Warum ist H. P. Lovecrafts Werk rassistisch und was sagt uns das über das Horrorgenre insgesamt? 

13.06.2024, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Wikimediacommons

Lovecrafts Werk begründete das moderne Horrorgenre und fasziniert uns auch heute noch. Doch es ist gleichzeitig zutiefst rassistisch. Heutige Schüler:innen Lovecrafts versuchen sich deshalb zunehmend an einem antirassistischen Horror. Doch kann Horror überhaupt progressiv sein?

Jeder kennt den in der Tiefe des Ozeans schlafenden “Cthulhu” und jeder hat schon mal von dem geheimnisvollen Buch “Necronomicon” gehört. Aber noch mehr als die konkreten Elemente von Howard Phillips Lovecrafts Geschichten schaffte es die erdrückende Atmosphäre, die er so meisterhaft vermitteln konnte, ganze Generationen von Künstler:innen zu inspirieren. Ridley Scotts “Alien”, John Carpenters Meisterwerk “The Thing” und sein weniger genialer Film “In the Mouth of Madness”, Stephen Kings “The Mist” und “Revival”, Jeff VanderMeers “Annihilation” und dessen großartige Filmadaption mit Natalie Portman in der Hauptrolle, versuchten sich alle an dem, was man heute “Cosmic Horror” nennt. Dem Gefühl, was sich einstellt, wenn man als Kind ins All hinaus blickt und den Eindruck bekommt, dass die unermessliche Leere da draußen plötzlich zurück starrt und einem klar macht, wie winzig und unbedeutend man im kosmischen Maßstab ist. 

Trotz der Allgegenwärtigkeit seines kulturellen Einflusses wird das Werk Lovecrafts selbst heute eher negativ bewertet. Langatmig und umständlich ist sein Stil, fast unerträglich reaktionär die politischen Ansichten, die aus allen Poren seiner Geschichten triefen. Lovecraft war ein überzeugter Rassist und machte daraus auch in seiner Prosa keinen Hehl. Am bekanntesten ist hierfür wohl die Kurzgeschichte “The Horror at Red Hook”. Die Handlung spielt im gleichnamigen New Yorker Stadtteil. Lovecraft beschreibt seine diversen Bewohner mit hasserfülltem Abscheu:

The population is a hopeless tangle and enigma; Syrian, Spanish, Italian, and negro elements impinging upon one another, and fragments of Scandinavian and American belts lying not far distant. […] From this tangle of material and spiritual putrescence the blasphemies of an hundred dialects assail the sky. Hordes of prowlers reel shouting and singing along the lanes and thoroughfares, occasional furtive hands suddenly extinguish lights and pull down curtains, and swarthy, sin-pitted faces disappear from windows when visitors pick their way through. Policemen despair of order or reform, and seek rather to erect barriers protecting the outside world from the contagion.

In dieser Kurzgeschichte folgen wir einem Polizisten auf der Spur nach einem geheimnisvollen Kult, natürlich hauptsächlich bestehend aus Ausländern, die “blue-eyed Norwegian Kids” entführen und mit ihnen Blutopfer veranstalten. In “Call of Cuthulu” trifft der Ermittler in einem Sumpf auf einen Menschen opfernden Kult, den er wie folgt beschreibt: 

On this now leaped and twisted a more indescribable horde of human abnormality than any but a Sime or an Angarola could paint. Void of clothing, this hybrid spawn were braying, bellowing, and writhing about a monstrous ring-shaped bonfire; in the centre of which, revealed by occasional rifts in the curtain of flame, stood a great granite monolith some eight feet in height. 

Gegen Ende dieser Kurzgeschichte treffen Seeleute auf ein, ebenfalls von “Primitiven” erobertes Schiff, welches sie kapern und die Besatzung vollständig ermorden. Lovecraft kommentiert: 

There was some peculiarly abominable quality about them which made their destruction seem almost a duty.

In der Kurzgeschichte “Shadow over Innsmouth” stellt der Protagonist schließlich fest, dass er selbst mit der “biological degenerated” Bevölkerung der Kleinstadt Innsmouth verwandt ist und dieses “foreign blood“ ihn langsam verändert und zu einem jener Fisch-Menschen-Hybride werden lässt, die er so sehr verachtet. Diese irrationale Angst vor der Vermischung, vor der Verunreinigung der “gesunden” Herrenrasse durch “Mischehen” ist ein zentrales Element von Lovecrafts Rassenwahn, der in seiner Radikalität selbst viele Zeitgenossen übertrumpfte.

