalten. Die soziale Krise bewirkt, wie wir an diesem Beispiel sehen können, dass klassische Geschlechterrollen wieder stärker verankert werden, eben weil sie materiell betrachtet wieder notwendiger erscheinen. 

Es gibt grob zusammengefasst eine Zunahme von Individualismus und Egoismus, aber eben auch die Tendenz zur stärkeren Kontrolle des:der Partner:in und zum Glauben an die Ungleichheit der Geschlechter. Darüber hinaus beschreibt Kollontai wie es in diesem Kontext zu einer Objektifizierung von Sex und dem weiblichen Sexualpartner kommt: 

Einerseits wurde der gesunde Sexualtrieb durch monströse soziale und wirtschaftliche Verhältnisse, insbesondere die des Kapitalismus, in ungesunde Sinnlichkeit verwandelt. Sexualität ist zu einem Selbstzweck geworden – nur eine weitere Art zum Erlangen von Vergnügen, durch exzessive Lust und verzerrte, schädliche Stimulation des Fleisches. Ein Mann hat keinen Sex als Reaktion auf gesunde Instinkte, die ihn zu einer bestimmten Frau hingezogen haben: Ein Mann nähert sich jeder Frau, obwohl er kein sexuelles Verlangen nach ihr im Besonderen verspürt, mit dem Ziel, durch sie seine sexuelle Befriedigung und Lust zu erlangen.8 

Über die von Kollontai beschriebene Dynamik hinaus, die sexuelle Beziehungen allein nach männlichem Begehren ausrichtet und Frauen und Queers damit degradiert, wird im Kapitalismus heutzutage Sex noch stärker als Ware vermarktet, als es zur Zeit von Kollontai der Fall war. Es gibt eine enorme Veränderung der sexuell-affektiven Beziehungen, die der Logik von Profit, Rentabilität und Effizienz unterworfen sind. 

Andrea D’Atri schreibt: „[A]lles [ist] verkäuflich, alles käuflich. Von der Frau bis zum Sexspielzeug, das gute Ehefrauen bei einem Freundinnentreffen kaufen; von Fantasien, die in Filmen erzählt werden, bis zu verschreibungspflichtigen Medikamenten zur Behandlung von Erektionsproblemen.“ Die Logik des Kapitalismus, sämtliche Sphären des menschlichen Lebens zum Mittel für Profit zu machen, verändert letztlich auch die Art, wie wir einander lieben, miteinander zusammenleben und begehren. Nach d’Atri erleben wir trotz der starken Vernetzung in der heutigen Zeit, wie Beziehungen zunehmend einen flüchtigen, oberflächlichen oder utilitaristischen Charakter annehmen. 

Die Durchdringung unserer Begehren und Lüste mit der Welt der Ware reduziert die Fähigkeit zu lieben auf die Dynamik von Mangel und Befriedigung.9 Liebe selbst wird so zur Ware. Der Autor Ole Liebl fasst diesen Widerspruch folgendermaßen zusammen: 

Hingabe kann auch eine Unterwerfung sein, Fürsorge ein hübscheres Wort für schweißtreibende Care-Arbeit. In dieselbe alte Falle treibt uns auch heute noch eine kapitalistische Gesellschaft. Denn wenn wir unsere intimen Beziehungen als Konsumverhältnisse führen, verschiebt sowohl das Geliebtwerden als auch das Lieben ihren Sinn. An Stelle der emotionalen Öffnung, der charakterlichen Zuwendung oder der intimen Annäherung steht dann ein Tauschhandel: Ich drücke mein Geschlecht, meine Sexualität und meinen Status durch Produkte aus, um geliebt zu werden. Meine Fähigkeit zu lieben wiederum wird durch die Ökonomisierung der Liebe zu bloßer Care-Arbeit herabgewürdigt – dann liebe ich nur, um geliebt zu werden.10

Ebenso kommt es nach d’Atri zu einer neuen Idealisierung des traditionellen Paares, welches als vermeintlich uneigennütziges Bollwerk der Hektik eines prekären und völlig flexiblen Lebens entgegensteht. Wir stellen also fest, wie stark sich der Kapitalismus und seine Krise auch auf unsere engsten Beziehungen auswirken. Dem stellen wir eine sozialistische Perspektive gegenüber. Im Kapitalismus sind wir wirtschaftlich isoliert, während wir immer nach einer sozialen Verbindung suchen und diese selten finden. Im Sozialismus würden Verbindung, Solidarität und Gemeinschaft durch neue soziale Strukturen und die gemeinwohlorientierte sowie demokratisch geplante Wirtschaft erreicht werden. 

