Warum muss nur ein Funktionär wegen des Chaos am „Lageso“ zurücktreten?

16.12.2015, Lesezeit 5 Min.
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Nach Monaten katastrophaler Zustände erreicht die Krise des Landesamtes für Gesundheit und Soziales („Lageso“) endlich die politische Kaste Berlins. Zuerst wird Sozialsenator Mario Czaja (CDU) wegen Körperverletzung und Nötigung im Amt angeklagt. Dann entlässt er den Lageso-Präsidenten Franz Allert auf Bitten des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD).

Es war schon lange klar: Einer würde gehen müssen. Doch auch wenn Regierungschef Müller immer wieder in harten Tönen von Czaja sprach, war ihm letztendlich der Erhalt der Großen Koalition doch wichtiger als seine Worte. Trotzdem stellte er Mitte letzter Woche fest: „Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir nicht mehr länger warten können.“ Daraufhin stimmte Czaja der Forderung nach „personeller Erneuerung“ an der Lageso-Spitze zu und entließ den Präsidenten Franz Allert – nachdem darüber spekuliert wurde, dass Czaja selbst gehen würde müssen.

Dieses Bauernopfer fiel nach Monaten, in denen die zehntausenden Geflüchteten, die in diesem Jahr in Berlin angekommen sind, unter den unmenschlichen Bedingungen des Lageso in der Turmstraße leiden mussten. Geflüchtete müssen das Lageso aufsuchen, um sich zu registrieren, ihre Sozialleistungen abholen, in Notunterkünfte zugewiesen zu werden, ihr Taschengeld abzuholen oder medizinisch versorgt zu werden.

Schon im Sommer fanden sich Tag für Tag Hunderte oder gar Tausende vor dem Gelände des Landesamtes zusammen. Damals machte ihnen die Hitze zu schaffen. In den letzten Monaten hatte sich die Situation noch weiter zugespitzt. Wochenlang schon müssen Geflüchtete in der Nacht Schlange stehen, um am kommenden Tag versorgt zu werden. Diese erniedrigende Situation führt zu Rangeleien, Körperverletzungen, Beinbrüchen, Hämatomen, Erschöpfung und den Auswirkungen der Kälte. Die Politik der Berliner Landesregierung macht so selbst die Erfüllung der dringendsten Bedürfnisse der Geflüchteten zu einer Tortur.

Körperverletzung im Amt

Deshalb wurde Sozialsenator Czaja und eine Reihe weiterer Verantwortungsträger kürzlich von Anwälten des Vereins Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) und dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) wegen Körperverletzung und Nötigung im Amt verklagt. Sie machen Czaja und Co. für die schreckliche Situation verantwortlich und werfen ihnen vor, diese „billigend in Kauf genommen“ zu haben.

Doch auch an anderen Stellen zeigt sich das Scheitern der Berliner Geflüchtetenpolitik. Ende November gab es Schlägereien zwischen Geflüchteten bei der Essensausgabe in der Notunterkunft auf dem Gebiet des ehemaligen Flughafen Tempelhof. Solche Szenen machen deutlich, in welch verzweifelte Lage die mangelnde Versorgung und die prekäre Unterbringung die Geflüchteten versetzt.

Das Lageso ist jedoch nicht nur ein Hort des Leids für Geflüchtete, sondern auch der Bereicherung der politischen Kaste Berlins auf Kosten der Geflüchteten. Schon lange war bekannt, dass das von Allert angeführte Lageso illegale Verträge mit einem Heimbetreiber abgeschlossen hatte, der seinem eigenem Patensohn gehörte. Auf der anderen Seite sitzt die Behörde auf nicht gezahlten Rechnungen (zum Beispiel an Hostels, die Geflüchtete aufnehmen sollten), die sich auf mindestens 200 Millionen Euro belaufen. Mit Allert geht nur die Spitze eines korrumpierten Eisbergs.

Sparpolitik des Senats

Doch nicht nur die CDU ist in den Skandal verwickelt: Eine der Hauptursachen für die jetzige Situation ist der Personalmangel des Amtes. Dieser lässt sich auf die Sparpolitik der rot-roten Senate bis 2011 zurückführen, die nicht nur zehntausende Wohnungen privatisierten, sondern auch tausende Stellen im öffentlichen Dienst kürzten. Alle politischen Parteien im Berliner Senat tragen die geflüchtetenfeindliche Politik mit, die vor dem Lageso und in zahlreichen Notunterkünften zu Körperverletzungen und bedrohlichen Situationen führt.

Deshalb kann an dieser Situation kein neues Gesicht etwas ändern. Alle Zwangsmaßnahmen müssen fallen gelassen werden. Alle Geflüchtete brauchen eigene Vier Wände: durch die entschädigungslose Enteignung von Wohnraum, der zur Spekulation benutzt wird oder leer steht. Geflüchtete brauchen das bedingungslose Recht auf Ausbildung und Arbeit, mit gleichem Lohn für gleiche Arbeit, um in Würde leben zu können. Sie brauchen das Recht auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit.

Dass es vor dem Lageso nicht zu noch schlimmeren Zuständen kam, die sogar zu Toten führen könnten, haben wir vor allem Willkommensinitiativen wie „Moabit Hilft!“ zu verdanken. In den letzten Monaten wurde die Heuchelei der bürgerlichen Parteien und der Unternehmer*innen deutlich, die diese Zustände bewusst duldeten. Gleichzeitig engagieren sich tausende Jugendliche und Arbeiter*innen aufopferungsvoll, um die unmenschliche Situation zu verbessern, in die die Geflüchteten von dem Berliner Senat und der Bundesregierung gestürzt werden.

Die Arbeiter*innen und Jugendlichen in Berlin müssen gemeinsam mit den Geflüchteten eine politische Antwort auf die aktuelle Krise des Lageso geben. Ein Programm der Ausweitung der demokratischen und sozialen Rechte, des Stopps aller Abschiebungen und des Neins zur Festung Europa. Ein solches Programm kann nur durch die breite Mobilisierung und Organisierung an allen Schulen, Universitäten und Arbeitsplätzen gegen alle Müllers, Czajas und Allerts erkämpft werden.

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