Zurecht angewidert, aber zugleich von seiner Originalität und seinem Talent, ein wirkliches Gefühl von Horror bei seinen Lesern zu erzeugen, haben moderne Autor:innen ab und zu versucht, einen “lovecraftian” Horror zu schreiben, der ohne Rassismus auskommt. Der Fantasy und Horror-Autor Victor Lavalle versuchte sich mit “The Ballad of Black Tom” an einer Neuerzählung von “The Horror at Red Hook”. In seiner Geschichte ist der Protagonist Charles Thomas Tester ein schwarzer junger Mann, der die Polizeieinsätze, die Lovecraft in seiner Geschichte beschreibt, von der anderen Seite erleben muss. Dabei wird sein Vater von einem Polizisten in seiner Wohnung erschossen. Tommy Tester gerät daraufhin an einen geheimnisvollen Kult des schlafenden Gottes Cthulhu, dem er sich nach anfänglichem Zögern voll und ganz verschreibt. “I take Cthulhu over you monsters any day”. Statt also das fremde und bedrohliche Monster zu fürchten und zu bekämpfen, wie es die Protagonisten in Lovecrafts Geschichten tun, ergibt sich Tommy Tester dem Monster und wird dabei von den menschlichen Monstern einer rassistischen Gesellschaft erlöst. “You made me like this.” Doch die Negation des Fremden, die Negation des Monsters ist nicht nur eine Negation von Lovecraft, sondern vom Horror selbst. Denn Horror ist fundamental reaktionär und ein Lovecraft ohne Rassismus kann es nicht geben.

Michel Houellebecq schrieb in seinem frühen Essay “Gegen das Leben, gegen die Welt” von 1991, welches sich bezeichnenderweise mit Lovecrafts Leben und Werk auseinandersetzt: 

Die fantastischen Schriftsteller sind im Allgemeinen Reaktionäre, und zwar einfach deshalb, weil sie sich ganz besonders, man könnte sagen, von Berufs wegen der Existenz des Bösen bewußt sind. […] Dabei hat die Entwicklung der modernen Welt die lovecraftschen Phobien noch präsenter, noch lebendiger gemacht. 

Und Stephen King schrieb in seinem Essay “Why We Crave Horror Movies”: 

We go [to Horror Movies] to re-establish our feelings of essential normality; the horror movie is innately conservative, even reactionary. Freda Jackson as the horrible melting woman in “Die, Monster, Die!” confirms for us that no matter how far we may be removed from the beauty of a Robert Redford or a Diana Ross, we are still light-years from true ugliness.

Die Protagonist:innen in Horrorfilmen und -Literatur kämpfen gegen den Verlust der Normalität, ihren geliebten Status-Quo, der durch das Eindringen eines fremden Äußeren aus den Fugen gerät. Der Kampf gegen das Monster wird so zugleich zum Kampf gegen den Fortschritt und gegen die Vernunft. Das Alte muss bewahrt werden, das Neue, das (noch) Unerklärbare, vor dem die Protagonist:innen eine panische Angst verspüren, muss um jeden Preis gebannt werden, bevor es die alten Zusammenhänge, im klassischen “Spukhaus-Horror” häufig die Familie oder der Glaube, auseinanderreißt. Ein wirkliches Gefühl von Horror kann man nur verspüren, wenn man sich auf diese Spielregeln einlässt, wenn man akzeptiert, dass es etwas wirklich “Böses” gibt, was versucht das Bekannte, das “Gute”, das “Menschliche” auszulöschen. Und wenn das “Böse” nicht in Form eines Aliens sondern in Menschengestalt auftritt, dann kann sich das Horrorgenre nicht mit der Frage nach den Gründen für das Handeln des menschlichen Monsters aufhalten, wirklich fürchten kann man sich nur vor einem Menschen, dessen Beweggründe man nicht begreifen kann, der einfach das “pure Böse” verkörpert. 

In der Romanvorlage für den großartigen Film mit Jodie Foster and Anthony Hopkins “Das Schweigen der Lämmer” fragt die junge FBI Agentin Clarice Starling den Kannibalen Hannibal Lecter:  ”What happend to you?” und er antwortet:

Nothing happened to me, Officer Starling. I happened. You can’t reduce me to a set of influences. You’ve given up good and evil for behaviorism, Officer Starling. You’ve got everybody in moral dignity pants — nothing is ever anybody’s fault. Look at me, Officer Starling. Can you stand to say I’m evil? Am I evil, Officer Starling? 