Die unterschiedlichen Sicht- und Handlungsweisen, welche Kollontai in ihrem Text zu dieser Zeit bereits beschrieb, gleichen in vielen Punkten etwa der heutigen Incel-Bewegung oder Alpha Males oder erinnern uns an misogyne und gewaltvolle Beziehungen, auch wenn zu ihrer Zeit die Verhältnisse in vielen Fällen noch viel sexistischer und gewaltvoller waren und heutzutage Sex wiederum stärker kapitalisiert wird. Solche Phänomene erstarken gemeinsam mit dem Rechtsruck und der Krise. Umso wichtiger ist es für uns als sozialistische Feminist:innen, unsere Beziehungen politisch zu denken und gegen konservative Moralvorstellungen, die unsere Beziehungen reglementieren oder den Opfern von sexualisierter Gewalt die Schuld zusprechen, einzustehen. Es sind eben nicht individualisierte Fälle, sondern es ist ein patriarchales System, welches eng mit dem Kapitalismus verbunden ist, was die diversen Formen von Frauenhass und Queerfeindlichkeit hervorbringt. 

Wie bereits oben angeführt, ist es aber kein Automatismus, dass alles sexistischer und queerfeindlicher wird. Im Gegenteil bietet die aktuelle Situation auch ein Potential für einen Aufstieg von linken Positionen und Perspektiven und die Verbindung von Kämpfen gegen Unterdrückung mit dem Klassenkampf, welche in der heutigen Gesellschaft ohnehin oftmals nah beieinander liegen. Dafür ist es aber notwendig, über Strategie und Taktik zu diskutieren und sich mit den unterschiedlichen Antworten der feministischen Akteure zu befassen. 

Wie reagieren Feminist:innen auf die aktuelle Situation und welchen Theorien folgen sie dabei? 

Zur Zeit gibt es sehr unterschiedliche feministische Antworten auf Sexismus und Queerfeindlichkeit, Rechtsruck und Krise. Dabei stehen sich diese zum Teil diametral entgegen. 

Besonders wichtig ist derzeit der Liberalfeminismus, der in Deutschland beispielsweise durch Kristina Lunz, die Gründerin des Centre of Feminist Foreign Policy, vertreten wird. Dieser erkennt die Unterdrückung von Frauen, patriarchale Gewalt und auch die fehlende Selbstbestimmung über den eigenen Körper sowie die Problematik der unbezahlten Care-Arbeit an. Was dieser Strömung aber fehlt, ist ein Verständnis für das Zusammenwirken von Kapitalismus und sexistischer Unterdrückung, also vor allem die materielle Grundlage und Ebene des Sexismus. Nach Lunz sind der kapitalistische Staat und seine Regierung sowie die Existenz von Bossen und Arbeiter:innen per se nicht falsch. Diese Strukturen nehmen ihrer Theorie zufolge nur aufgrund der männlichen Sozialisierung einen reaktionären Charakter an. So werden nicht Bosse und Regierung zum Gegner, sondern einzig und allein „die Männer“.

Als Teil des liberalen Feminismus lassen sich auch die punitivistischen Ideen verstehen, wobei es diese auch in linkeren Ausprägungen gibt. Unter Punitivismus verstehen wir einen strafenden Feminismus, der beispielsweise auf sexualisierte Gewalt mit der Forderung nach höheren Gefängnisstrafen reagiert. In Deutschland debattiert etwa die Ampelregierung über die Nutzung von elektronischen Fußfesseln für Sexualstraftäter, während Abschiebungen nach Afghanistan mit dem Schutz von Frauen begründet werden. 

Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit dem strafenden Feminismus können wir folgende Artikel empfehlen:

Zum liberalen Feminismus lassen sich auch Denker:innen und Akteure zählen, die linke Positionen vertreten. Eine wichtige Idee ist hierbei der Intersektionalismus, also das Verständnis, dass Unterdrückungsformen zusammenhängen und gemeinsam bekämpft werden müssen. Das ist eine grundsätzlich fortschrittliche Annahme, doch kommt es dabei häufig zur Gleichsetzung von Unterdrückungsformen. Weiterhin fehlt ein Verständnis von Ausbeutung und der Klassengesellschaft, sodass Gender, Race und Class gleichgesetzt werden. 

Auch hier können wir einen weiteren Artikel zur Debatte empfehlen:

Der liberale Feminismus wird in Deutschland auch durch Teile der Regierung, vor allem durch die Grünen, vertreten. Der Feminismus der Regierung kennzeichnet sich dadurch, soziale Bewegungen und Widersprüche für die Wahlergebnisse und Posten der eigenen Partei zu vereinnahmen; nur um dann in der Regierung Versprechen zu brechen oder Reformen in einem geringen Umfang umzusetzen. Wichtig hierbei ist, dass Reformen keinesfalls ausreichen, da sie schnell wieder rückgängig zu machen sind oder eben progressive Anliegen in der Regierung dann in ihr Gegenteil verkehrt werden. Das zeigt sich aktuell, wenn die Aufrüstung der Polizei damit begründet wird, Frauen und Queers besser zu schützen, oder Außenpolitik, die für die Militarisierung der Grenzen und Waffenlieferungen steht, als feministisch zu deklarieren versucht wird.

Wie sehr die vermeintlich progressive Regierungspolitik scheitert, lässt sich besonders am Vorzeigeprojekt der Grünen, der Kindergrundsicherung, beobachten. Diese war als Unterstützung gegen die Armut von Alleinerziehenden und ihren Kindern gedacht. Ursprünglich waren dafür 12 Milliarden Euro veranschlagt; das alles ist jedoch vom Tisch. Stattdessen gibt es geringe Erhöhungen bei existierenden „Angeboten“ wie dem Kindergeld, die so gering sind, dass sich Kinder- und Jugendarmut noch weiter verschärfen wird und vor allem alleinerziehende Mütter weiterhin ohne Perspektive dastehen. 

Die wichtigsten Tendenzen gegen diesen Feminismus sind diejenigen, die die Arbeiter:innenklasse liefert, da sie eine Antwort auf schlechte Arbeitsbedingungen, die für Frauen und Queers häufiger prekär sind, bieten. In besonders feminisierten Berufen wie etwa der Kindererziehung wird aktuell viel gespart. Weiterhin existiert in unserer Gesellschaft eine Trennung von „produktiver“ und „unproduktiver“ Arbeit, wovon letztere traditionell weiblichen Personen zugeschrieben wird; „weibliche Berufe“ wie beispielsweise die Pflege werden demnach abgewertet. Gegen diese Spar- und Kürzungspolitik streiken und kämpfen derzeit Erzieher:innen, Lehrer:innen und auch Gesundheitspersonal in mehreren Bundesländern. Ihre Kämpfe sind eine notwendige und direkte Antwort auf die Politik der Regierung, die bei Bildung und Gesundheit spart, während sie massiv aufrüstet. Sie bieten einen Ausgangspunkt für einen Feminismus von unten, der von Betrieben und Schulen ausgehend der Politik der Regierung den Kampf ansagt und wirkliche Verbesserungen, aber auch das Potential für größere radikale Veränderungen beinhaltet. Dabei dürfen sich diese nicht nur für ökonomische Verbesserungen aussprechen, sondern müssen sich auch gegen sexistische Kommentare und Übergriffe sowie gegen queerfeindliche Strukturen im Betrieb richten. 

Eine besonders fatale Strömung für den Feminismus im 21. Jahrhundert ist der konservative Feminismus. Hier gibt es sicherlich unterschiedliche Facetten, die zwischen Alice Schwarzer und anderen Radikalfeminist:innen oder Sahra Wagenknecht liegen. Was dieses Spektrum aber gemeinsam hat, ist die Ablehnung von Gemeinsamkeiten, die hinsichtlich der Unterdrückung von Frauen und Queers bestehen. Oftmals werden beide sogar gänzlich gegeneinander ausgespielt. Richtigerweise gilt es zu definieren, dass beide Unterdrückungsformen verschieden sind, jedoch sowohl Frauen als auch Queers unter dem Patriarchat besonders leiden. Die gleichen Kräfte, die die körperliche Selbstbestimmung von Frauen etwa durch Abtreibungsverbote angreifen, greifen auch diejenige von trans Personen an. 