– I think you’ve been destructive. For me it’s the same thing.

Evil’s just destructive? Then storms are evil, if it’s that simple. And we have fire, and then there’s hail. Underwriters lump it all under ‘Acts of God.

In anderen Worten: der aufgeklärte Mensch will es nicht bei einer simplen Aufteilung der Welt in “Gut” und “Böse” belassen, will nach den Gründen und Ursprüngen des menschlichen Handelns fragen, doch das Horrorgenre verweigert ihm die Antworten, nach denen er sucht. Das Fremde bleibt fremd, das Unbekannte bleibt unbegreiflich und das Böse bleibt absolut böse. Im Horror erscheint die Welt in unveränderlichen Kategorien, die menschliche Natur als ewiges Prinzip, der Mensch als stets vom Bösen belagert, und die Zukunft als determiniert und damit unweigerlich auf die Zerstörung des Guten und der Menschheit hinauslaufend.

Damit ist das Horrorgenre zugleich ein Aufstand gegen die moderne kapitalistische Gesellschaft, die die althergebrachten Moralvorstellungen längst zerschlagen hat, als auch ein Aufstand gegen die Vernunft und die Wissenschaft selbst. Lovecraft leitet seinen “Call of Cuthulu” genau mit einer solchen Idee ein: 

The most merciful thing in the world, I think, is the inability of the human mind to correlate all its contents. We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far. The sciences, each straining in its own direction, have hitherto harmed us little; but some day the piecing together of dissociated knowledge will open up such terrifying vistas of reality, and of our frightful position therein, that we shall either go mad from the revelation or flee from the deadly light into the peace and safety of a new dark age.

Die Skepsis und Furcht vor dem Fortschritt, vor der “Entzauberung” der Welt, die Angst das alte Koordinatensystem zu verlieren, was das Leben vor dem industriellen Kapitalismus so einfach und überschaubar zu machen schien, ist die treibende Emotion von Lovecrafts Werk. Houellebecq schreibt dazu: “Die Mechanisierung und Modernisierung haben unvermeidlich jene Lebensweise zerstört, an der [Lovecraft] mit allen Fasern hing.” Das ist für Lovecraft der wahre Horror.

Indem aber Lavalle nun versucht, Cthulhu zu entzaubern und seinen Protagonisten Tommy Tester sogar dazu bringt, das “Fremde” zu akzeptieren und im Bund mit Cthulhu gegen den wirklichen Horror des rassistischen Status Quo vorzugehen, wirkt er zwar im Geiste der Aufklärung, aber gleichzeitig beraubt er seinem Werk auch der Fähigkeit, beim Leser wirklichen Horror auszulösen. Denn die Angst vor dem Fremden ist ja gerade die Quelle des Horrors. Lovecraft sagte einmal: 

The oldest and strongest emotion of mankind is fear, and the oldest and strongest kind of fear is fear of the unknown.

Dass das moderne Horrorgenre erst im 20. Jahrhundert entstand, ist kein Zufall. Der Kapitalismus bringt auf jedem Schritt nach vorn sozialen Missstand hervor, der wiederum tiefe Existenzängste kultiviert. Die Zerschlagung der Familie wurde zwar erreicht, doch trat nichts neues an ihre Stelle, die versprochene Gleichheit unter den Menschen wird angesichts der schreienden ökonomischen Ungleichheiten ad absurdum geführt, das Versprechen von einer besseren Zukunft wird ständig von der unkontrollierten Umweltzerstörung bedroht. Der Kapitalismus hat seine progressive Phase bereits weit überschritten und der Sozialismus hat sein Recht auf die Zukunft noch nicht unter Beweis gestellt, es ist die Zeit der Monster. Niemand hat dies besser gefühlt als Lovecraft. Heute ist seine Prophezeiung von der unvermeidlichen Wiederkehr Cthulhus, von der Wiederkehr der Barbarei, aktueller denn je:

What has risen may sink, and what has sunk may rise. Loathsomeness waits and dreams in the deep, and decay spreads over the tottering cities of men.

Doch auch die sozialistische Zukunft ist trotz alledem noch eine objektive Möglichkeit. Und wo der Mensch beginnt, bewusst seine eigene Geschichte zu machen, da ist das Böse zunehmend machtlos und die Furcht vor dem Fremden und dem Unbekannten stirbt mit dem fortschreitenden wissenschaftlichen Verständnis des Universums allmählich ab. Im Kommunismus werden die Menschen dann hoffentlich verlernt haben, sich zu gruseln.

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