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die verschiedenen feministischen Antworten oftmals ein unzureichendes oder fehlendes Verständnis vom Zusammenhang von Patriarchat und Kapitalismus eint. Der Staat kann eine positive oder neutrale Rolle in ihrem politischen Verständnis spielen. Die davon ausgehende Strategie zielt in der Regel auf partielle Veränderungen und nicht auf einen Feminismus ab, der die Interessen der gesamten Arbeiter:innenklasse und aller Unterdrückten vertritt. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, das zu verändern und für einen revolutionären Feminismus zu kämpfen. Im folgenden Teil des Artikels gehen wir nun auf unsere Perspektive des sozialistischen Feminismus ein. 

Über Klassenkampf und den Sozialismus als Ausweg 

Wir sind sozialistische Feminist:innen, weil wir der festen Überzeugung sind, dass die sexistische und queerfeindliche Unterdrückung ein Produkt der kapitalistischen Klassengesellschft ist. Wir denken, dass das größte Potential, diese zu bekämpfen, im offensiven Kampf, in einem Bündnis aus feministischer Bewegung und der Arbeiter:innenklasse, die heute weiblicher und offen queerer ist als jemals zuvor, liegt. Kollontai schrieb bereits in ihrem Brief an die arbeitende Jugend: „Die Geschichte der menschlichen Gesellschaft, die Geschichte des ständigen Kampfes zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Klassen mit gegensätzlichen Zielen und Interessen, gibt uns den Schlüssel zur Suche nach diesem ‚roten Faden‘.“11 Wichtig ist hierbei, den feministischen Kampf nicht schematisch vom Klassenkampf abzutrennen oder auf das Stadium nach der Revolution zu verschieben. 

Der Widerspruch zwischen den Geschlechtern ist auch für unsere heutige Gesellschaft ein zentraler Faktor; die daraus resultierenden Probleme sind keine individuellen Angelegenheiten, sondern sollten Teil unserer kollektiven Diskussionen und Prozesse sein. Kollontai schreibt, dass der Fakt ignoriert wurde, dass durch die Geschichte hinweg eines der konstanten Elemente des sozialen Kampfes der Versuch war, die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern zu ändern. Ihr zufolge war die Art und Weise, wie persönliche Beziehungen in bestimmten sozialen Gruppen organisiert waren, von zentralem Einfluss auf das Resultat des Kampfes zwischen den feindlichen Klassen.12 Es ist demnach für Revolutionär:innen von besonderer strategischer Bedeutung, den Feminismus als einen elementaren und entscheidenden Bestandteil des Klassenkampfes zu betrachten. 

Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt sich beispielsweise an der Organisationsform der Frauenkomitees, welche unsere Schwestergruppe Pan y Rosas (Brot und Rosen) in Argentinien immer wieder aufgrund dieser strategischen Perspektive aufbaute. Wo immer es einen Arbeiter:innenkampf gibt, ermutigt Pan y Rosas die Selbstorganisation von Frauenkommissionen. Das bedeutet, auch wenn die Mehrheit männliche Arbeiter sind, bestärken wir die Organisation der Frauen in ihren Familien, um die häusliche Isolation zu durchbrechen und den Arbeitskampf durch solidarische Organisierung zum Sieg zu führen. Ein erfolgreiches Beispiel für diese Strategie ist die Besetzung der Fabrik Madygraf, wo es gelang, durch den Kampf für Transrechte am Arbeitsplatz den Kampf auch gegen die gesamten ausbeuterischen und unterdrückerischen Strukturen im Betrieb zu richten.

In ihrem Werk rechnet Kollontai auch mit reformistischen Perspektiven ab, welche bereits damals eine Rolle spielten. Auf die Frage, wie wir den sexistischen Verhältnissen ein Ende setzen können, antwortet sie: 

Die sexuelle Krise kann nur gelöst werden, wenn die menschliche Psyche radikal reformiert und die Fähigkeit zu lieben gesteigert wird. Und wenn die Psyche neu geformt werden soll, ist eine grundlegende Transformation der sozioökonomischen Beziehungen nach kommunistischen Grundsätzen unabdingbar. Das ist eine ‚alte Wahrheit‘, aber es gibt keinen anderen Ausweg. Die sexuelle Krise wird sich in keiner Weise verringern lassen, egal welche Art von Ehe oder persönlicher Beziehung die Menschen ausprobieren.13

In einer sozialistischen Gesellschaft würde sich auf der Basis der materiellen Umgestaltung auch die Art unseres Zusammenlebens fundamental verändern. So beschreibt auch Kollontai, wie bereits in der jungen, von den Folgen des Bürgerkriegs geplagten Sowjetunion einige bedeutsame Veränderungen entstanden. So ging beispielsweise die Prostitution drastisch zurück. Ebenso betont sie das größere Interesse und schlichtweg auch die Möglichkeit für breite Teile der Gesellschaft, ihre intellektuellen und emotionalen Bedürfnisse auszuleben. Als Beispiel nennt sie hier Mitarbeiter:innen der Partei, die in den vorherigen Jahren „nur Zeit für Prawda-Editorials“ hatten und nun damit begannen, fiktionale Texte über den geflügelten Eros zu lesen. 

Letztlich verhindert die Klassengesellschaft auch heute die freie Entfaltung unserer Liebe und unserer Körper. Kosten für die (medizinische) Transition von trans Personen sind hoch, freie emanzipierte Liebe scheint nur schwer möglich, wenn man in prekären Berufen arbeitet und seine Miete nicht bezahlen kann. Die Probleme, die aus 40-Stunden-plus-Wochen und aus Jobs ohne bezahlte Krankheitstage für uns resultieren, können auch sämtliche Dating-Apps mit Premium-Abonnements nicht lösen. Die uns versprochene Freiheit erscheint wie ein unlösbares Dilemma. So konkludiert Andrea D’Atri, dass die sexuelle Frage nicht nur eine Fage „des unkonventionellen Begehrens ist, das sich dem Diktat der obligatorischen Heterosexualität entzieht, […] sondern [dass es] auch um Millionen von Menschen, die von der Peitsche des Kapitals müde ausgebeutet werden und deren Sexualität dazu verdammt ist, ein Ödland ohne Fantasien und Vergnügen zu sein, [geht].“ Deshalb sprachen die antikapitalistischen Bewegungen, die in der Hitze der Stonewall-Barrikaden entstanden, eher von sexueller Befreiung (der Menschheit) als von Rechten auf Inklusion (der Identitäten). 

Diesem Dilemma stellen wir die Entwicklung einer auf kollektivem Handeln, individueller Freiheit und Solidarität basierenden, sozialistischen Gesellschaft entgegen. Eine Gesellschaft, in der laut Kollontai auch ein neues Ideal von Liebe entstehen wird: „Das Ideal der genossenschaftlichen Liebe, das von der proletarischen Ideologie als Ersatz für die allumfassende und ausschließlich eheliche Liebe der bürgerlichen Kultur geschmiedet wird, beinhaltet die Anerkennung der Rechte und der Integrität der Persönlichkeit des anderen, eine unerschütterliche gegenseitige Unterstützung und einfühlsames Mitgefühl sowie die Reaktion auf die Bedürfnisse des anderen.

Sie beschreibt den Prozess der Entwicklung zu einer kommunistischen Gesellschaft im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis und die Sexualität folgendermaßen: 

Aber es besteht kein Zweifel, dass die Liebe mit der Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaft eine veränderte und beispiellose Gestalt annehmen wird. Bis dahin werden die ’sympathischen Bindungen‘ zwischen allen Mitgliedern der neuen Gesellschaft gewachsen und gefestigt sein. Das Potential der Liebe wird gewachsen sein, und solidarische Liebe wird zu dem Hebel werden, den Wettbewerb und Eigenliebe im bürgerlichen System darstellten. Der Kollektivismus des Geistes kann dann die individualistische Selbstgenügsamkeit besiegen. Die ‚Kälte der inneren Einsamkeit‘, der die Menschen in der bürgerlichen Kultur durch Liebe und Ehe zu entfliehen versuchten, wird verschwinden. Die vielen Fäden, die Männer und Frauen in engen emotionalen und intellektuellen Kontakt bringen, werden sich entwickeln. Und Gefühle werden aus dem Privaten in die Öffentlichkeit übergehen. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Abhängigkeit der Frauen von den Männern werden spurlos verschwinden und nur eine verblassende Erinnerung an vergangene Zeiten sein.14

Wir kämpfen also für eine Gesellschaft, in der sich die Besitzverhältnisse ändern, in der die Wirtschaft demokratisch geplant wird, in der nicht eine besitzende Minderheit über eine arbeitende und besitzlose Mehrheit regiert, in der die Geschlechterungleichheit verschwindet. In der wir frei über unsere Körper bestimmen können, in der Sexualität und Liebe nicht mehr durch bürgerliche Kategorien reglementiert, sondern frei gelebt werden, von kollektiver Fürsorge bis hin zu polyamoren Utopien. 

Hierbei können wir von der Erfahrung der Generationen vor uns und insbesondere den fortschrittlichen Elementen in der jungen Sowjetunion lernen. Dazu gehört ebenfalls, den Prozess ihrer Bürokratisierung – auch bekannt als Stalinisierung – zu verstehen und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Alexandra Kollontai war selbst Teil dieses Prozesses, der zentrale Errungenschaften wie das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch revidierte. Wir treten aufgrund dieser Erfahrungen für einen Sozialismus ein, der auf der Grundlage von Rätedemokratie und Internationalismus basiert. Dies ist unsere Perspektive, für die wir kämpfen. Daraus folgt jedoch gerade nicht, still zu stehen und den Sozialismus abzuwarten. 

Wer mehr über die Entwicklungen in der UdSSR hinsichtlich queerer Themen erfahren möchte, dem empfehlen wir diesen Artikel:

Das Aufkommen einer neuen feministischen Generation in einem internationalen und noch nie dagewesenen Ausmaß bietet ein riesiges Potential, uns den Angriffen auf unsere Körper, auf unser Begehren und vielem mehr zu widersetzen. Dabei ist es, wie wir anhand der Auseinandersetzungen mit aktuellen feministischen Antworten zeigten, notwendig, für eine revolutionäre feministische Alternative einzustehen. 

Im Angesicht der gegenwärtigen internationalen sexistischen und queerfeindlichen Offensive müssen wir uns unter dem lila Banner des sozialistischen Feminismus organisieren. Wir kämpfen für die Verteidigung unserer Rechte und auch für Reformen, in der Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft. Dafür ist das Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess über eine besonders wichtige strategische Position gegenüber den Kapitalist:innen und ihren Regierungen verfügt, von zentraler Bedeutung. Wir sprechen uns gegen jeden separatistischen Feminismus aus, der trans Personen, Migrant:innen oder sonst wem die Schuld an der Misere gibt. Denn uns ist klar, woher die Unterdrückung wirklich kommt. Die heutige Generation ist in vielen Hinsichten ausgesprochen offen für feministische Themen: Lasst uns die Generation sein, die die besten Traditionen des revolutionären Feminismus wieder aufgreift und für eine befreite Welt kämpft! 

Fußnoten

  1. 1. Vgl.: Alexandra Kollontai: Sexual Relations and the Class Struggle, in: Dies.: Selected Writings of Alexandra Kollontai, Allison & Busby, London 1977.
  2. 2. Ebd. Eigene Übersetzung. Abrufbar unter: https://www.marxists.org/archive/kollonta/1921/sex-class-struggle.htm [19. Oktober 2024].
  3. 3. Alexandra Kollontai: Make way for Winged Eros: A Letter to Working Youth, in: Molodoya Gvardiya 3 (1923). Eigene Übersetzung. Abrufbar unter: https://www.marxists.org/archive/kollonta/1923/winged-eros.htm [19. Oktober 2024].
  4. 4. Kollontai: Sexual Relations and the Class Struggle. Eigene Übersetzung.
  5. 5. Ebd. Eigene Übersetzung.
  6. 6. Kollontai: Sexual Relations and the Class Struggle. Eigene Übersetzung.
  7. 7. Ebd. Eigene Übersetzung.
  8. 8. Alexandra Kollontai: Make way for Winged Eros. Eigene Übersetzung.
  9. 9. Vgl. Ole Liebl: Freunde lieben. Die Revolte in unseren engsten Beziehungen, HarperCollins Paperback, Hamburg 2024, S. 52-68.
  10. 10. Ebd., S. 66.
  11. 11. Kollontai: Make way for Winged Eros. Eigene Übersetzung.
  12. 12. Vgl. Kollontai: Sexual Relations and the Class Struggle. Eigene Übersetzung.
  13. 13. Ebd. Eigene Übersetzung.
  14. 14. Ebd. Eigene Übersetzung.

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